2015-1 Latein Baden-Württemberg – Schriftliche

Latein Baden-Württemberg – Schriftliche Abiturprüfung 2015
Übersetzung
Cicero legt dar, welche Vorteile die Freundschaft dem Menschen in guten und in schwierigen
Lebenslagen bietet.
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Inter viros bonos amicitia tantas opportunitates habet, quantas vix dicere possum.
Qui potest esse vita vitalis, quae non in mutua benevolentia amicorum conquiescit?
Quid est dulcius quam habere amicum, quocum omnia sic loqui audeas ut tecum?
Num esset tantus fructus in prosperis rebus, nisi amicum haberes, qui illis gauderet aeque
ac tu ipse? Difficile vero esset res adversas ferre sine eo, qui illas etiam gravius quam tu
ferret.
Amicitia res plurimas continet. Quoquo te verteris, amicitia praesto est, nullo loco
excluditur, numquam intempestiva, numquam molesta est; itaque utimur non aqua, non
igni pluribus locis quam amicitia.
Neque ego nunc de amicitia vulgari aut mediocri loquor, quae tamen et delectat et prodest,
sed de amicitia vera et perfecta. Nam amicitia et res secundas splendidiores facit et
adversas leviores.
Et cum amicitia plurimas et maximas commoditates contineat, illa praestat omnibus;
nam bonam spem praelucet et animum cadere non patitur.
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Ex quo iudicari potest, quantum boni sit in amicitia.
Hilfen zu den im Text unterstrichenen Wörtern:
Z. 1 opportunitas, -atis f.
Vorteil
Z. 2 qui
hier: wie
Z. 2 vitalis, -e
lebenswert
Z. 2 mutuus, -a, -um
gegenseitig
Z. 4/5 aeque ac
ebenso wie
Z. 5 etiam
hier: sogar noch
Z. 7 quoquo
wohin auch immer
Z. 7 praesto (Adv.)
anwesend, zugegen
Z. 8 intempestivus, -a, -um
unpassend
Z. 13 commoditas, -atis f.
Annehmlichkeit
Z. 13 praestare mit Dativ
etw. übertreffen
Z. 14 praelucere
aufleuchten lassen
Z. 14 animus cadit
der Mut sinkt
2015-1
Lösung
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Qui potest esse vita vitalis, quae non in mutua benevolentia amicorum conquiescit? – Wie
kann ein Leben lebenswert sein, das nicht im gegenseitigen Wohlwollen der Freunde zur Ruhe
kommt? Diese dem Übersetzungstext entnommene Frage umreißt das Thema von Ciceros
Dialog Laelius de amicitia, den er im Jahre 44 v. Chr. verfasst und seinem Freund und Verleger T. Pomponius Atticus gewidmet hat. Das Gespräch über die Freundschaft wird jedoch
nicht von Zeitgenossen des Autors geführt, sondern Cicero verlegt den Dialog in das Jahr
129 v. Chr. und lässt Laelius, der von seinen Schwiegersöhnen Fannius und Scaevola dazu
aufgefordert wird, über seine Freundschaft mit dem kurz zuvor verstorbenen Scipio Africanus
minor sprechen. Laelius würdigt die Freundschaft, die er mit der virtus verknüpft, beschreibt
sowohl ihr Wesen als auch ihre Wirkung und erstellt Regeln, die einerseits die Freundschaft
unter Weisen, andererseits gewöhnliche Freundschaften betreffen. Der Dialog schließt mit
der bewegenden Erinnerung an Scipio und dem Bekenntnis, dass wahre Freundschaft den Tod
des Freundes überdauert.
Der erste Abschnitt des Übersetzungstextes ist durch drei rhetorische Fragen gekennzeichnet.
Im Konjunktiv Imperfekt bekräftigt der Sprecher die Unmöglichkeit, ohne einen Freund Glück
zu genießen oder Unglück zu ertragen. In allen Lebenslagen, wie die Wendungen quoquo te
verteris, res prosperae, res secundae, res adversae u. a. belegen, zeigen sich die Vorteile der
Freundschaft.
Unter rechtschaffenen Männern bietet die Freundschaft so große Vorteile, wie ich sie kaum
nennen kann. Wie kann ein Leben lebenswert sein, das nicht im gegenseitigen Wohlwollen
der Freunde zur Ruhe kommt? Was ist angenehmer, als einen Freund zu haben, mit dem du
dich alles so zu besprechen traust wie mit dir selbst? Wäre denn der Genuss in glücklichen
Lebensumständen so groß, wenn du nicht einen Freund hättest, der sich über jene ebenso freut
wie du selbst? Unglück freilich wäre schwierig zu ertragen ohne einen, der jenes sogar noch
schwerer erträgt als du [selbst].
Die Freundschaft umfasst die meisten (Lebens-)Bereiche. Wohin auch immer du dich
wendest, die Freundschaft ist zugegen, von keinem Ort wird sie ausgeschlossen, sie ist
niemals unpassend, niemals fällt sie zur Last; daher gebrauchen wir nicht Wasser, nicht Feuer
bei zahlreicheren Gelegenheiten als die Freundschaft.
Und ich spreche nun nicht von einer gewöhnlichen oder einer mittelmäßigen Freundschaft,
die doch auch erfreut und nützlich ist, sondern von der wahren und vollkommenen Freundschaft. Denn die Freundschaft macht sowohl das Glück strahlender als auch das Unglück
leichter.
Und wenn auch die Freundschaft die meisten und bedeutendsten Annehmlichkeiten in sich
vereint, übertrifft sie alle [Annehmlichkeiten] durch jene [Annehmlichkeit]; denn sie lässt die
frohe Hoffnung aufleuchten und gestattet nicht, dass der Mut sinkt. (Der Originaltext wurde
hier etwas verkürzt. Eine andere Übersetzungsmöglichkeit ergibt sich, wenn der Adverbialsatz zu Beginn kausal aufgefasst wird: Und da die Freundschaft die meisten und bedeutendsten Annehmlichkeiten in sich vereint, übertrifft jene alles; denn …).
Hieraus kann man ermessen, wie viel Gutes in der Freundschaft liegt.
Cicero, Laelius de amicitia, 22 – 23 (gekürzt)
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Latein Baden-Württemberg – Schriftliche Abiturprüfung 2015
Interpretation
Die unerwiderte Liebe des Iphis zu Anaxarete.
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Viderat a veteris generosam sanguine Teucri
Iphis Anaxareten, humili de stirpe creatus.
Viderat et totis perceperat ossibus aestum
luctatusque diu: Postquam ratione furorem
vincere non potuit, supplex ad limina venit.
Saepe ferenda dedit blandis sua verba tabellis,
interdum madidas lacrimarum rore coronas
postibus intendit posuitque in limine duro
molle latus tristisque serae convicia fecit.
Saevior illa freto surgente cadentibus Haedis,
durior et ferro, quod Noricus excoquit ignis,
et saxo, quod adhuc vivum radice tenetur,
spernit et irridet, factisque immitibus addit
verba superba ferox et spe quoque fraudat amantem.
Non tulit impatiens longi tormenta doloris
Iphis et ante fores haec verba novissima dixit:
„Vincis, Anaxarete, neque erunt tibi taedia tandem
ulla ferenda mei: Laetos molire triumphos
et Paeana voca nitidaque incingere lauru!
Vincis enim, moriorque libens: Age, ferrea, gaude!
Certe aliquid laudare mei cogeris amoris,
quo tibi sim gratus, meritumque fatebere nostrum.
Non tamen ante tui curam excessisse memento
quam vitam geminaque simul mihi luce carendum.
Nec tibi Fama mei ventura est nuntia leti:
Ipse ego, ne dubites, adero praesensque videbor,
corpore ut exanimi crudelia lumina pascas.
Si tamen, o superi, mortalia facta videtis,
este mei memores (nihil ultra lingua precari
sustinet) et longo facite ut narremur in aevo,
et, quae dempsistis vitae, date tempora famae!“
Iphis erhängt sich an der Tür der Anaxarete. Seine Mutter bahrt den Leichnam auf. Als
der Leichenzug an Anaxaretes Haus vorbeikommt, hört diese das Klagegeschrei.
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Mota tamen „videamus“ ait „miserabile funus“
et patulis iniit tectum sublime fenestris.
Vixque bene impositum lecto prospexerat Iphin,
deriguere oculi, calidusque e corpore sanguis
inducto pallore fugit; conataque retro
ferre pedes haesit, conata avertere vultus
hoc quoque non potuit. Paulatimque occupat artus,
quod fuit in duro iam pridem pectore, saxum.
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Textstelle: Ovid, Metamorphosen 14, 698 –758; Schwerpunktthema: Ovid, Metamorphosen
Im 14. Buch der Metamorphosen wird der Schauplatz nach Italien verlegt und das Schicksal
des Aeneas und seiner Gefährten, das bereits im 13. Buch in den Blick rückte, nun weiterverfolgt. Nach dessen Apotheose herrschen die Latinerkönige und z. Z. des Königs Proca spielt
die Geschichte der Baumnymphe Pomona, deren ganze Leidenschaft ihr schöner Garten ist,
sodass sie alle Annäherungsversuche von Pan, Priapus, der Satyrn und auch die des wandlungsfähigen Vertumnus, der sie sehr liebt, ausschlägt. In Gestalt einer alten Frau preist dieser daher Pomona die Vorzüge des Vertumnus und erzählt ihr zur Mahnung die Geschichte
von Iphis und der hartherzigen Anaxarete. Als Beweis für die Wahrheit des Erzählten führt
Vertumnus an, dass in Salamis die versteinerte Anaxarete als Standbild zu sehen sei, und
bittet Pomona, Vertumnus nicht weiter abzuweisen. Doch da Pomona sich unnachgiebig zeigt,
nimmt Vertumnus wieder seine wahre Gestalt an und will Pomona vergewaltigen. Überwältigt von seiner Schönheit gibt sie sich ihm nun aber freiwillig hin.
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Der vorgelegte Textauszug lässt sich in vier Abschnitte gliedern. Die Aufgabenstellung
verlangt eine präzise Zusammenfassung der Kernaussage.
a) V. 1 – 9: Der aus einfachen Verhältnissen stammende Iphis hat sich leidenschaftlich
in die adlige Anaxarete verliebt und beginnt um sie zu werben.
b) V. 10 – 14: Anaxarete weist Iphis ab und verhöhnt ihn obendrein.
c) V. 15 – 31: Aus Verzweiflung über die Zurückweisung kündigt Iphis seinen Selbstmord an und bittet die Götter um ein ruhmvolles Andenken an diese Tat.
d) V. 32 – 39: Beim Anblick des Leichnams von Iphis erstarrt Anaxarete zu Stein.
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Um die volle Punktzahl zu erreichen, sollen drei Gegensatzpaare herausgearbeitet werden, wobei zusätzlich Punkte für die Erarbeitung und Nennung von Oberbegriffen wie
z. B. Herkunft, Charakter oder Verhalten vergeben werden.
Iphis
Anaxarete
Herkunft Iphis stammt aus dem einfachen
Volk (humili de stirpe creatus,
V. 2).
Anaxarete stammt aus einem alten,
fürstlichen Geschlecht, das seinen
Ursprung bis auf den Stammvater der
Trojaner zurückführen kann (a veteris
generosam sanguine … Teucri, V. 1).
Charakter Iphis ist emotional, leidenschaftlich und zärtlich. Obwohl er lange
mit sich gerungen hat, kann sein
Verstand seine Liebesglut nicht
bezwingen (luctatusque diu: Postquam ratione furorem vincere non
potuit, V. 4 / 5), die sich seiner bemächtigt hat, nachdem er Anaxarete gesehen hatte (Viderat, V. 1).
Der verschmähte Liebhaber weint
(madidas lacrimarum rore coronas, V. 7) und nächtigt traurig
(tristisque, V. 9) auf der harten
Türschwelle seiner Angebeteten
Hartherzigkeit und emotionale Kälte
hingegen charakterisieren Anaxarete,
was besonders durch die Vergleiche mit
harten, gefühllosen und sogar todbringenden Objekten deutlich wird
(Saevior illa freto surgente …, durior et
ferro, …, et saxo, V. 10 –12). Herzlos
(ferox, V. 14) weist sie ihren Verehrer
ab.
Ebenso hart wie ihre Türschwelle (in
limine duro, V. 8) ist ihr Herz, das wie
ihre Tür für Iphis verschlossen bleibt
([Iphis] serae convicia fecit, V. 9).
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