2015-1 Deutsch (Berlin: Leistungskurs

Deutsch (Berlin: Leistungskurs / Brandenburg:
Kurs auf erhöhtem Anforderungsniveau): Abiturprüfung 2015
Aufgabe A: Erörterndes Erschließen pragmatischer Texte – Texterörterung
Petra Mayer: Groteske Figuren (2007)
Grundbedingung für das Auftreten grotesker Figuren ist ein realistischer Bezugsrahmen, der als rationaler Maßstab des Normalen dient. Nur durch die Konfrontation mit
vertrauten Kategorien können groteske Figuren ungewohnt oder sogar erschreckend
wirken. Innerhalb eines Märchens oder einer phantastischen Erzählung dagegen stellt
5 sich diese Wirkung nicht ein, da der Leser das Außergewöhnliche erwartet. Erst das
harte Aufeinandertreffen von Vertrautem und Ungewohntem lässt das Groteske entstehen.
Unter dieser Voraussetzung sind all diejenigen Figuren als grotesk zu bezeichnen,
die von einem Dualismus geprägt sind, der Disharmonie erzeugt. Dies kann im ein10 fachsten Fall mittels der äußeren Erscheinung einer Figur geschehen. Ein solches
Hybridwesen verbindet in seiner Gestalt beispielsweise Tierisches und Menschliches,
Organisches und Anorganisches oder Charakteristika verschiedener Gattungen. Neben dieser weit verbreiteten Spielart des Grotesken existiert in Hoffmanns Berganza1
eine zweite, weniger offensichtliche Kategorie grotesker Figuren. Dieser Figurentyp
15 ist zwar hinsichtlich seiner körperlichen Gestalt unauffällig, jedoch kontrastiert der
Charakter, das innere Wesen der Figur, sehr stark mit ihrem äußeren Erscheinungsbild. Weiterhin ist diejenige Figur grotesk zu nennen, die zwar weder eine rein äußerliche Diskrepanz noch eine Spannung zwischen Äußerem und Innerem aufweist, jedoch mit ihrem sozialen Umfeld in einem unüberbrückbaren Konflikt steht. Nicht
20 isoliert betrachtet, sondern erst durch die Konfrontation mit einer gesellschaftlich
akzeptierten Norm wirkt dieser Figurentyp grotesk.
Der Bezugspunkt, der diese Figur zu einer grotesken macht, liegt also im Gegensatz zu den beiden zuerst beschriebenen Figurentypen außerhalb der Figuren. Hieraus
ergeben sich drei Kategorien zur Bestimmung grotesker Figuren: erstens Disharmo25 nie zwischen einzelnen körperlichen Ausprägungen, zweitens zwischen Wesensart
und Körper und drittens zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese drei Kategorien können sich zudem überlagern und auf diese Weise zu einer Potenzierung des
Grotesken führen […].
Quelle: Petra Mayer: Groteske Figuren. In: Dieselbe: Hoffmanns poetischer Bullenbeißer – eine
Ausgeburt des Grotesken. In: Hartmut Steinecke und Detlef Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann Jahrbuch. Band 15. 2007, Erich Schmidt Verlag Berlin 2007, S. 8
Worterklärungen:
1 Berganza: literarische (Tier-)Figur aus Hoffmanns Erzählung Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (1814 /15)
Erläuterung: Petra Mayer: Literaturwissenschaftlerin, Redakteurin
Hinweis: Die Textwiedergabe folgt der Quelle.
2015-1
Aufgabenstellung
Erörtern Sie, ob bzw. inwiefern Petra Mayers Auffassungen vom Grotesken auf Figuren
in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober (1819) zutreffen.
Berücksichtigen Sie dabei auch Kenntnisse zu ästhetischen Konzepten der Romantik.
Erarbeiten Sie zunächst die Positionen Petra Mayers.
Hinweise und Tipps
r Gliedern Sie den Aufsatz sachgerecht in Einleitung, Erschließung, Erörterung und
r Schlussteil. Im Idealfall führen Sie zum Thema hin, indem Sie z. B. über eine Definition
r oder eine Problematisierung den Einstieg in die Arbeit finden. Bei der vorliegenden Aufr gabenstellung bietet es sich an, zunächst den Begriff „grotesk“ zu klären. Nutzen Sie
r dazu ein Wörterbuch als Hilfsmittel. Arbeitshypothesen können in der Einleitung dazu
r dienen, die gesamte Arbeit gedanklich vorzustrukturieren.
r Beachten Sie für die Ausarbeitung Ihrer Lösung, dass zuerst der in der Aufgabenformur lierung an zweiter Stelle genannte analytische Aufgabenteil durchzuführen ist, also die
r Erarbeitung der Positionen der Autorin. Verknüpfen Sie dabei die erklärende Darstelr lung des Inhalts mit der Erläuterung der Argumentation der Autorin sowie der Funktion
r von besonders auffälligen Sprachmitteln. Wenden Sie dabei textartspezifische Fachber griffe (These, Argument, Beleg, Beispiel) an und reflektieren Sie Strategien sowie Stärr ken und Schwächen der Argumentation im Text. Achten Sie auch auf durchgängigen
r Textbezug (Belegangaben). Sie sollten außerdem bei der sprachlichen Gestaltung Ihrer
r Arbeit etwas variieren, z. B. können Sie statt „Der Autor sagt …“ folgende Formulierunr gen verwenden: „Der Autor behauptet / erklärt / beurteilt / führt Beispiele an …“
r Mit einer Überleitung kommen Sie anschließend zum Erörterungsteil. Dieser ist Schwerr punkt der Aufgabe und deshalb stärker zu gewichten als der analytische Teil. Wählen Sie
r die zur Erörterung ausgewählten Aussagen der Autorin überlegt aus, indem Sie insber sondere prüfen, ob Sie genügend konkrete Argumente und Belege haben. Um Ihre Erörr terung zu planen, bietet es sich an, ein gedankliches Konzept (d. h. eine stichpunktartige
r Gliederung) dafür zu erstellen.
r Im Rahmen Ihrer Auseinandersetzung mit den zentralen Thesen bzw. Argumenten der
r Autorin sollten Sie grundlegendes Wissen (beispielsweise Leben, Werk, poetisches Konr zept Hoffmanns; ästhetische Konzepte der Romantik, ggf. weiteres Wissen zur Epoche
r der Romantik) funktional einbringen, wobei auf klaren inhaltlichen Bezug zum Textausr zug und zur Fragestellung zu achten ist. Von zentraler Bedeutung für eine Lösung der
r Aufgabe sind darüber hinaus genaue Kenntnisse zum Inhalt, zu den Figuren sowie der
r Figurenkonzeption des Werkes „Klein Zaches genannt Zinnober“, die Sie im Unterricht
r erworben haben. Besonders nützlich ist Fachwissen zur Märchenform und Satire.
r Begründen Sie eigene Urteile schlüssig. In Ihrer Schlussbetrachtung nehmen Sie noch
r einmal Bezug zur Aufgabenstellung und resümieren Ihre Ergebnisse.
2015-2
Lösungsvorschlag
Petra Mayers Text „Groteske Figuren“ ist ein Auszug aus ihrem gleichnamigen literaturwissenschaftlichen Sachtext aus dem Jahr 2007. Darin setzt sich die Autorin unter Bezugnahme auf Hoffmanns Erzählung „Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza“ (1814 /15) mit dem Begriff des Grotesken bei der Figurengestaltung
auseinander. Der Duden erläutert das aus dem Französischen stammende Adjektiv ‚grotesk‘ mit den Worten „wunderlich, überspannt, verzerrt“. Auf diesem Verständnis des
Begriffs basieren auch die Überlegungen Mayers, die darüber hinaus die Bedingungen
aufzeigt, die erfüllt sein müssen, um eine literarische Figur als grotesk zu bezeichnen.
Der Gedankengang der Literaturwissenschaftlerin gliedert sich in drei Sinnabschnitte,
wobei im ersten Part (Z. 1–7) zunächst eine allgemeine Voraussetzung für das Auftreten grotesker Figuren thesenartig formuliert wird. Die Grundbedingung sei „ein realistischer Bezugsrahmen, der als rationaler Maßstab des Normalen dient“ (Z. 1 f.). Denn
groteske Figuren könnten nur eine ungewohnte oder erschreckende Wirkung entfalten,
wenn sie mit dem Vertrauten konfrontiert (vgl. Z. 2 ff.). Von besonderer Wichtigkeit ist
die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass bei einem Märchen diese Wirkung ausbleibe, weil man als Leser hier schon das Außergewöhnliche erwarte (vgl. Z. 4 f.). Laut
Mayer ist also für die Entfaltung einer grotesken Figurendarstellung neben einer Einbettung in die Wirklichkeit die Lesererwartung von entscheidender Bedeutung.
Im zweiten Sinnabschnitt (Z. 8 – 21) werden – ausgehend von der These, dass alle Figuren als grotesk bezeichnet werden könnten, „die von einem Dualismus geprägt sind, der
Disharmonie erzeugt“ (Z. 9) – drei Arten grotesker Figurengestaltung unterschieden
und jeweils näher erläutert. Der erste Typus wird am Beispiel eines „Hybridwesen[s]“
(Z. 11) erklärt. Der Dualismus eines solchen Geschöpfes bestehe in „der äußeren Erscheinung“ (Z. 10), in der Gegensätze wie „Tierisches und Menschliches“ (Z. 11) oder
„Organisches und Anorganisches“ (Z. 12) miteinander verbunden seien. Davon wird anhand der hoffmannschen Figur des Hundes Berganza ein zweiter Typus unterschieden,
bei dem die Gegensätzlichkeit nicht rein in der äußeren Erscheinung, sondern in einem
Kontrast zwischen dem Äußeren und dem Inneren, also dem Charakter, liege (vgl.
Z. 13 –17). Die dritte Art der grotesken Figurengestaltung entfalte ihre Polarität aus einem
„unüberbrückbaren Konflikt“ (Z. 19) des Individuums mit seinem „sozialen Umfeld“
(Z. 19). Das entscheidende Kriterium, um eine literarische Gestalt als grotesk zu empfinden, liegt also hier im gesellschaftlichen Bereich und dessen Normen (vgl. Z. 20 f.).
Im Schlussteil (Z. 22 – 28) werden die vorherigen Überlegungen zu den drei möglichen
Konzepten des Grotesken noch einmal als Fazit zusammengefasst: Gemeinsam ist allen
eine „Disharmonie“ (Z. 24 f.) in verschiedenen Bereichen. Abschließend behauptet die
Autorin, dass eine Überlagerung dieser drei Kategorien zu einer Steigerung des grotesken Effekts führen könne (vgl. Z. 27 f.).
Der Textausschnitt ist insgesamt logisch strukturiert und wirkt insofern gedanklich
schlüssig. Mayer stellt zu Beginn (vgl. Z. 1 ff.) und am Schluss (vgl. Z. 26 ff.) allerdings
verschiedene Hauptthesen wie jene zum Verhältnis zwischen Groteskem und der Märchenform (Z. 4 ff.) auf, ohne diese hinreichend zu begründen. Sie definiert die Anwen2015-3