Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Vorlesung 8 ♦ Sensory-Bias-Theorie. Die Sensory-Bias-Theorie („sensorische Bevorzugung“, Endler 1992) der sexuellen Selektion nimmt an, dass die Ursache der Bevorzugung bestimmter Merkmale durch die Weibchen aus einer „Neigung“ des sensorischen Systems der Weibchen resultiert: Es werden hiernach also Merkmale bevorzugt, die für das Weibchen besonders auffällig bzw. gut wahrnehmbar sind. Falls das präferierte Merkmal indirekt einen genetischen Vorteil besitzt, also "gute Gene“ bzw. „sexy Söhne“ bedeutet, wird auf diese Bevorzugung selektiert. Ein Ansatz mit verschiedenen Bezeichnungen bzw. Varianten: „sensory exploitation“ (Ryan 1990, Basolo 1990), „sensory traps“ (West-Eberhard 1979), „sensory drive“ oder „sensory bias (Endler 1992). Dass das Gefieder einiger Kleidervögel (Drepanidinae) Hawaiis die gleiche knallrote Farbe hat, wie die Blüten der dort dominierenden Eisenhölzer (Metrosideros, Myrtaceae), auf denen die Kleidervögel Nektar sammeln, ist möglicherweise mit der Sensory-Bias-Theorie erklärbar. Manipulationsexperimente können möglicherweise auf weibliche Neigungen hinweisen: Weibchen des amerikanischen Goldzeisigs (Carduelis tristis) bevorzugen Männchen mit auf den Kopf angeklebten orangefarbigen Streifen. Die Weibchen bevorzugen ohnehin Männchen mit orange gefärbten Schnäbeln, die evtl. eine gute Immunabwehr anzeigen. Zebrafinkweibchen (Taeniopgya guttata) bevorzugen Männchen mit roten, künstlichen Fußringen. Xiphophorus-Weibchen (lebendgebärende Zahnkarpfen, Atlantik Z-Amerikas) bevorzugen Männchen mit verlängerten Schwanzflossen (Schwerter), die sonstige Körpergröße spielt keine Rolle. Möglicherweise gab es hier eine psychische Prädisposition und evtl. eine „phylogenetisch alte Vorliebe“ für Schwerter: Weibchen nah verwandter schwertloser Arten bevorzugen tatsächlich Männchen mit aufgeklebtem Schwert (Basolo 1995,1998). ♦ Sexuelle Selektion bei Pflanzen? Der Begriff sexuelle Selektion wird traditionell auf Phänomene bei Tieren mit zwei Geschlechtern verwendet. Für Darwin (1871) besitzen hermaphroditische Tiere (Zwitter) „too imperfect senses and too low mental powers” um eine Partnerwahl zu betreiben. Eine wesentliche Komponente der sexuellen Selektion bei Tieren sind sekundäre Geschlechtsmerkmale, die eben durch sexuelle Selektion entstanden sind; Merkmale, die man bei Pflanzen so nicht kennt. Dennoch gibt es Ansätze den Begriff der sexuellen Selektion auch auf das Pflanzenreich auszuweiten. Ein komplexes und kontroverses Thema: Skogsmyr & Lankinen 2002, Sexual selection: an evolutionary force in plants? (Nur) in einem sehr, sehr stark erweiterten Sinne könnte man auch von sexueller Selektion bei Pflanzen, z.B. bei der Pollenschlauchkonkurrenz, sprechen. ♦ Genetische Theorie der natürlichen Selektion. Natürliche Selektion ist das zentrale − und als „unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg“ definiert – ein gleichsam einfaches Konzept der Evolutionstheorie, das Adaptationen erklärt. Durch eine Verfeinerung des Modells, insbesondere unter Einbeziehung der dahinter stehenden Genetik, wurde die Theorie der natürlichen Selektion in ihren vielen Aspekten stark erweitert und hat damit eine weit größere Beschreibungs- und Erklärungskraft erlangt. Die Synthese der Mendelgenetik und des Darwinismus (inkl. des Selektionismus) bilden die Grundlage der modernen Evolutionstheorie. Ein epochales Werk im Rahmen dieser Synthese war das, von Ronald Aylmer Fisher (1890–1962) im Jahr 1930 veröffentlichte Buch “The Genetical Theory of Natural Selection”. Evolution ist ein zweistufiger Prozess: Nach der Bereitstellung genetischer Variation (s.o.) erfolgt v.a. durch Drift und/oder Selektion eine Änderung von Allel- bzw. Genotypfrequenzen. Selektion als Prozess führt nur dann zur Evolution durch Selektion (Ergebnis), wenn phänotypische Variation genotypisch bedingt ist (eine Selektion von phänotypisch verschiedenen Individuen eines Klons führt nicht zu Evolution). Es ist daher praktikabel (gleichsam virtuell) die Fitness von Genotypen zu betrachten, auch wenn die Fitnessunterschiede natürlich durch phänotypische Unterschiede bedingt sind. Eine Merkmalsevolution durch Selektion erfolgt nur, wenn dadurch reproduktiver Erfolg (Fitness) erhöht wird. Evolution durch Selektion erfolgt − im Gegensatz zur genetischen Drift, Inzucht oder Genfluss − an jedem Locus unabhängig. Unterschiedliche Evolutionsraten von Merkmalen innerhalb einer Verwandtschaftslinie führen zur Mosaikevolution. Insgesamt also komplex. Folgende Betrachtungen daher immer „nur“ für einen Locus mit 2 Allelen. ♦ Fitness − Formen der Selektion. Von der Beziehung „Phänotyp zu Genotyp“ und „Phänotyp zu Fitness“ kann auf die Beziehung „Genotyp zu Fitness“ geschlossen werden. Die Beziehung zwischen phänotypischen quantitativen (kontinuierlichen) Merkmalen und Fitness kann meist den Formen gerichtete, stabilisierende oder diversifizierende Selektion zugeordnet werden. Welcher Genotyp unter den jeweiligen Selektionsregimen die höchste Fitness hat, hängt dann eben von der Beziehung „Genotyp zu Phänotyp“ ab: Möglicherweise („Futumya“: Abb. 12.1) gibt es im „Zwei-Allelfall“ bei der gerichteten Selektion einen Homozygotenvorteil (A2A2 fitter als A1A1 bzw. A1A2), bei einer 1 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch stabilisierenden Selektion einen Heterozygotenvorteil (A1A2 fitter als A1A1 bzw. A2A2) oder bei einer diversifizierenden Selektion einen Heterozygotennachteil (A1A1 bzw. A2A2 fitter als A1A2). ♦ Fitness − Genotypen-Fitness. Da ein Genotyp möglicherweise (durch unterschiedliche Umwelteinflüsse) mehrere Phänotypen ausprägen kann − z.B. Mensch im Autoscooter versus Mensch als Flüssigzellkultur − ist die Fitness eines Genotypen die durchschnittliche Fitness aller Individuen einer Population mit diesem Genotyp nach einer (oder mehreren) Generation(en). Das Maß für die Fitness ist der reproduktive Erfolg: Anzahl bis zur eigenen Reproduktion überlebender Nachkommen. Die absolute Fitness eines Genotyps (Ri) ist die Pro-Kopf-Zuwachsrate (durch Nachkommen). Die relative Fitness (Wi) ist diese Rate Ri relativ zu einem Referenzgenotyp, meist dem fittesten, der dann den Wert 1 für seine relative Fitness hat. Die durchschnittliche Fitness (𝜔 ̅) ist die frequenzgewichtete durchschnittliche Fitness aller Individuen einer Population, relativ zum fittesten Genotyp (oder einem anderen Standard): Genotyp A mit WA = 0,75 und Frequenz = 0,2; Genotyp B mit WB = 1 und Frequenz = 0,8 bedeutet dann also 𝜔 ̅ = 0,2 × 0,75 + 0,8 × 1 = 0,95. Der Selektionskoeffizient s ist die Differenz zwischen der relativen Fitness eines Referenzgenotyps und der eines anderen Genotyps (s = 1 − Wi) und bezeichnet also den Selektionsvorteil eines fitteren Genotyps bzw. den Selektionsnachteil des weniger fitten Genotyps. Der Selektionskoeffizient − eine Zahl zwischen 0 und 1 − gibt an, wie stark die natürliche Selektion gegen den unterlegenen Phänotyp wirkt: s = 1 bedeutet, dass dieses Allel nicht in die nächste Generation gelangt, s = 0 bedeutet Selektionsneutralität. Wenn die Träger eines Allels A z.B. (im Durchschnitt) 100 Nachkommen haben und die Träger des Allels B (durchschnittlich) 70, dann ist der entsprechende Selektionskoeffizient 0,3; s = 0,3 bedeutet also, die Nachkommenzahl ist um 30 % geringer. ♦ Fitness − Fitnesskomponenten. Da die natürliche Selektion in jedem Lebensabschnitt eines Individuums wirkt, ist die Fitness eines Genotyps bei Organismen mit sexueller Fortpflanzung komplex von verschiedenen Komponenten der natürlichen Selektion beeinflusst. 1.) Selektion auf Organismenebene („zygotische“ Selektion): a) Die „viability selection” wirkt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum Erreichen des Fortpflanzungsalters. Nach der letzten Reproduktion hat die weitere Überlebenswahrscheinlichkeit (meist) keinen Einfluss mehr auf die Fitness eines Genotyps. b) Der Paarungserfolg kann eine weitere Fitnesskomponente sein, wenn die Zahl der Paarungspartner die Zahl der eigenen Nachkommen beeinflusst, was oft für Männchen zutrifft. Unterschiede im Paarungserfolg führen zu sexueller Selektion. c) Die Fekundität ist die Menge an Gameten, gewöhnlich Eizellen, die ein Individuum produziert (Potenzial für Reproduktion). Die Fekundität wird meist aber als (mittlere) Anzahl überlebender Nachkommen angegeben. Diese Fertilitätsrate (Anzahl Nachkommen pro Paar) kann neben der (weiblichen) Fekundität auch vom väterlichen Genotyp beinflusst sein, z.B. bei genetischen Inkompatibilitäten. 2.) Selektion auf Ebene der Gameten (gametische Selektion): a) Durch meiotische Verschiebung („meiotic drive“ oder „segregation distortion“) können homologe Chromosomen bzw. Allele − im Gegensatz zur normal ablaufenden Meiose − in den Gameten überrepräsentiert sein und somit einen Segregationsvorteil aufweisen, also in mehr als 50% der Gameten eines Heterozygoten gelangen. b) Unterschiedliche Lebensfähigkeit von Gameten können zu Allelselektionen führen. c) Unterschiedlicher Befruchtungserfolg kann genetisch bedingt sein (vgl. Pollenschlauchkonkurrenz). Die Gesamtfitness eines Genotyps ist also letztlich das Produkt all solcher möglichen Komponenten. ♦ Selektionsmodelle. Auf die Ableitung von Selektionsmodellen („Futuyma“: Box 12A) verzichten wir besser, gell? Bei diesen vereinfachten Modellen wird davon ausgegangen, dass außer einer konstanten Selektion keine weiteren Evolutionsfaktoren, wie z.B. genetische Drift, vorhanden sind. Wichtig ist hier, dass die Veränderung von Allelfrequenzen durch Selektion von der relativen und nicht von der absoluten Fitness abhängt! Beispiel für den Fall „vorteilhaftes Allel dominant, nachteiliges Allel rezessiv“. Wenn man die relative Fitness kennt, z.B. A1A1 = 1, A2A2 = 1 − s und der heterozygote Fall A1A2 = 1 − (s/2), also genau zwischen der Homozygotenfitness, dann kann man mit dem entsprechenden Selektionsmodell für diesen Fall berechnen, wie das vorteilhafte A1 in seiner Frequenz pro Generation so zunimmt: ∆p = ( ½ spq) / (1 − sq). Diese Höhe der Veränderungsrate hängt also vom Selektionskoeffizienten s und den Allelfrequenzen p bzw. q ab! Grundsätzlich kommt es im genannten Beispiel langfristig zu einer Fixierung des vorteilhaften Allels A1, auch wenn s nur äußerst klein ist, wie gesagt, unter der Voraussetzung (!), dass genetische Drift und andere Evolutionsfaktoren hier keine Rolle spielen. ♦ Fixierungsdauer durch natürliche Selektion. Die Dauer in Generationen bis ein Allel durch natürliche Selektion in einer Population fixiert ist, hängt von der Anfangsfrequenz, dem Selektionskoeffizienten und dem Dominanzgrad ab („Futuyma“: Abb. 12.6): Ein vorteilhaftes dominantes Allel nimmt anfangs schneller in seiner Frequenz zu als ein vorteilhaftes rezessives. Wenn 2 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch das vorteilhafte dominante Allel allerdings erst mal eine relativ hohe Frequenz erreicht hat, dann steigt die Frequenz nur noch langsamer an, weil das nun selten vorhandene schlechte Allel jetzt vor allem in Heterozygoten zusammen mit dem dominanten vorteilhaften Allel vorkommt und so gleichsam vor der Selektion „geschützt“ ist. Ein vorteilhaftes rezessives Allel braucht sehr lang um fixiert zu werden, wenn die Ausgangsfrequenz klein ist, weil (statistisch) eben nur wenig Homozygote gebildet werden; bei höherer Ausgangsfrequenz wird dann das dominante, nachteilige Allel rasch eliminiert. Die Abb. 12.6 im „Futuyma“ kann man mit dem Programm AlleleA1 „nachbasteln“: “Population size” = “Infinite”, “Starting frequency of allele A1” = 0.01 (keine Kommata verwenden!), dann jeweils folgende Fitnesswerte: A1A1 A1A2 A2A2 dominant 1.0 1.0 0.8 intermediär 1.0 0.9 0.8 rezessiv 1.0 0.8 0.8 Damit es genauso aussieht wie im Buch, bei „Generation“ die Ansicht auf „100“ stellen (kleiner schwarzer Pfeil). „Realistischer“ wird es dann, wenn man jetzt noch genetische Drift simuliert, indem man die „Population size“ variiert, z.B. 10000, 1000, 100, 10. Eine Formel, wie die erwähnte ∆p = (½ spq) / (1 − sq) kann man auch umgeformt verwenden, um den Selektionskoeffizienten s zu bestimmen, wenn man als Datengrundlage Allelfrequenzen von aufeinander folgenden Generationen (= ∆p) hat. ♦ Adaptive Landschaften. In der Formel ∆p = ( ½ spq) / (1 − sq) entspricht der Nenner der durchschnittlichen Fitness 𝜔 ̅ aller Individuen einer Population. (Falls die Herleitung evtl. interessiert, siehe Box 12A im „Futuyma“.) Diese durchschnittliche Fitness steigt an, je stärker die Frequenz q des nachteiligen Allels abnimmt: Die Population klettert gleichsam so lange den Fitnessberg hoch bis A1 fixiert ist (gerichtete Selektion). Die Abb. 12.7 im „Futuyma“ zeigt solche Anpassungsgebirge für gerichtete positive und negative Selektionen und Selektion für die Fälle Heterozygotenvor- bzw. nachteil. ♦ Schädliche Allele in Populationen. Schädliche Allele können durch Mutationen oder durch Genfluss in („gesunde“) Populationen eingebracht werden. Es ergibt sich dann ggf. für die Frequenz des schädlichen Allels ein Mutation- bzw. ein Genfluss-Selektionsgleichgewicht. Simulation eines solchen Gleichgewichts mit AlleleA1: “Starting frequency of Allele A1” = 1, “Fitness of genotype” A1A1 bzw. A1A2 = 1.0 und A2A2 = 0.0 (A2 ist also rezessiv letal), “Mutation rate from A1 to A2” = 0.001, “Generation” = 100000. Eine Abbildung im „Campbell“ (alt/neu S. 653/ S.6 48) illustriert die Ergebnisse 94 einer Studie von Koehn & Hilbisch (1987): Das Produkt des Aminopeptidase-I-Allels ap bei Miesmuscheln zeigt eine höhere Aktivität als die Genprodukte anderer Allele. Die Aminopeptidase I spaltet Aminosäuren von Proteinen ab, die so zur Osmoregulation in Salzwasser dienen. Der Besitz 94 von ap ist in Salzwasser vorteilhaft, in weniger salzhaltigem Wasser aber nachteilig, da die hohe Aktivität des Isoenzyms viel Energie und Stickstoff kostet. In der Förde „Long Island Sound“ (O-Küste 94 N-Amerika) gibt es ein Salzkonzentrationsgefälle. Das Vorkommen von ap auch im salzarmen Bereich ist wohl durch Genfluss (planktonische Larven) aus den salzigeren Bereichen des offenen 94 Ozeans zu erklären, wo ap vorteilhaft ist. In einem Wasserbereich von etwa 30 km Länge, auf dem 94 sich die Salzkonzentration stark ändert, ergibt sich also eine Kline, die durch die Selektion gegen ap in der Bucht und durch hohen permanenten Genfluss aus dem Ozean aufrecht erhalten wird. ♦ Polymorphismen durch balancierende Selektion (balancing selection). Bis in die 1940er Jahre herrschte die Vorstellung vor („classic school“), dass es eigentlich immer nur ein bestes Allel („Wildtyp“) geben muss, das durch natürliche Selektion über kurz oder lang fixiert wird und damit die schlechteren, schädlichen Allele ausselektiert werden (s.o. „Panselektionismus“). Untersuchungen in der Folgezeit ergaben aber eine „unerwartet“ hohe Variation, für die es prinzipiell folgende Erklärungen geben kann: 1.) Neue durch Mutationen entstandene (schädliche) Allele stehen evtl. nur unter schwacher natürlicher Selektion, 2.) Schädliche Allele gelangen durch Genfluss in die Populationen, 3.) Selektionsneutralität oder schließlich 4.), die Aufrechterhaltung von Polymorphismen durch die natürliche Selektion selbst (balancierende Selektion, manchmal auch als ausgleichende Selektion bezeichnet). Die letztgenannte Erklärung („balance school“) wurde stark von Ideen Theodosius Dobzhanskys (1900−1975) beeinflusst. (Andere bekannte Vertreter dieser Schule waren B. Wallace und J.C. King.) Sogenannte balancierte Polymorphismen können wohl grundsätzlich durch verschiedene Ausprägungen einer balancierenden Selektion erklärt werden (s.u.). Es ist aber unklar, wie groß die Bedeutung von balancierenden Selektionen insgesamt für die Evolution ist. ♦ 3 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Balancierende Selektion I − Heterozygotenvorteil. Wenn Heterozygote eine höhere Fitness als beide Homozygoten haben (Heterozygotenvorteil), kann es zu einem balancierten Polymorphismus kommen („overdominance“, single-locus-heterozygoty). Simulationen mit AlleleA1 zum Heterozygotenvorteil: „Fitness of genotype A1A2 = 1.0 und A1A1 bzw. A2A2 = 0.9. Wenn die Homoyzygoten gleichermaßen weniger fit sind als die Heterozygoten, ergibt sich immer eine Homozygotenfrequenz von jeweils 25 %. Wenn die Homozygoten ungleiche Fitness aufweisen, z.B. A1A1 = 0.9 und A2A2 = 0.95 ergibt sich eine „schiefe“ Genotypfrequenzverteilung. ♦ Heterozygotenvorteil − Sichelzellanämie. Die Sichelzellanämie (Drepanozytose) ist wohl der am besten verstandene Fall von balancierender Selektion durch Heterozygotenvorteil. In einigen mediterranen und afrikanischen Homo sapiens-Populationen kommt am β-Hämoglobinlocus das Sichelzell-Allel S vor, das sich durch einen Aminosäureaustausch vom „normalen“ Allel A unterscheidet (an Position 6 Valin statt Glutamin). Bei geringen Sauerstoffkonzentrationen kristallisiert das S-Hämoglobin, die roten Blutkörperchen werden sichelförmig und transportieren weniger Sauerstoff. Heterozygote (SA) sind etwas anämisch. Homozygote (SS) haben die Sichelzellkrankheit, haben starke Anämie („Blutarmut“) und sterben früh. Bei einer Anämie ist die SauerstoffTransportkapazität des Blutes vermindert. Homozygote (AA) haben eine relativ höhere Sterblichkeitsrate in Malariagebieten: Der durch Anopheles-Mücken übertragene Malariaerreger (Plasmodium falciparum, Apicomplexa, einzellige, eukaryotische Parasiten) entwickelt sich in roten Blutkörperchen. Heterozygote (SA) haben dagegen eine geringere Sterblichkeitsrate, da sich der Erreger in den deformierten Blutkörperchen nur eingeschränkt entwickelt (genauer Mechanismus wohl immer noch nicht bekannt). In Malariagebieten überleben Heterozygote also mit einer höheren Rate als beide Homozygoten und ein Heterozygotenvorteil ergibt sich durch die Balance der entgegenwirkenden Faktoren „Anämie“ und „Malaria“. Simulationen mit AlleleA1 (für Malariagebiete): „Fitness of genotype” A1A1 = 0.89, A1A2 = 1.0, A2A2 = 0.2. Genotyp SS bleibt mit kleiner Frequenz bestehen (Werte wohl realistisch). Bei Afroamerikanern (Nicht-Malariagebiet) hat S eine Frequenz von 0.05, die wohl derzeit durch gerichtete Selektion langsam weiter abnimmt. ♦ Balancierende Selektion II – Disruptive Selektion. Eine antagonistische Selektion kann bei Heterozygotenvorteil, wie bei der Sichelzellanämie (s.o.) eine Aufrechterhaltung von Polymorphismen durch natürliche Selektion bewirken. Wenn allerdings kein Heterozygotenvorteil vorliegt, ist dies wohl erst mal „so einfach“ nicht möglich: Ein einziges (!) Allel, das möglicherweise mal positive und mal negative Eigenschaften bewirkt, hat letztlich immer eine Netto-Fitness. Zeitlich variierende Selektion führt daher auch nicht zu einer dauerhaften Aufrechterhaltung von Polymorphismen, evtl. aber zur Verlangsamung von Fixierungen. „Räumlich variierende“ Selektion kann aber möglicherweise schon Polymorphismen aufrechterhalten, wenn die Phänotypen der (beiden) homozygoten Genotypen jeweils an unterschiedliche Mikrohabitate oder Ressourcen (ökologische Nischen) angepasst sind. Beim „Black-bellied Seedcracker“ (Pyrenestes ostrinus, W- & Z-Afrika) liegt ein Beispiel für solch einen „multiple niche polymorphism“ vor: Es gibt hier vor allem Vögel mit schmalen Schnäbeln (Anpassung an weiche Samen als Futter) und welche mit breiten Schnäbeln für harte Samen und nur wenige (erwachsene) Vögel mit mittleren Schnäbeln („Futuyma“: Abb. 12.15). Ein Beispiel für das Wirken von disruptiver Selektion. Smith TB. 1993: Disruptive selection and the genetic basis of bill size polymorphism in the African finch Pyrenestes. Nature 363: 618–620. ♦ Balancierende Selektion III − Negativ-frequenzabhängige Selektion. Bisherige Betrachtungen gingen von einer konstanten Fitness eines Genotyps für eine gegebene Umwelt aus. Es kann aber auch sein, dass die Genotypenfitness von der jeweiligen Frequenz dieses Genotyps in der Population abhängt. Bei negativ-frequenzabhängiger Selektion (auch invers-frequenzabhängige Selektion genannt) sind seltene Genotypen vergleichsweise fitter. Damit die Bates'sche Mimikry (Täuschung von Feinden durch Nachahmung eines wehrhaften bzw. ungenießbaren Tieres durch harmlose Tiere) langfristig funktioniert, darf der Imitator nicht zu häufig werden, da die Räuber sonst häufiger erfahren, dass der Nachahmer doch genießbar ist und die Warnfärbung damit ihre Wirkung verliert. Bei Selbstinkompatibilitäts-(SI)-Allelen von Blütenpflanzen, die bestimmen, ob ein Pollenschauchwachtum nach einer Bestäubung erfolgen kann, gibt es ebenfalls diese Verhältnisse: Wenn es drei SI-Allele S1, S2 und S3 gibt, dann ist S1 (Pollen) nur mit S2S3 (Narbe) kompatibel, nicht mit S1S2 bzw. S1S3, das SIAllel S2 ist nur kompatibel mit S1S3 und S3 schließlich nur mit S1S2. (Homozygotie ist hier naturgemäß natürlich nicht möglich!) Durch Mutation neu entstehende SI-Allele sind zunächst wegen ihrer Seltenheit sehr fit, da sie statistisch sehr häufig kompatibel sind. Sie steigen dann rasch in ihrer Frequenz bis zu einem Gleichgewicht, bei dem dann alle – oft hunderte von SI-Allelen – in etwa gleicher Frequenz vorhanden sind. Ein immer wieder „unfassbares“ Beispiel („Campbell alt/neu“: Abb. 23.18 / 23.17) für frequenzabhängige Selektion gibt es bei einer Buntbarschart (Perrissodus microlepis, Tanganjikasee, O-Afrika): Diese Fische fressen Schuppen aus der Flanke von anderen 4 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Fischen und sind je nach Angriffsrichtung entweder links- oder rechtsmündig. Die Frequenzen für beide Formen fluktuieren dabei um den Wert 0,5. Nimmt eine Form „überhand“ lernen die Beutefische und die andere Form ist dann eine zeitlang fitter, bis diese dann „überhand“ nimmt und wieder unfitter wird (Hori 1993). Beim Holunder-Knabenkraut (Dactylorhiza sambucina, Orchidaceae, Europa) gibt es ebenfalls zwei Morphen, rot- und gelbblütige Individuen. Seltene Formen werden häufiger von Bestäubern besucht und der Reproduktionserfolg (gemessen Anzahl entfernter Pollinien, Pollenaufnahme bzw. Samenproduktion) sinkt dann also mit der Häufigkeit der entsprechenden Morphe: Phänotyp von Individuen einer Art. Populationen können mono- oder polymorph sein. Gigord et al. 2001: Negative frequency-dependent selection maintains a dramatic flower color polymorphism in the rewardless orchid Dactylorhiza sambucina (L.) Soò. PNAS 98, 6253–6255. („Futuyma 2013“: Abb. 12.17). ♦ Aufgaben ♦ Spielen Sie ausgiebig − vielleicht so fünfeinhalb Stunden − mit dem Programm AlleleA1 herum. Kombinieren Sie gerichtete Selektion, Heterozygotenvor- bzw. -nachteil mit genetischer Drift bei unterschiedlichen Ausgangsfrequenzen für Allel A1. ♦ Die Inhalte dieser Vorlesung finden Sie im „Futuyma“ Kapitel 12. ♦ 5
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