Mit Herz und Humor - Damit sie Leben in Fülle haben

Mit Herz und Humor
Locher, Peter:
Mit Herz und Humor: Erzählungen aus dem Leben P. Joseph Kentenichs/Peter
Locher. – Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1981.
ISBN 3-87620-066-0
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Patris Verlag GmbH, Postfach 1162, 56171 Vallendar
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Rückseitentext und Vorwort des Buches:
Der Abstand zu großen Menschen bringt eine Gefahr mit sich: Dass die „großartigen Züge“ ihrer Persönlichkeit sich einseitig in den Vordergrund der Erinnerung
schieben. Hier wird der Versuch gemacht, an Einzelszenen aus dem Leben P. Kentenichs seine tiefe Menschlichkeit, seinen Humor und in allem den ruchlosen Übergang von Natürlichkeit zu tiefer Gottgebundenheit anschaulich zu machen.
Ein solch personeller Kontakt ist noch ganz besonders für die Fortsetzung der Sendung Pater Kentenichs wichtig. Aus der Mitte seines Wesens heraus war er Erzieher und Vater. Alles, was er schuf, sollte dazu dienen, den heutigen Menschen dort
abzuholen, wo er ist und ihn im Prozeß eines organischen Wachstums zur Ganzhingabe an Gott zu führen. Solches geschieht aber nur in den konkreten Einzelvollzügen des täglichen Lebens, in der spontanen Begegnung mit dem Mitmenschen, in der originellen Bewältigung der vielen unberechenbaren Umstände und
Vorfälle des Alltags.
Das vorliegende Büchlein will diese originelle Menschlichkeit Pater Kentenichs
auffangen, bewahren und – in der Darstellungsweise des Mosaiks – zeichnen.
Die lebendige Tradition der Schönstattfamilie kennt (noch) eine unübersehbare Zahl kleiner Einzelerzählungen, wie sie hier aufgeschrieben sind. Meist sind es
aber doch die Augenzeugen, die solche kleine Begebenheiten in sich tragen und
richtig weitergeben. Damit nicht allzu viele mit den Erstzeugen sterben, seien einige hier aufgezeichnet und so den Nachfahren erhalten. Ihnen sollen sie erzählt
sein, damit auch sie teilhaben können an der „Güte und Menschenfreundlichkeit
Gottes” (Tit 3,4), wie sie so unübersehbar in der Vatergestalt Pater Kentenichs
durchschien.
Vom heiligen Franz von Sales stammt das bekannte Wort: „Ein Heiliger, der traurig ist, ist ein trauriger Heiliger!” Das Wort galt für ihn selbst, indem gerade er
kein solcher Heiliger war. Es gilt auch für Pater Kentenich. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die humorvollen Züge seiner Gestalt in diesem Büchlein einen
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besonders breiten Raum einnehmen. Er selbst hat ja das Wort geprägt: „Gott
liebt nichts so sehr als gerade einen fröhlichen Heiligen.” Das Fröhlich-Sein an
sich macht natürlich noch nicht den heiligmäßigen Menschen aus. Es kommt vielmehr auf den Frohsinn an, der aus der Bewältigung auch schwieriger Situationen
erwächst. Grundlage der Fröhlichkeit muß die Liebe und Menschlichkeit des Herzens sein. Deshalb der Titel dieses Büchleins: „Mit Herz und Humor”.
Die Zusammenstellung der hier erzählten Begebenheiten berücksichtigt im großen Wurf den Lebenslauf Pater Kentenichs. Nicht jede einzelne Geschichte ist aber
chronologisch richtig eingeordnet. Gerne sind mehrere Begebenheiten zusammengefaßt, die gemeinsam einen Charakterzug Pater Kentenichs besser beleuchten.
Der Leser ist deshalb veranlaßt, bei der Lektüre die Leiter der Geschichte etwas
auf- und abzusteigen. Zur besseren Orientierung findet sich deshalb im Anhang
eine knappe Chronologie des Lebens von Pater Kentenich.
Eigens sei betont, dass fast alle hier erzählten Geschichten von den unmittelbar
Beteiligten bezeugt sind. Ihre geschichtliche Wahrheit wurde in allen Fällen überprüft, soweit dieses unter den gegebenen Umständen möglich war.
Weil fast alle Geschichten dieses Büchleins auf das Zeugnis lebender Personen zurückgehen, mag es verständlich sein, dass grundsätzlich die Namen der Beteiligten nicht genannt sind. Ausnahmen wurden nur gemacht, wo der Name des Beteiligten für das Verständnis der Geschichte notwendig war oder wo eine Erzählung mit den darin verwickelten Personen praktisch „Allgemeingut” der Schönstattfamilie geworden ist.
Aus demselben Grund kann auch der Dank an alle diejenigen, die zur Entstehung
dieses Büchleins beigetragen haben, nicht namentlich abgestattet werden. Es
sind nicht wenige. Dass der Verfasser vor allem ihnen großen Dank schuldet, sei
hier aber ausdrücklich erwähnt. In der Verbreitung dieser Schrift mögen sie ihren
Beitrag zum weiteren Wirken Pater Kentenichs in den Seelen und in der Kirche erkennen.
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Ein namentlicher Dank sei dem Verlag gesagt, der schon bei der Erstellung des
Manuskriptes behilflich war; ebenso Herrn Guido Bausenhart, der es stilistisch
überarbeitete und Frau Dr. Barbara Albrecht, die mit gutem Rat half.
Am Schluß seines Romans über den heiligen Thomas von Aquin läßt Luis de Wohl
den Zisterzienserabt des Klosters, in dem der Heilige im Sterben liegt, dessen große philosophische und theologische Leistung in der Synthese von aristotelischer
und christlicher Weisheit zusammenfassen. Ein Ritter, der in seinem persönlichen
Leben vom heiligen Thomas geführt wurde, steht dabei. Er denkt: „Der Philosoph,
der Theologe, der Metaphysiker, der Doktor. Wenn Möge dieses Büchlein dazu beitragen, dass innerhalb des großen Werkes, das uns Pater Kentenich hinterließ, seine liebenswerte Väterlichkeit und Menschlichkeit erhalten bleiben.
Schönstatt, den 18. November 1981 Peter Locher
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Geschichten
Regungslos lag der kleine dreijährige Junge da, umgeben von der besorgten Mutter, der Krankenschwester des Ortes, den Großeltern und den verängstigten Kindern, mit denen der kleine Joseph gerade noch vergnügt Versteck gespielt hatte.
Dabei war er im Keller der Nachbarn in einen Brunnen gefallen. Nur eine wohl
durch den Schreck verursachte Mundsperre verhinderte den Eintritt des Wassers
und so den Tod des Kleinen. Der Großvater konnte ihn noch rechtzeitig herausziehen. Nun lag er regungslos da, den Mund fest zusammengepreßt.
Die Krankenschwester gewann den Eindruck, dass der Junge bei Bewußtsein sei.
Er aber reagierte auf alle Bemühungen und Anrufe der Umgebung nicht. Da
griff die Krankenschwester zu einer List und rief ihm ins Ohr: ,Jetzt wird der Joseph wieder gesund, dann darf er in die Verwahrschule und bekommt ein Bildchen.” Mit „Verwahrschule” war damals treffend der Kindergarten gemeint. Joseph mochte ihn offensichtlich nicht, denn er reagierte prompt: „Ich komm nit in
die ‚Wahrschul’ und will auch kein Bildchen!” Er lebte wieder.
Der junge Joseph Kentenich wollte nicht nur nicht in den Kindergarten, er mochte auch die Schule nicht. Und das, obwohl er immer der beste Schüler der Klasse
war. Es war nicht Mangel an Wißbegier oder Begabung. Was schon dem kleinen
Joseph Kentenich innerlich widerstrebte, war die Menschenführung in der Schule, die Paukerei, die unselbständige und mechanische Lerndisziplin; kurz, der pädagogische Aspekt der Schule.
Die innere Abneigung gegen eine solche Art von Schuldisziplin hielt sich die ganze Schulzeit hindurch. Im Gymnasium für Spätberufene in Ehrenbreitstein äußerte sie sich so:
Der Mathematiklehrer war pflichtbewußt, aber nicht ganz Meister seines Faches.
Er ging deshalb in seinem Unterricht genau nach dem Lehrbuch vor: Die mathematische Regel wurde verkündet, das Beispiel dafür von ihm an die Tafel und von
den Schülern in ihre Hefte gemalt, dass es gelernt werde.
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Kentenich als bester Schüler saß in der letzten Bank links. Nachdem nun der Lehrer die Aufgabe erklärt und das Beispiel an der Tafel aufgezeichnet hatte, wiederholte sich das ganze Schuljahr hindurch dasselbe Spiel. Die Schüler warteten
schon darauf und wandten deshalb die Köpfe nach links hinten. Und auch der
Lehrer wartete schon …bis Joseph Kentenich sich mit Handzeichen meldete und
die Frage stellte: „Kann es nicht auch anders sein?” Oft brachte er dann selbst einen anderen Lösungsvorschlag für die gestellte Aufgabe. Immer aber brachte er
den Lehrer in Verlegenheit; zur Freude der Klasse natürlich.
Nach Jahrzehnten kommentierte Pater Kentenich, der selbst die Geschichte erzählte, das Ereignis folgendermaßen: „Ich sah wohl, dass ich den Lehrer verlegen
machte. Aber der Drang in mir, nach Begründungen und Alternativen zu suchen,
war unwiderstehlich.”
Kehren wir aber in die frühe Jugend Pater Kentenichs und in seinen Heimatort
Gymnich zurück. Joseph war ein unternehmungslustiger Junge wie die meisten
Jungen dieses Alters. Wen wundert es, dass sie der schöne, das ganze Dorf überragende Zwiebelturm der Pfarrkirche reizte? Zu dritt – ein Vetter und der Sohn
des Küsters waren dabei – gelang es ihnen, in den Turm einzudringen. Es zog sie
mächtig in die Höhe! Als keine Treppen und Leitern weiterführten, blieb „nur”
noch übrig, ein paar Kunststücke auf dem Schieferdach der Zwiebel außerhalb
des Turmes zu versuchen . . .
Der Pfarrer bemerkte dieses und nahm sich vor, den drei Akrobaten eine Lektion
zu erteilen. Damit sie ihm nicht entwischten, schloß er die Tür zum Turm ab. Unsere Drei aber, nachdem sie sich derart gefangen fanden, gerieten so leicht nicht
in Verlegenheit. Sie kletterten vom Turm in das Gewölbe des Kirchenschiffes, öffneten die Luke über dem Altar, ließen sich hindurch, bis sie auf der höchsten Stelle des Hochaltares zwischen Engeln und Heiligen Tritt fanden, kletterten die Säulen herunter auf den Altartisch, und ab durch die Kirche in die Freiheit.
Im Oktober 1912 wurde Pater Kentenich zum Spiritual im Studienheim Schönstatt ernannt. Den jüngeren Klassen stellte er sich in der ersten Instruktion vor
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mit den Worten: „Ich bin also da, um an euch Mutterstelle zu vertreten.”
Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach und die Verhältnisse in Deutschland immer schwieriger wurden, sollten sich dem jungen Spiritual bald mehr als genug
Gelegenheiten bieten, sein Wort wahrzumachen.
Die Schüler des Studienheimes mußten mit Kriegsbeginn von dem neu erbauten Studienheim am Hang, das Kriegslazarett wurde, in das viel dürftigere „Alte
Haus” im Tal umziehen. Dort herrschte vor allem im Schreckenswinter 1916/17 –
einem Winter, in dem der Rhein zufror – ein wahrer Notstand. Wegen des berüchtigten „Schweinesterbens” in Deutschland war die Ernährungslage des Volkes katastrophal geworden. Internate wie jenes in Schönstatt wurden von der Knappheit besonders hart getroffen. Dürftige Kleidung und billiges, rationiertes Brennmaterial gaben den Rest.
In dieser Zeit war der Spiritual zu den Jungen wirklich wie eine Mutter. Man fand
auf seinem Zimmer Unterschlupf und durfte sich aufwärmen. Auch ausweinen
konnte man sich. Und schimpfen, was er schweigend anhörte. Häufig geschah
es, dass er sich erkundigte, wer denn zur Zeit besonders viel Hunger habe (wenn
ihm nicht selbst ein besonders schmächtiges Gesicht auffiel). Ihm ließ er ein belegtes Brot zukommen, das er sich vom eigenen Essen abgespart hatte.
In dem schrecklich kalten Winter erfuhr er, dass einer immer besonders heftig
fror. Durch einen Führer der Kongregation schickte er diesem seine eigene Wolldecke mit der Bitte, ihm diese im Frühjahr wieder zurückzubringen.
In seinen Erinnerungen formulierte es ein damaliger Schüler: „In jener Zeit war
der Pater Spiritual für uns mehr Mutter als Vater.”
Wie schon erwähnt, war das Studienheim der Pallottiner am Hang des Tales in
den Kriegsjahren 1914-18 Militärlazarett. Die Schüler mußten in beschränkter
Zahl und in primitivsten Verhältnissen im „Alten Haus” in der Talsohle wohnen.
Dort erhielten sie auch ihren Unterricht. Lediglich Kapelle, Küche und Speisesaal
des Studienheimes konnten auch während der Kriegsjahre von den Pallottinern
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benützt werden. Die Folge davon war, dass alle Schüler und Lehrer dreimal täglich den schmalen Weg am Hang hinaufund hinabsteigen mußten.
Eines Winterabends – es war schon Nacht – gehen drei der Buben nebeneinander
und haben es besonders wichtig, blockieren dabei aber die ganze Breite des Weges. Da kommt schnellen Schrittes von hinten aus dem Dunkel eine Gestalt heran und versucht, zwischen den dreien durchzukommen. Diese reagieren sofort,
rücken noch enger zusammen, und der Wortführer der Jungen ruft entschieden:
„Das gibt es nicht! Du kannst wohl so wenig deinen Hunger beherrschen, dass es
dir hier nicht schnell genug geht!” Es gibt kein Durchkommen. Der Unbekannte
läßt ab und geht brav hinter den dreien einher – bis zur nächsten Kurve, wo der
Weg etwas breiter und, von einer Lampe beleuchtet, leicht zu überschauen ist.
Dort Überholt die dunkle Gestalt die Buben. Die drei erkennen betreten ihren Pater Spiritual, der an ihrer Verlegenheit seine königliche Freude hat.
Wer beichtet schon gerne? Menschen, die von Skrupeln geplagt oder von großer
Schuld bedrückt sind, vielleicht.
Auch solche, die tief um einen barmherzigen Gott wissen und gerne seine Vergebung suchen. Wohl kaum aber Jugendliche, die Gebote als Verbote erleben
und in ihrem Entfaltungsdrang bei gleichzeitiger Unsicherheit dauernd mit einem halbschlechten Gewissen herumlaufen (sofern das Gewissen sich überhaupt
meldet).
Zu Beginn unseres Jahrhunderts beherrschte das Bild des richtenden und strafenden Gottes die gewöhnliche Frömmigkeit. Man hatte ein schlechtes und furchtsames Gewissen. Man „mußte” beichten.
Im Studienheim Schönstatt war die Situation nicht viel anders. Die Disziplin
des Hauses unterstützte ein solches Lebensgefühl. Alle zwei Wochen am Freitag, dem Beichttag, standen die Jungen, klassenweise aus dem Studiersaal abgerufen, der Reihe nach im Gang vor dem Zimmer des Spirituals, das Gesicht zur
Wand gekehrt, die Arme auf dem Rücken und den Rosenkranz in den Händen.
Der Präfekt schritt den Gang ab und achtete auf strenges Stillschweigen, „damit
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die Reue unterwegs nicht verlorengehe”.
Pater Kentenich ließ als Spiritual in der ersten Zeit nach seiner Ernennung im
Oktober 1912 die äußere Beichtdisziplin bestehen. Die Jungen standen weiterhin nach Vorschrift im Gang. In seinem Arbeitszimmer aber, das auch Beichtzimmer war, begann er bald, das bedrückende Klima des Beichtens zu ändern, nicht
durch andere Formen anfangs, sondern durch seine innere Einstellung und die
Art des Zuspruchs.
Als dann nach Kriegsausbruch das Studienheim im Oktober 1914 in das „Alte
Haus” zurückverlegt werden mußte und die frühere Disziplin sowieso nicht mehr
in der alten Strenge aufrechtzuerhalten war, wandelte sich das Beichten beim Pater Spiritual gänzlich.
Der Betstuhl stand an der Schmalseite des Schreibtisches, an dem Pater Kentenich saß. Kaum war der „arme Sünder” niedergekniet, ergriff der Beichtvater die
Initiative. „Wie geht es dir denn? Bist du mit deiner Note in der Lateinarbeit zufrieden, die ihr gestern zurückbekommen habt? Wie geht es der kranken Mutter?
Was machen Vater und Bruder im Feld? Gab‘s Krach mit dem Pater Präfekt?”
Die „Kleinen und Neuen” wurden auch mit der Frage überrascht: „Hast du Heimweh?” Und dabei konnte es schon einmal Tränen geben nicht über die begangenen Sünden, sondern, weil es halt schwer war, in Schule und Internat, weg von zu
Hause, durchzuhalten. Schließlich wurde auch gebeichtet.
Wiederholte sich die Erfahrung einer solchen „Beichtvorbereitung”, dann änderten sich auch bald Voreinstellung und Vorbereitung vor dem Beichtzimmer. Kam
man zum Beichten, wußte man schon, was man dem Pater Spiritual sagen wollte, auch wenn das Sündenregister des Beichtspiegels dazu keine Anregung bot.
Ein menschliches Gespräch entstand, das so befreite, dass Pater Kentenich einmal einen, der nach dem Gespräch gleich gehen wollte, erinnern mußte: „Wollen
wir jetzt nicht noch beichten?”
An einem Beichttag kommt einer der Jungen aus dem Zimmer von Pater Spiritual mit strahlendem, fast verklärtem Gesicht. „Na, warum lachst du denn über das
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ganze Gesicht?”, fragen ihn spontan die Wartenden. Der Gefragte läßt sich nicht
hinter die Kulissen schauen und erwidert prompt: „Weil heute der Beichtvater so
gut gelaunt ist!”
In religiösen Gemeinschaften, denen jahraus, jahrein immer derselbe, ein „ordentlicher” Beichtvater, zur Verfügung steht, ist es Brauch, in gewissen Zeitabständen
einen zweiten, auswärtigen, eben einen „außerordentlichen” Beichtvater zu bestellen. Die Einrichtung besteht für den Fall, dass etwas Besonderes vorliegt, auf
Grund dessen ein Poenitent sich schwertut, sich dem bekannten Beichtvater anzuvertrauen. Oft hat allerdings der „außerordentliche” Beichtvater auch einfach
die Funktion, für etwas Abwechslung zu sorgen.
Der Brauch bestand auch im Studienheim Schönstatt zu der Zeit, als Pater Kentenich Spiritual und in dieser Eigenschaft „ordentlicher” Beichtvater der Jungen
war. Dem „außerordentlichen” Beichtvater eilte bei der untersten Klasse, die ihn
noch nicht kannte, der Ruf von etwas ganz Besonderem voraus: Es war der Graf
von XY, dessen Bruder in der kaiserlichen Leibgarde in Berlin diente! Hoch zu
Roß wird er anreiten! Er soll auch sehr reich sein und immer viel Geld an die Armen verschenken! Er muß ein ungewöhnlicher Beichtvater sein! Klar, dass fast
die ganze Sexta sich vor seinem Beichtstuhl anstellte.
Der Graf im priesterlichen Stand kam auch tatsächlich auf seinem Pferd angeritten; eine stattliche, adelige Gestalt. Im Beichtstuhl kam allerdings die große Enttäuschung: Der hohe Herr nuschelte nach dem Bekenntnis ein paar kaum verständliche Sätze vor sich hin und absolvierte „ruck-zuck”!
Auf diesem Hintergrund dämmerte den Jungen, dass ihr Pater Spiritual, der „ordentliche” Beichtvater, ein – kam es einmal wirklich zum Beichten – recht „außerordentlicher” Beichtvater war.
Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg wurde in mehreren Kirchen in der Umgebung Schönstatts eingebrochen und der Tabernakel ausgeraubt. Die Leitung des
dortigen Studienheimes beschloß deshalb, für einige Zeit das Allerheiligste jeden
Abend in das Krankenoratorium zu übertragen und bei Nacht zu bewachen. Die
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Nachtwache wurde den Patres zugeteilt. Und so mußte auch Pater Kentenich
„Wache schieben”.
Einige von den älteren Schülern, ehemalige Kriegsteilnehmer, beobachteten dabei ihren Pater Spiritual und sahen ihn ruhig auf und abgehen – den Rosenkranz
in der Hand. Das war nun ihrer Meinung nach aber der gefährlichen Situation
überhaupt nicht angemessen. Die prägenden Kriegserlebnisse kaum hinter sich,
kamen sie – kopfschüttelnd über soviel Naivität – zu der Überzeugung, dass
man so das Allerheiligste nicht bewachen und mit einem Rosenkranz schon gar
nicht gegen Einbrecher vorgehen könne. Was hier nottat, war eine Waffe. Und so
brachten sie Pater Kentenich ein Bajonett.
Dieser ging nachsichtig auf sie ein, nahm es dankend an und trug es verständnisvoll, fromm und brav mit sich auf und ab – bis die „Kriegsveteranen” sich befriedigt zurückgezogen hatten. Dann legte er das unbequeme Werkzeug auf das
Fensterbrett im Gang und betete weiter seinen Rosenkranz.
Zu den frühesten Mitarbeitern Pater Kentenichs an der Zentrale in Schönstatt gehörte Pater M. Aus Hillscheid, einem Nachbarort Schönstatts, stammend, fand
er – durch eine Predigt Pater Kentenichs in seiner Pfarrkirche angezogen bereits
als Junge seinen Weg ins Studienheim und zur Marianischen Kongregation, in deren Schoß Schönstatt als neue Bewegung am 18. Oktober 1914 gegründet wurde. Schon zu jener Zeit hatte Pater Kentenich die Mutter des jungen Internatsschülers kennengelernt, als diese einmal ihren Sohn besuchte. Nun, nachdem Pater M. an der Zentrale in Schönstatt als Priester wirkte, bedrängte er den Gründer verschiedentlich, doch einmal mit ihm einen Spaziergang zum Heimatdorf zu
machen, um mit ihm bei der Mutter eine Tasse Kaffee zu trinken.
Der Besuch fand statt – allerdings nicht so, wie Pater M. sich ihn vorgestellt hatte. In seiner Abwesenheit hatte Pater Kentenich mit zwei anderen Mitbrüdern einen Spaziergang gemacht, der sie unabsichtlich bis Hillscheid führte. Dort erinnerte er sich der Einladung. Und so klopften die drei Patres bei Mutter M. an und
luden sich zum Kaffee ein. Die einfache und sehr fromme Frau geriet ganz durcheinander: drei hochwürdige Herren und darunter der hochverehrte Pater Spiritu11
al! Sie ließ in ihrem ersten Schreck die Besucher unter der Türe stehen und legte zuerst einmal ihre Werktagsschürze ab und ihre Sonntagsschürze an. Dann erschien sie wieder und führte die Gäste in die Wohnstube, begann Kaffee zu kochen und trug auf, was Küche und Keller hergaben. Schließlich kam sie, um den
Kaffee einzugießen. „Aber” – so erzählte sie später ihrem Sohn – „ich war so aufgeregt, dass ich bei der Tasse vom Herrn Pater das meiste in die Untertasse goß.”
Da stand sie, ganz verdattert, in der einen Hand die Tasse, in der anderen Hand
die Kanne und wußte nicht mehr, was sie tun sollte.
Pater Kentenich bemerkte ihre Verlegenheit und wandte sich ihr lächelnd zu: „Ist
nicht schlimm, Mutter M., sehen Sie, das macht man so!” Er nahm ihr die Tasse
ab und goß den verschütteten Kaffee von der Untertasse in die Tasse. Die Verlegenheit war behoben.
Pater Kentenich lud diese einfache Mutter M. einmal ein, einige erholsame Tage
in Schönstatt zu verbringen. Er wählte die Zeit eines großen Exerzitienkurses für
Priester im damaligen Bundesheim. Mutter M. erhielt das Zimmer neben der Empore zur Hauskapelle. „Du wirst sehen, was passieren wird …”, bemerkte er zum
Sohn. Was er vorausgesagt hatte, geschah: Mutter M. verweilte den ganzen Morgen auf der Empore der Kapelle und vollzog die vielen Messen mit, die – nach damaligem Ritus, der noch keine Konzelebration gestattete – nacheinander an den
verschiedenen Altären von den Priestern zelebriert wurden. Und als die Reihe der
Meßfeiern im Bundesheim zu Ende war und der Vortrag anfing, ging sie zum nahen Heiligtum, um zu sehen, ob nicht dort noch eine Messe sei, die mitgefeiert
werden könnte. So verliefen die erholsamen Tage der Mutter M.!
Eines Nachmittags bemerkt sie, wie sich aus verschiedenen Richtungen ein Strom
Marienschwestern auf das Heiligtum zubewegt. „Da muß etwas los sein”, denkt
sie und schließt sich dem Strom an. Unter lauter Schwestern wartet sie, was da
kommen soll. Und kommen sollte Pater Kentenich, der während der Zeit der Priesterexerzitien den Schwestern einen Vortrag zu einer nachmittäglichen Stunde
hielt. Begreiflich, dass die Schwestern bei diesem Vortrag unter sich sein wollten. Eine Schwester flüstert deshalb der frommen Frau zu: „Hier hält Pater Kentenich jetzt gleich einen Vortrag!” - „Oh, das ist mir sehr recht”, bemerkt unschul12
dig Mutter M.
Dem herannahenden Pater Kentenich wird die Warnung entgegengebracht:
„Herr Pater, da ist eine Frau im Kapellchen, die will nicht gehen.” Der „Gewarnte”
ahnt gleich, um wen es sich da wohl handelt, läßt sich zur Sicherheit die Frau etwas beschreiben, dirigiert die Schwerstern ins Heiligtum und betritt es schließlich
selbst, um seinen Vortrag zu beginnen: „Liebe Schwestern, unter uns sitzt heute
die Mutter M. Über sie werde ich jetzt den Vortrag halten . . .”
Und dann folgt eine Darlegung über das „Gebet der Einfachheit”, das schlichte und gelöste Bei-Gott-Sein in einer übernatürlichen Atmosphäre des Herzens
ohne viel Reflexion und Worte. Und immer wieder heißt es in der Die Verlegenheit
der Mutter M. kann man sich vorstellen. „Ich wäre am liebsten unter die Bank gekrochen”, erzählt sie später ihrem Sohn. Es half aber nichts: Pater Kentenich, der
ihre Seele kannte, machte sie zum lebendigen Anschauungsunterricht.
Dass Pater Kentenich oft der Schalk im Nacken saß, erhellt besonders treffend
folgende Geschichte. Sie geschah Ende der zwanziger Jahre. Pater Kentenich mit
seinen Mitarbeitern lebte noch nicht allzu lange in dem neu erbauten Bundesheim (heute „Pallotti-Haus”).
Pater M. erhält eines Tages von der Pforte aus einen Anruf. Er geht zum Telefon, nimmt den Hörer ab und meint an der hellen Stimme seine Tante Anna zu
erkennen. „Ah, Tante Anna”, fragt er überrascht, „bist Du es?” – Die helle Stimme stockt kurz, bestätigt aber dann: „Ja, ich bin es.” – „So, wie bist Du denn von
Höhr-Grenzhausen hier herunter gekommen?” – „Oh, das ging ganz schnell!” –
„Na, dann warte einen Augenblick”, schlägt Pater M. vor, „ich besorge Dir einen
Kaffee.” – „Das ist nicht nötig”, kommt es abwehrend zurück . . .
Pater M. geht zur Pforte und sieht, wie Pater Kentenich raschen Schrittes durch
den Innenhof davoneilt. Die Tante Anna ist nicht zu finden. Er geht also in sein
Zimmer zurück. Da klingelt das Telefon wieder. In dem schallenden Gelächter derselben hellen Stimme gibt sich Pater Kentenich zu erkennen.
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Schon im Jahre 1925 hatten sich die „Berufstätigen Bundesschwestern” zusammengeschlossen, eine Gruppe von jungen Frauen, die sich hauptsächlich für die
Bewegung einsetzen wollten und deshalb nach Schönstatt zogen, um dort für
alle nötigen Dienste zur Verfügung zu stehen. (Ein Jahr später sollten sich aus ihnen die Schönstätter Marienschwestern entwickeln.)
Von einer jener „Berufstätigen”, wie sie kurz genannt wurden, starb der Vater.
Die Tochter, gerade zu Hause weilend, konnte der Mutter beistehen. Nachdem
der Vater beerdigt war, fragte sie brieflich bei Pater Kentenich an wann sie denn
zurückkehren solle. Die Antwort: „Bleiben Sie noch ein halbes Jahr zu Hause, bis
sich die Mutter an das Alleinsein gewöhnt hat.”
Unter Pater Kentenichs Inspiration erwuchs in den Jahren 1925/26 aus der jungen Apostolischen Bewegung die erste religiöse Gemeinschaft, die Schönstätter
Marienschwestern. Die Anfangsjahre fielen – so charakterisierte es der Gründer
selbst – in eine „große wirtschaftliche Notzeit”. Um zum Beispiel einige Gästezimmer im sogenannten „Schlößchen” einzurichten und dadurch eine bescheidene Einnahmequelle zu erschließen, stellten die Novizinnen mit großer Selbstverständlichkeit ihre als Aussteuer mitgebrachten Betten zur Verfügung und schliefen selbst auf Strohsäcken. Alles, was irgendwie entbehrlich war an Mobiliar, Geschirr und Lebensmittelvorräten, wurde in das neue, am 15. August 1928 eingeweihte Bundesheim gegeben, das fortan der Apostolischen Bewegung als Exerzitien- und Tagungsheim dienen sollte. Dafür fehlte es im sogenannten „Alten
Haus”, der ersten Unterkunft der Schwestern, nicht selten an den notwendigsten
Dingen des alltäglichen Lebens: an Geschirr, Besteck und Lebensmitteln. „Salzheringe mit Pellkartoffeln,” „Pellkartoffeln und dicke Bohnen” war oft genug auf
dem Speisezettel zu lesen.
Diese ärmlichen Anfangsverhältnisse schadeten dem Idealismus der Novizinnen
keineswegs. Im Gegenteil, er fand darin sogar neue Nahrung!
Als hingegen die Eltern der Novizinnen zur Einkleidung kamen, diese Anfänge
sahen und dazu hörten, dass die neue Gemeinschaft kein „Kloster” sei und kei14
ne Gelübde habe, wollten einige Eltern ihre Kinder lieber wieder mit nach Hause nehmen.
Pater Kentenich hörte davon, ließ die Eltern rufen, unterhielt sich ein wenig mit
ihnen und frug schließlich: „Sie wollen Ihre Kinder wieder mit nach Hause nehmen? Machen Sie sich keine Sorge, das sind jetzt unsere Kinder!”
Nach diesen überzeugenden Worten, hinter denen die glaubwürdige Persönlichkeit des Gründers stand, wollte kein Vater und keine Mutter mehr ihr Kind mit
nach Hause nehmen.
Pater Kentenich achtete sorgfältig darauf, dass durch den Eintritt in eine seiner religiösen Gemeinschaften die Bindungen Menschliche Rücksicht zur natürlichen Familie nicht zerschnitten wurden. Ehrfürchtig stand er vor jeder gewachsenen Liebe und suchte sie zu schützen. In seiner Erziehung ging er von dem Gedanken aus, dass jede gesunde Naturbindung das beste Fundament für den Weg
zur Heiligkeit ist; und das nicht nur zu Beginn des Weges, sondern in jeder Phase des Wachstums.
Zu den ersten Kursen der Marienschwestern gehörten drei Töchter einer Familie;
ein nicht leichter Verzicht für die Eltern. Pater Kentenich konnte das Empfinden
der Eltern verstehen. Als deshalb die dritte stolz das Kleid der Schwestern trug,
schickte er alle drei zum Fotografen und ließ eine Aufnahme von ihnen machen;
keine Selbstverständlichkeit für die zwanziger Jahre. Das Bild ließ er dann auf eigene Kosten rahmen und schenkte es den Eltern zu Weihnachten.
Iu den ersten Marienschwestern gehörte die jüngste Tochter einer Witwe mit drei
Kindern. Das zweite Kind, ein Sohn, war auch schon entschlossen, in einen Orden
einzutreten. Als die Älteste auch Marienschwester werden wollte, wehrte sich die
Mutter. Sollte sie, die drei Kinder gebar und den Mann verloren hatte, auf ihre alten Tage allein gelassen sein? In ihrem Dilemma, was zu tun sei, vielleicht auch in
der Suche nach Unterstützung, den eigenen Weg gehen zu dürfen, wandte sich
die Tochter an Pater Kentenich um Rat. Bald kam das Brieflein mit der Weisung:
„Kommen Sie erst, wenn die Mutter Sie freiwillig gehen läßt.”
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Es zogen einige Jahre ins Land, in denen über das Thema zwischen Mutter und
Tochter geschwiegen, gleichzeitig aber viel gebetet wurde. Dann, während gemeinsam verbrachter Ferien in Schönstatt, meinte die Mutter ganz aus sich:
„Wenn Du nun so gern zu den Marienschwestern gehen möchtest, dann gehe in
Gottes Namen.”
Eine Tagung für Jungmänner ging zu Ende. Es war in der zweiten Hälfte der
zwanziger Jahre, als sich praktisch das ganze Schönstattleben noch beim Urheiligtum und im danebenliegenden sogenannten „Alten Haus” abspielte. Die Bewegung begann sich zu entfalten, und „Zeit” wurde für Pater Kentenich allmählich ein immer seltenerer Artikel …
Der Gründer hatte den Jungmännern die Tagung gehalten.
Jetzt aber, am letzten Tag, drängten andere Verpflichtungen. Die begeisterten
Jungmänner wollten dies nicht einsehen. Sie hatten zum krönenden Abschluß
der Tagung einen Fackelzug geplant. „Herr Pater” sollte unbedingt mitgehen. Seinen Hinweis, er habe andere Verpflichtungen, akzeptierten die Jungen nicht. In
ihrer stürmischen und jungenhaften Art, die Pater Kentenich fraglos gefiel, klopften sie sogar ans Sprechzimmer im „Alten Haus”, wo Pater Kentenich gerade mit
der Generaloberin der Marienschwestern eine Unterredung führte, und kündigten an, bald würden sie ihn zum Fackelzug holen.
Pater Kentenich hatte aber wirklich keine Zeit. Was tun? Er prüfte das Fenster
des Sprechzimmers, das auf der dem Heiligtum und Eingang abgewandten Seite
des Hauses lag und schwang sich kurz entschlossen durch das Fenster ins Freie.
Dann zog er sich ins Dunkel am Hang zum Studienheim zurück.
Die Jungen wollten ihren Augen nicht trauen, als sie Herrn Pater im Sprechzimmer nicht mehr vorfanden. Sie durchsuchten das Zimmer und bestürmten die
Schwester, die sich natürlich ausschwieg, mit hundert Fragen. Es war wie Hexerei. Auf die Idee, der Herr Pater könne durchs Fenster geklettert sein, kamen sie
nicht.
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Schließlich mußte der Fackelzug ohne Pater Kentenich stattfinden. Allerdings
stand er, wie er später erzählte, eine Weile am Bergabhang und schaute dem Fackelzug zu. Dann machte er sich an seine dringende Arbeit.
Vom Gedächtnis Pater Kentenichs erzählte man schon zu seinen Lebzeiten fast
legendäre Geschichten. Sie kreisten weniger um die Tatsache, dass er alle möglichen Autoren und Bücher zitieren konnte und in seinen Schriften verarbeitete (was er auch tat). Vielmehr drückten sie das Staunen darüber aus, dass Pater
Kentenich die kleinsten Kleinigkeiten behielt, die ihn mit den Menschen verbanden und seine innere Aufmerksamkeit offenbarten.
Es war in den dreißiger Jahren. Die Eltern einer jüngeren Schwester kamen nach
Schönstatt zu Besuch. Pater Kentenich fand die Zeit, sich mit ihnen etwas zu unterhalten. Während des Gespräches fiel ihm auf, dass der Vater, ein Landwirt,
merkwürdig unruhig war. Schließlich kam die Ursache heraus: Eine Kuh sollte um
diese Zeit kalben, und der Mann sorgte sich sehr, ob wohl auch alles gut gehe.
Nach mehreren Jahren traf Pater Kentenich die Eltern wieder. Die Begrüßung war
noch nicht zu Ende, da erkundigte er sich schon: „Hat die Kuh gut gekalbt?”
Ein herzkrankes Mädchen aus dem Schwabenland wurde – es war in den dreißiger Jahren – an eine Heilstätte im norddeutschen Raum zur Kur überwiesen.
Das Mädchen war Pater Kentenich wohlbekannt und schrieb ihm bald einen
Brief, in dem sie über das neue Leben berichtete: Das Wetter und die Umgebung
seien herrlich, die Verpflegung gut und reichlich – wenn es auch nicht gerade
„schwäbische Küche” sei! Auch die Unterbringung sei gut. Ebenso das Verhältnis zu den anderen Kurgästen. Sie sei rundum zufrieden.
Mit einer Antwort rechnete das Mädchen in keiner Weise, da Pater Kentenich
Und dennoch: An einem der nächsten Tage kommt der Geldbriefträger, händigt
ihr 20,00 Mark aus und dazu den Abschnitt der Postanweisung, auf dem in der
Handschrift Pater Kentenichs zu lesen steht: „Für schwäbische Leckerbissen!”
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Die Gabe der ganz persönlichen Aufmerksamkeit blieb Pater Kentenich bis zum
Ende seines Lebens.
Es war auf Berg Schönstatt während der drei letzten Lebensjahre des Gründers.
Ein Mitglied der Schönstattfamilie war bei ihm, als das Essen serviert wurde,
und Pater Kentenich lud die Betreffende zum Mittagessen ein. Herr Pater fragte im Gespräch unter anderem nach den Eßgewohnheiten ihrer Heimat. Ganz erstaunt war er, dass es im Münsterland das ganze Jahr über jeden Abend Pfannkuchen gab und dass trotzdem Pfannkuchen für die Leute dort ein Leibgericht
blieb; auch für sie.
Etwa ein Jahr später, wiederum auf Berg Schönstatt, begrüßte Herr Pater unmittelbar nach dem Mittagessen eine Gruppe Schönstätter. Durch das Blitzlicht auf
die Fotografin – die Betreffende von damals – aufmerksam geworden, rief Herr
Pater sie zu sich und sagte leise zu ihr: „Gehen Sie mal schnell in mein Zimmer,
dort steht auf dem Tisch noch ein Pfannkuchen für Sie.”
Von großen Männern hört man zuweilen, dass sie verschiedene geistige Arbeiten
gleichzeitig verrichten konnten. Napoleon zum Beispiel habe gleichzeitig mehreren Sekretären diktiert.
Pater Kentenich widmete sich gewöhnlich einer einzigen Sache mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit, weswegen er sie schnell erledigte, gut behielt und ohne
Pause zu einer anderen Arbeit übergehen konnte. Seine Konzentrationsfähigkeit
war aber dergestalt, dass er schon einmal zwei Dinge parallel tun konnte.
Einige Theologen waren bei ihm zu einer „Lesestunde” eingeladen. Das
heißt, Berichte und Abhandlungen wurden vorgelesen, um sie nachher gemeinsam zu besprechen. Pater Kentenich saß inmitten des kleinen Kreises an seinem
Schreibtisch. Während vorgelesen wurde, arbeitete er eingegangene Post auf: Er
las Briefe, überflog eine Zeitung, durchblätterte eine Druckschrift. Auf das Vorgelesene schien er nicht zu achten. Er kannte dessen Inhalt. Plötzlich aber, an einer bestimmten Stelle, korrigierte er – selbst ruhig weiterlesend – den Vorleser,
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und zwar unmittelbar, nachdem jener sich verlesen hatte und noch bevor der Zusammenhang des Satzes ergab, dass das gelesene Wort nicht stimmen konnte.
Er hatte also den Bericht klar im Gedächtnis, hörte das Gelesene mit und …erledigte seine Post.
Die innere Sammlung und Konzentrationskraft trat vor allem in Pater Kentenichs
Redetätigkeit oder bei Diktaten hervor. Reden und Predigten hielt er immer frei,
ohne vorliegendes Konzept. Oft waren sie ausgedehnt, der Gedankengang folgte freien und spontanen Assoziationen. Dann überraschte es immer wieder, dass
der Redner seine Disposition, die sich bei Tagungen und Exerzitien über viele Vorträge hin erstreckte, eigentlich nie verlor. Er konnte zwar meist die angekündigte
Gliederung nicht bis zum Ende ausführen; präsent aber blieb sie.
Bei Diktaten geschah Ähnliches. In größeren Abhandlungen konnte ein Unterpunkt der Gliederung durch viele Zitate und Ausfaltungen vom nächsten über
Dutzende von Seiten entfernt sein. Dann aber tauchte er wieder auf. Auch wenn
Pater Kentenich im Diktat unterbrochen wurde, konnte er, nachdem er sich ganz
der Ursache der Unterbrechung – ein Telefonanruf, eine Verabredung, eine Mahlzeit – zugewandt hatte, das Diktat an der Stelle fortsetzen, an der es unterbrochen worden war. Es ist nicht verwunderlich, dass sich solche Fähigkeiten in seiner Umgebung bewundernd herumsprachen…und deshalb bei kritischen Geistern die Frage hervorriefen, ob denn wirklich alles so stimme oder ob der Gründer
nicht ungebührlich idealisiert werde. In den sechziger Jahren bekam Pater Kentenich ein Diktiergerät geschenkt. Er ließ es sich erklären und begann auch, es zu
gebrauchen. Eines Tages versagte das Gerät. Es nahm nicht mehr auf. Pater Kentenich bat einen jungen Mann, doch einmal nach dem Gerät zu sehen. Der Defekt war unerheblich und konnte schnell behoben werden. Zur Probe, ob das Gerät – jetzt wirklich wieder aufnähme, bat der Reparateur Pater Kentenich, etwas
ins Mikrophon zu sprechen. ,Ja, was soll ich jetzt so geschwind sagen”, fragte jener scherzhaft. Frech, wie der junge Mann war, meinte er: „Herr Pater, Sie können
doch einfach in dem Diktat fortfahren, das auf dem Band angefangen ist.” Der
Angesprochene spürte sofort den lauernden Unterton und nahm die Herausforderung an. Er bat den letzten Satz vom Band noch einmal hören zu dürfen, besann sich dann ganz kurz und setzte das Diktat fort.
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In dem erzieherischen Spiel, die Menschen zu wecken und an Gott zu binden, beherrschte Pater Kentenich praktisch jedes Instrument: Trost und Scherz, Weisung
und Zurechtweisung, Verständnis und Forderung, geduldiges Warten und schnelles Zupacken, Ermunterung und Warnung. Die Melodie war immer die der Liebe.
Das Instrument paßte sich der konkreten Situation und dem individuellen Bedürfnis an. Eines der zentralsten und wichtigsten Instrumente war auch die Strenge.
Jeder in seiner Umgebung kannte sie. Allerdings war das eine Strenge, die weit
von Willkür oder eigener Laune entfernt war, die sich in ihrer Eigenart auch nicht
auswirkte in Regeln und Verboten, sondern die direkt die Bindung der Liebe berührte, um diese zu reinigen und zu läutern, um sie von ichsüchtigen Affekten
zu befreien.
Maßnahmen solcher Strenge trafen deshalb auch nur Personen, die sich von ihm
angenommen und verstanden e wußten. Und dann waren es oft Maßnahmen,
die bei einem anderen gar nicht gewirkt hätten, gerade weil sie Vertrautheit und
die Empfindsamkeit der Liebe voraussetzen. Ein Fräulein klopfte an Pater Kentenichs Arbeitszimmer und trat ein in der Freude und dem Wohlgefühl, hier zu
Hause zu sein. Der am Vortag gegebene Hinweis Pater Kentenichs, es sei jetzt
Zeit, die täglichen Besuche zu beenden, war nicht in sie eingedrungen. Noch war
der Gruß nicht verhallt und die Türe nicht wieder geschlossen, als sich Pater Kentenich in gestraffter Haltung der Eintretenden zuwandte. Seine Augen blitzten.
Der begonnene Satz der Eintretenden erstarb auf den Lippen. Bleich und fast
mechanisch trat sie einen Schritt zurück, zur Türe hinaus, zog jene hinter sich zu
und verschwand. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie Pater Kentenich zur Türe „hinausgeblitzt”.
Von Don Bosco wird erzählt, er habe seine Jungen am meisten damit strafen können, dass er ihnen den Gute-Nacht-Gruß versagte. Pater Kentenich konnte dasselbe oder Ähnliches tun. Jemand bewußt nicht zu grüßen – wobei der Betreffende wohl darum wußte -, konnte tief treffen.
Es feierte jemand seinen Namenstag zu einer Zeit, als er mit Pater Kentenich „im
Kriege” lag. Alle aus der Umgebung gratulierten ihm, nur „ER” nicht. Und dies
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war um so auffälliger, als jemand desselben Namens in der Umgebung lebte, den
Pater Kentenich demonstrativ anrief und dem er herzlich gratulierte. Die erste
Reaktion des Übergangenen war: „Ist mir doch egal!” Aber tief im Herzen tat die
ausgefallene Gratulation doch weh. Und als der „Krieg” zu Ende ging, konnte er
es sich auch nicht verkneifen, seine Enttäuschung wissen zu lassen.
Es kam dasselbe Namensfest ein Jahr später. Frühmorgens vor sechs Uhr klingelte das Telefon. Es war Pater Kentenich! Dieses Jahr wolle er auf jeden Fall der erste sein, der ganz herzlich zum Namenstag gratuliert …
Es geht mir gut, solange ich erziehen darf.” Diese Bemerkung Pater Kentenichs
kommt aus der Mitte seiner Person. Die Menschen in ihrem Idealismus, in ihrer
Glaubenskraft und Liebesfähigkeit zu wecken und mit dem „lebendigen Gott” –
wie er bezeichnenderweise sagte – zu verbinden, war sein Lebenselement, eine
nähere Umschreibung seines priesterlich-väterlichen Wirkens. Eine Folge davon
war, dass seine unübersehbare Redetätigkeit – egal ob Gelegenheitsansprachen
bei kleinen Gruppen, Predigten oderVorträge vor großer Versammlung – immer
einen dialogischen Charakter trug. Die Ausfaltung der Gedanken, ja meist ihre
Auswahl selbst, war bestimmt vom seelischen Bedürfnis und vom inneren Mitgehen seiner Zuhörer. Und, dieses dialogische Verhältnis betraf nicht nur das jedem
Redner bekannte Klima einer Vortragssituation im allgemeinen, sondern bezog
sich sehr häufig auf konkrete einzelne Personen, die er wahrnahm, denen ein Beispiel, ein Hinweis oder gar eine Zurechtweisung galt. War die Situation des Vortrags vertraut genug, dann konnte es passieren, dass einen nicht nur das Wort,
sondern auch der Blick Pater Kentenichs an der ihn meinenden Stelle traf.
Nach einer Predigt kam jemand zu Pater Kentenich: „Herr Pater, wenn Sie mich
das nächste Mal meinen, dann schauen Sie mich doch bitte nicht so direkt an.
Alle merken ja sonst, wen es angeht.” – „Gut”, erwiderte Pater Kentenich, „ich
werde das nächste Mal wegschauen.”
Dieses nächste Mal kam. Die Predigt enthielt wieder eine ganz persönliche Botschaft. Und als Pater Kentenich an die betreffende Stelle kam, wandte er ganz
betont den Kopf und blickte zum Fenster hinaus …
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Es war eine bekannte Methode der Gestapo im Dritten Reich, Angeklagte und
Verhaftete dadurch zu zermürben, dass ein Verhör auf eine bestimmte Zeit angesagt wurde, dann aber erst Stunden später stattfand, währenddessen sich das
„Opfer” im Ungewissen befand.
So geschah es auch mit Pater Kentenich, als er von der Gestapo in Koblenz auf
den 20. September 1941 zu ihrer Zentrale „im Vogelsang”, einer Nebenstraße in
der Nähe des Rheins, bestellt wurde.
Pater Kentenich rechnete konkret damit, von dort nicht mehr so schnell zurückzukommen. Er zog seinen „allerältesten Habit” an und steckte sich das Heftchen
„Von den Herrlichkeiten Mariens”, eine Herausgabe der 1. und 2. Gründungsurkunde Schönstatts, in die Tasche. Jedwede Begleitung lehnte er ab. Da er nicht
genau wußte, wo sich das Gestapogebäude befand, mußte er eine Frau auf der
Straße danach fragen. Erschrocken gab die Frau Auskunft. Zur bestellten Stunde
um 8 Uhr morgens fand sich Pater Kentenich „im Vogelsang” ein. Es geschah den
ganzen Vormittag nichts. Das Verhör begann um 13 Uhr.
Später wurde Pater Kentenich gefragt, wie es denn gewesen sei, als er so lange
warten mußte und was er da getan habe. Seine Antwort: „Ich war so müde von
der vielen Arbeit der vorhergehenden Tage. Da habe ich einfach da unten in dem
Wartezimmer gedusselt ‚ne Zeitlang.”
Die Konzentrationslager waren – ganz gleich ob Vernichtungs- oder Arbeitslager
– eine Art Haft, die bewußt darauf ausgerichtet war, den Menschen zu zerstören;
entweder physisch oder psychisch. Den dort gefangenen „Untermenschen” wurde auf vielfältige Weise beigebracht, dass sie keinen Wert und keine Würde besaßen. Deshalb hatten sie kein Recht, waren der Willkür ausgesetzt.
Besonders drastisch wurde dies den Häftlingen gleich bei ihrer Ankunft im Lager eingeprägt. Nicht nur, dass sie in Sträflingskleidung zu gehen hatten, kahl geschoren wurden, ihren Namen verloren und nur noch eine Nummer waren. Prügeleien, Schreiereien und Spott, allerlei Schabernack, den die aufnehmenden Pos22
ten trieben, zielte dasselbe an Entwertung durch Verdemütigung.
In Dachau waren SS-Posten auf die Idee verfallen, im Büro, in dem die Personalien aufgenommen wurden, einen spitzen Nagel in den Stuhl einzubauen, auf den
der „Neuling” zu sitzen kam. Ein von der Mannschaft zu betätigender Mechanismus konnte bewirken, dass der Nagel durch die Sitzfl äche sprang und den Häftling ins Gesäß stach. Natürlich sprang dieser von seinem Sitz hoch und setzte
sich so dem hämischen und schadenfrohen Gelächter der Mannschaft aus.
Auch in Pater Kentenichs Stuhl stach der Nagel. „Was haben Sie denn getan,
Herr Pater?”, fragte ihn jemand nach Jahren. „Den Gefallen tat ich ihnen nicht”,
erwiderte Pater Kentenich. „Ich bin einfach sitzen geblieben.”
Am selben Tag, an dem Pater Kentenich in den Zugangsblock 13 des Lagers eingeliefert wurde, dem 13. März 1942, fand er auch Kontakt mit den gefangenen
Schönstättern des Priesterblocks. Beide Seiten hofften, bald dort vereinigt zu
sein. Die Hoffnung sollte sich erst nach der ungewöhnlich langen Zeit von genau
sieben Monaten, am 13. Oktober desselben Jahres, erfüllen.
Die Wartezeit im Zugangsblock benutzte Pater Kentenich zu vielseitigem Apostolat. Vor allem kümmerte er sich um neueingelieferte Priester. Er selbst konnte
ja in diesen Monaten die heilige Messe nicht mitfeiern. Nur die Priester auf Block
26 durften der dort gefeierten Messe beiwohnen. Anderen war die Teilnahme
streng verboten. Pater F., seit 6. Juni 1941 Häftling, schaffte Erleichterung.
Damals konnten die Priester noch nicht konzelebrieren. Um aber die Zeit für die
Kommunionausteilung zu sparen – die Messe mußte frühmorgens vor dem offiziellen Wecken in einer halben Stunde gefeiert sein -, bestand vorübergehend die
Regelung, dass jeder Priester beim Betreten der Kapelle eine kleine Hostienpartikel – denn auch die Hostien waren damals gerade knapp – aus einem Gefäß neben dem Eingang mitnahm, sie während der Wandlung in der Hand hielt, so dass
sie vom zelebrierenden Priester mitkonsekriert wurde, um sich dann selbst die heilige Kommunion zu reichen.
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Pater F. nun nahm täglich mehrere solcher Partikel mit, kommunizierte eine, wickelte die übrigen in ein Papier und brachte sie Pater Kentenich auf den Zugangsblock. Was damit geschah, berichtet anschaulich Pfarrer F. Weinmann in seinen
Erinnerungen: „Zunächst wurde ich im Zugangsblock untergebracht. Am Abend,
als ich gerade im Begriffe war, an den Bettstellen in den ‚dritten Stock‘ hinaufzuklettern, um zum ersten Mal zu versuchen, wie man hinaufkommt und wie man
da oben so knapp unter der Holzdecke wohl ruhen und schlafen könne, zupfte mich ein älterer Mitbruder am Ärmel, gab mir ein kleines zusammengefaltetes Papierchen und sagte ganz leise: ‚Species consecrata‘. Ich machte große Augen und verschwand im ‚dritten Stock‘. Dort oben, gerade noch ungesehen und
ungestört, sah ich zu meinem ‚kleinen Geheimnis‘ im Papier. ‚Es war wirklich der
Herr!‘ Ich entnahm dann dem Papier – allerdings mit zitternder Hand die heilige
Gestalt des Brotes, betete den Herrn im Sakrament an, vereinigte mich mit ihm
und dankte aus überfrohem Herzen für diese unerwartete, geheime Christusbegegnung am ersten Tag meiner Dachauer Jahre.”
Der „ältere Mitbruder”, von dem Pfarrer Weinmann spricht, war Pater Kentenich.
Das Leben in Dachau war unbarmherzig hart. Viele starben an Hunger und
Krankheit. Andere wurden gequält und getötet. Verständlich, dass es jedem ums
Überleben ging.
Die beherrschte und aufrechte Art Pater Kentenichs war einem elsässischen
Priester aufgefallen. Er suchte Kontakt zu diesem Mann. So sprach er ihn auf der
Lagerstraße mit der für diese Verhältnisse alltäglichen Frage an: „Kommen wir
wohl jemals aus diesem Schlamassel wieder heraus, Herr Pater?” Er erhielt zur
Antwort: „Das ist doch gar nicht die Frage! Die eigentliche Frage ist, ob wir hier
den Willen Gottes tun oder nicht!”
Von nun an hielt sich der Priester an „diesen Mann”, der in einer solchen Situation so dachte.
Das Jahr 1942 war das schlimmste Jahr im Konzentrationslager Dachau. Die Ernährung lag unter dem Existenzminimum. Die Häftlinge erkrankten an Hunger24
ruhr und starben in Massen. Während das Lager im Jahre 1941 877 Tote zählte,
waren es 1942 5136, die meisten verhungert.
Die Spuren dieser Hungersnot zeichneten jeden, auch Pater Kentenich, der zwar
erst im März dieses Jahres eingeliefert wurde und deshalb noch körperliche Reserven besaß, der aber immerhin schon 56 Jahre alt war. In dieser Zeit gab Pater Kentenich immer etwas von seiner Essensration an einen Mithäftling ab; um
jemanden in höchster Not zu helfen, aber auch – wie er später erklärte -, um
sich seine persönliche Freiheit dem übermächtig sich meldenden Eßtrieb gegenüber zu bewahren. Wahrhaftig ein Spiel mit dem Leben! Ein Spiel allerdings, das
er nüchtern beobachtete und souverän mitvollzog, wie folgende Begebenheit
zeigt:
Am 13. Oktober 1942 wurde Pater Kentenich endlich dem Priesterblock 26 zugewiesen. An einem der folgenden Tage steht er mit einer Gruppe Häftlinge in einer kleinen Runde beisammen. Einem, der ihn während des Gespräches von der
Seite betrachtet, fällt es dabei richtig in die Seele: Der Herr Pater ist wirklich nur
noch Haut und Knochen. Und spontan sagt er: „Herr Pater, das halten Sie aber
auch nicht mehr lange aus!” Ganz ruhig und nüchtern erhält er zur Antwort: „Ein
paar Wochen noch, dann ist es zu Ende.”
Es sollte Gott sei Dank nicht soweit kommen. Im selben Monat wurde die Paketsperre im Lager aufgehoben. Die Häftlinge konnten sich von ihren Angehörigen Nahrungsmittel schicken lassen. Der Hungersnot war die lebensgefährliche
Schärfe genommen. Die Schönstätter lebten seitdem aus der Überzeugung, dass
diese Wende vor allem der Macht und Liebe der Gottesmutter zu verdanken war,
die sie in ihrer Not am 2. Juli dieses Jahres zur Lagerkönigin und Lageradvokatin,
zur Lager- und Brotmutter erwählt hatten.
Zu den Mitarbeitern, die Pater Kentenich aus seiner Spiritualszeit als Jungen
kannte, sagte er auch später „Du”. Alle anderen aber, die er als Erwachsene kennenlernte, wurden von ihm – und das war fester Grundsatz – mit „Sie” angeredet.
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Es gab wenige Ausnahmen. Zu ihnen gehörte ein junger Kaplan, dem der Vater
sehr früh gestorben war. In der „Hölle von Dachau” bat jener Kaplan Pater Kentenich, er möge doch zu ihm „Du” sagen. Und Pater Kentenich ging auf die Bitte ein. Der Bittsteller war Kaplan Heinz D. Zusammen mit Pater F. war er der vertrauteste Mitarbeiter Pater Kentenichs im Konzentrationslager. Er führte eine der
beiden Führergruppen, die sich im Lager gebildet hatten. Auf ganz ungewöhnliche, wahrhaft providentielle Weise hatte er während eines Einsatzes in der Besoldungsstelle der SS seinen Füllfederhalter zurükkbekommen und stand so Pater
Kentenich in seiner freien Zeit als Schreiber zur Verfügung. Nun wohnten zwar
beide im Priesterblock 26, aber doch zeitweise nicht in derselben Stube. Pater
Kentenich konnte zur Stube 4 gehören, Kaplan D. zur Stube 3.
Nun stelle man sich das Gewimmel von Menschen während der arbeitsfreien Zeit
vor! Stuben, die für 50 Mann gebaut waren, wurden zeitweise von 200 Mann
und mehr bewohnt. Im Schlafsaal gab es nichts wie dreistöckige Bettgestelle –
wobei in drei Betten fünf Mann schliefen – und kaum schulterbreite Gänge dazwischen. Im Aufenthaltsraum wurde in Schichten gegessen. Jeder Hocker dort
hatte mehreren _ Häftlingen zu dienen. Wollte man zu einem Häftling, der vielleicht im Schlafsaal auf seinem Bett saß, dann mußte man sich buchstäblich an
Dutzenden von Häftlingen vorbeizwängen, um zu ihm zu gelangen. Pater Kentenich wäre deshalb auf der Suche nach seinem Schreiber jedesmal vielen Mitbrüdern zur Last gefallen. Er wählte einen einfacheren Weg. An der Außenseite des
Blockes entlanggehend, konnte er zu den Fenstern der ebenerdig gebauten Baracke hineinschauen und rufen. Um aber auch so nicht immer die Aufmerksamkeit aller auf sich und den Kaplan Heinz D. zu lenken, vermied er den Namen des
Gesuchten. So tauchte häufig an einem der Fenster der Stube 3 ein Kopf auf
und zischte: „nz!” Der Zischlaut blieb im Stimmengewirr der Stube nahezu unbemerkt, war aber
Nachdem die Paketsperre im Oktober 1942 aufgehoben worden war, bildete sich
um Pater Kentenich eine Eßgemeinschaft von Schönstättern – scherzhaft „Spatzenleine” genannt -, unter der regelmäßig geteilt wurde, was – vor allem für Pater Kentenich – an Eßwaren ins Lager kam. Auch andere Häftlinge erhielten Unterstützung bei Pater Kentenich; bei x besonderen Anlässen oder in großen Not26
fällen. Bei der „Spatzenleine” wurde aber täglich und gezielt die mangelhafte Ernährung des Lagers ergänzt. Die gewöhnliche Ergänzung bestand in Butterbroten. Im Strohsackkommando wurden sie von ihm und seinem Schreiber am späten Vormittag in der Baracke, wo gearbeitet wurde, gestrichen, und auf dem Boden – ein Stück Papier als Unterlage – aufgestapelt. Auf den umliegenden Betten
fanden sich dann zur gegebenen Zeit die Esser ein (von daher wohl x der Name
„Spatzenleine”).
Pater Kentenich kam es nun darauf an, die einseitige Ernährungslage auch durch
möglichst viel Abwechslung zu verbessern. Deshalb wurde alles aus den Paketen,
was dafür geeignet war, aufgehoben, bis aus diesen Vorräten eine Suppe gekocht
werden konnte.
Die Aufgabe, die Suppe zu kochen, fiel einem Pater zu, der sich besonders gut
darauf verstand. Dieser Pater hatte nun – nach Meinung des Schreibers – eine
recht schnodderige Art zu reden. Wenn Pater Kentenich ihm die Vorräte gab und
erklärte, wie er sich die Suppe ungefähr dachte, reagierte jener immer schnell
und, so mochte es scheinen, herablassend: „Ja, ja, – weiß Bescheid – ist klar –
wird gemacht!”
Dieses Verhalten regte den Schreiber auf. „Wie kann man nur so mit dem Herrn
Pater umspringen”, dachte er bei sich, sagte aber nichts. Nur die Abneigung gegen den schnodderigen Mitbruder wuchs mit jedem Mal. Pater Kentenich erspürte sie.
Eines Vormittags kommt wieder der Koch. Die Unterhaltung mit Pater Kentenich vollzieht sich in der üblichen schnodderigen Art. Und dann zieht jener mit
den Vorräten ab, um die Suppe zu kochen. Pater Kentenich wendet sich seinem
Schreiber zu: „Was der für ‚ne nette Art hat, nicht?” Im Gesicht des Schreibers
steht etwas anderes geschrieben. Und er ist über die Bemerkung auch so perplex,
dass er keine Antwort findet. Pater Kentenich aber erklärt, jeder Mensch sei ganz
einmalig und originell. Es sei natürlich leichter, die Fehler der anderen zu sehen.
Lohnender, wenn auch etwas schwieriger, sei es aber, die Originalität des Mitmenschen zu entdecken und sich daran zu freuen.
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Aufgrund dieses Gesprächs wirkte die schnodderige Art des Kochs beim nächsten Mal tatsächlich schon netter. Die Grundlage war gelegt, den anderen innerlich anzunehmen.
Nach seiner Verlegung auf den Priesterblock 26 nahm sich Pater Kentenich auch
dort der Neuzugänge besonders an. Er ließ sich erzählen, welcher Weg den einzelnen ins Lager geführt hatte, erkundigte sich nach der Ernährungslage und half
konkret, wo Not am Mann war. (Ab Ende Oktober 1942 konnten Pakete empfangen werden, und er besaß deshalb solche Fälle einen kleinen Vorrat.)
Unter den Neuzugängen befand sich einmal auch ein Mitbruder, dem man den
Pessimisten schon gegen den Wind ansehen konnte; mißmutig deshalb. Pater
Kentenich unterhielt sich öfters mit ihm.
Eines sonnigen Morgens geht Pater Kentenich mit einem Schönstätter auf der
bevölkerten Blockgasse auf und ab. In dem Gewimmel der stehenden und gehenden Häftlinge kommt ihnen jener Mitbruder entgegen. Er geht allein mit düsterem Gesicht. Im Vorbeigehen sagt Pater Kentenich leise zu ihm: „Die Sonne
scheint schön heute!” Er geht mit seinem Wegbegleiter weiter, der eben noch
sieht, wie der Angesprochene sich eines verstehenden und befreienden Lächelns
nicht erwehren kann.
Nach längerem Kontakt mit Pater Kentenich hatte man den Eindruck, dass er mit
„Dachau” nicht mehr so sehr auf Kriegsfuß stand.
Das Leben im KZ war in sich schon im wahrsten Sinne de Wortes lebensgefährlich. Die Gefahr stieg um ein unkalkulierbares Risiko, sobald einer sich auf Aktivitäten einließ, die bei Todesstrafe verboten waren. Dazu gehörte an erster Stelle das Betreiben von illegaler Post, „Schwarzpost” genannt, und jede Art von geheimer Schreiberei.
Pater Kentenich hatte am Fest Mariä Verkündigung, dem 2. März 1943, den Entschluß gefaßt, auch von Dachau aus sich um sein Werk zu kümmern und dessen
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Führung erneut in die Hand zu nehmen. Ein solcher Entschluß enthielt automatisch die Absicht zur Schwarzpost.
Gleichsam als Bestätigung, dass dieser Entschluß einem göttlichen Plan entsprach, wurde Pater F. an diesem Tage auf die Plantage des Lagers versetzt und
dadurch die Möglichkeit zu einem eigenen illegalen Postweg angebahnt. Ein solcher Entschluß bedeutete aber auch, das Risiko für das eigene Leben bewußt einzukalkulieren und im voraus zu bejahen. Das Wagnis bestand dabei nicht nur im
eigentliche Schmuggeln der Post. Das Schreiben selbst und das Aufbewahren
abgehender wie angekommener Post, die bei jede Razzia der SS gefunden werden konnte, war dazu äußerst gefährlich. Im Priesterblock 26 hatte eine Durchsuchung stattgefunden. Bei den Schönstättern war nichts gefunden worden,
obwohl einiges hätte gefunden werden können. Über diesen offensichtlichen
Schutz waren die Schönstätter sehr verwundert. Das Ereignis mußte verkostet
werden. Dabei äußerte Kaplan D., mit Pater Kentenich auf der Lagerstraße auf
und abgehend, recht ernst: „Herr Pater, wenn sie unsere Sache gefunden hätten,
würde uns das den Kopf kosten!” Pater Kentenich erwiderte nichts. Er wechselte das Thema.
Am nächsten Abend gingen die beiden wiederum spazieren. Unvermittelt im Gespräch griff Pater Kentenich das Thema des vergangenen Abends auf: „Über das,
was Du gestern gesagt hast, habe ich noch einmal nachgedacht. Wenn die etwas gefunden hätte, wäre uns das als politischer Katholizismus ausgelegt worden. Und das würde uns den Kopf kosten. Aber... (nach einer Pause, in leiserem
Ton, nebensächlich) lieber heute als morgen!”
Ruhe und Furchtlosigkeit zeichneten Pater Kentenich während seiner ganzen
Lagerzeit aus. Unerschrocken trat er jedem entgegen. Josef Joos charakterisiert
ihn deshalb in seinem Buch ‚Leben auf Widerruf‘: „Ich sah Pater Kentenich in den
schwierigsten Situationen lächelnd, völlig ruhig und ohne eine Spur von Angst.
Es war nicht Ahnungslosigkeit, die solcher Haltung zugrunde lag, denn er wußte
genau, was gespielt wurde. Es war auch nicht geistiger Hochmut, denn er war demütig und bescheiden. Je mehr ich ihn hörte, um so klarer wurde mir, warum er
in seinen Exerzitienvorträgen in Schönstatt so gesucht war.”
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Es war beim Zählappell, am Abend des 15. Dezember 1943. Der Lagerführer,
Obersturmbannführer von Redwitz, erschien persönlich; betrunken, von einer
Sonnwendfeier, dem Weihnachtsfest der Nazis, heimkehrend; unberechenbar deshalb. Nachdem er zuerst mit den russischen Häftlingen herumgepoltert hatte,
kam er zum Priesterblock. Obwohl im vierten oder fünften Glied stehend, fiel ihm
Pater Kentenich ins Auge. „Du, Geistlicher Rat …”, rief er, besann sich dann und
fragte zurück: „Bist du überhaupt ein Geistlicher Rat?” Die eiserne Regel in solchen Situationen hieß: Entweder schweigen oder militärisch antworten: Jawohl,
Herr Lagerführer! – Nein, Herr Lagerführer! – Zu Befehl, Herr Lagerführer! … Pater Kentenich merkte erst, dass er gemeint war, als ihn die Nachbarn anstießen.
Dann erwiderte er auf die gestellte Frage ganz ruhig: „Ich bin zwar kein Geistlicher Rat, aber ich gebe schon mal einen geistlichen Rat.” Der Lagerführer bezog die Aussage auf sich persönlich und explodierte. Josef Joos berichtet: „Einen
Augenblick schien er zu überlegen, welche Schelmerei hinter dieser Antwort stecken könnte. Auf einmal verfinsterte sich seine Miene, sein Gesicht verzerrte sich
vor Wut. Und nun brüllte er los: „Was, du willst mir, dem Lagerführer, einen geistlichen Rat geben, du Strolch du. Dir werde ich‘s geben …Der will mir einen geistlichen Rat geben …Dieser Strolch will mir einen geistlichen Rat geben ... Da sind
mir die Kommunisten lieber.” Während er zu diesen weiterwankte, rief er fünfmal
hintereinander: „Aufhängen lasse ich dich …!” Und die Weisung erfolgte, Pater
Kentenich habe sich am nächsten Morgen zu melden.
Auch die Schönstätter kamen mit der bangen Frage: Was wird jetzt wohl passieren? Pater Kentenich blieb seelenruhig: „Gar nichts wird passieren”, meinte er.
Und so geschah es. Als er am nächsten Morgen durch den Lagerkaplan Schelling
zum Büro des Lagerführers gebracht und dort gemeldet wurde, rief jener – wohl
seinen Kater auskurierend: „Er soll machen, dass er fortkommt!”
Und damit war die Sache erledigt.
Das Betreiben von „Schwarzpost” blieb bis zum Schluß äußerst gefährlich. Nicht
nur wegen des Materials, das sich ständig im Lager befand und dauernd versteckt gehalten werden mußte, sondern auch wegen der schriftlichen Sachen die
die Schönstattfamilie erreichten, dort mehrfach ab geschrieben, unter der Hand
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weitergereicht wurden und deshalb von der Gestapo entdeckt und auf den Verfasser zurückgeführt werden konnten. Es ging aber immer gut. Entweder wurden
in auffallender Weise die Verstecke im Lager nicht entdeckt oder aber, wenn im
Lager oder draußen, im Lande etwas gefunden wurde, hatte eine solche Entdeckung keine Folgen. Pater Kentenich arbeitete deshalb -unentwegt weiter. Er war
überzeugt, dass sein Tun einem göttlichen Wollen entsprach und deshalb auch
unter göttlichem Schutz stand. Wie sehr er dabei die Nerven behielt, zeigt folgende Begebenheit. Am 7. März 1944 zeigt Pater Kentenich Kaplan D. – was
er noch nie getan hatte – das Versteck seiner Post. „Im Falle, dass mir etwas zustößt; dann weißt Du, wo die Sachen sind,” erklärt er. Gerade an diesem Tag muß
wohl eine Sonderkommission des Reichsicherheitshauptamtes Berlin in Dachau
mit dem Auftrag angekommen sein, dem bis zu dieser Zeit stark zugenommenen
illegalen Nachrichtenfluß aus dem KZ ein Ende zu bereiten. Ganz offensichtlich
hatte sie von vornherein Pater Kentenich besonders im Blick.
Am 8. März werden im Priesterblock 26 die Spinde auf Stube 2 „gefilzt”. Rottenführer Schmid – den Priestern sehr wohlgesonnen – findet im Spind von Pater F.
schriftliches Material. Er vergewissert sich, dass der aufsichtführende Offizier ihn
nicht beobachtet und legt die Hefte wieder zurück; warnt aber die Umstehenden zur Vorsicht. Am 9. März kommt die SS zurück und veranstaltet eine Großrazzia. Alle anwesenden Häftlinge müssen auf der Blockgasse antreten mit Rücken zum eigenen Block. Als Kaplan D., derzeitig auf der Poststelle beschäftigt,
nach der Brotzeit zum Block zurückgeht, sieht er, wie Pater Kentenich mit Caritasdirektor Carls und Pater Johannes Lenz abgeführt wird. Es wird ihm auch gleich
bedeutet, „beim Kentenich” hätten sie einen ganzen Packen schriftlichen Materials mitgenommen. Voll Schreck eilt er zum Versteck…Gott sei Dank, es ist alles
noch da! Aber, auch in der extremen und belastenden Situation des Konzentrationslagers blieb Pater Kentenich väterlicher Erzieher. Jede Lebenslage sollte ausgenützt werden, um innerlich frei zu werden, immer mehr Gott zu gehören, vorbehaltloser für sein Reich zur Verfügung zu stehen. Nun riefen Hunger, Raumenge, Schikanen, Arbeitsfron und Lebensgefahr nicht nur den Heroismus im Menschen hervor, sondern brachten auch seine Schwächen, Leidenschaften, Verhaftungen an das Irdische besonders deutlich ans Tageslicht. Wer blieb schon davon
verschont, einmal „aus den Nähten zu platzen”, ungeläutert zu reagieren?
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Pater Kentenich griff deshalb auch in Dachau zu, um eine Seele zu läutern. Er
schonte seine Gefolgschaft nicht; heilig sollte sie werden.
Eine entsprechende „Operation” hatte Pater F. erhalten. Sie hatte weh getan, vor
allem, weil er sich in diesem Fall äußerst ungerecht behandelt fühlte. Die beiden
gingen sich deshalb eine ganze Zeit aus dem Wege und sprachen nicht miteinander.
Bei einem Zählappell – alle in Reihe und Glied, „stillgestanden”, schweigend
– kommt Pater Kentenich neben Pater F. zu stehen. „Ich habe ein Butterbrot” flüstert er ihm versöhnlich zu. Der Groll ist aber immer noch nicht verraucht, und so
kommt es zwischen den Zähnen zurück: „Unter den bestehenden Verhältnissen
kann ich das Geschenk nicht annehmen!” Pater Kentenich gibt aber nicht nach.
Am selben Tag bietet er dem Getroffenen – als weiteres Zeichen zur Versöhnung
– ein Stück geräucherten Aal an, im KZ eine außergewöhnliche Kostbarkeit. Pater F. will immer noch nicht. Da bittet ihn Pater Kentenich so bescheiden und
herzlich, dass der Groll schließlich doch dahinschmilzt und die Versöhnung wiederhergestellt ist.
Zu manchen Zeiten war die Beanspruchung und die Arbeitsleistung Pater Kentenichs gleich erstaunlich und ungeheuerlich. Es gab Zeiten in den dreißiger Jahren, in denen er zwei oder drei Kurse parallel hielt; sechs bis neun Vorträge täglich, alle stehend; dazwischen persönliche Gespräche bis tief in die Nacht hinein.
Zur Vorbereitung blieb oft kaum Zeit. Zum Schlafen auch nicht.
Was die Vorbereitung betraf, erzählte er später: „Wenn sich zu den Priesterexerzitien oder den pädagogischen Tagungen manchmal Professoren und Prälaten anmeldeten, habe ich schnell in der Bibliothek die Überschriften der Artikel in den
wissenschaftlichen Zeitschriften durchgesehen. Dazu habe ich dann Stellung genommen, und alle wunderten sich, wie sehr ich ‚auf der Höhe der Zeit‘ war.”
Was den Schlaf betrifft, so kam er oft tagelang zu kurz. Seine Augen konnten
dann rot anlaufen. ,Jetzt ist mir ein Äderchen im Auge geplatzt”, bemerkte er
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dazu. Und dann schlief er vierundzwanzig Stunden durch.
Es gab für Pater Kentenich einen Zwischenweg. Er beschrieb ihn so: „Wenn ich
sehr müde war, dann ist mitten im Vortrag mein Bewußtsein abgesunken bis an
den Rand des Schlafes hin, während ich weitergeredet habe. So habe ich mich
ein wenig ausgeruht, und dann tauchte das Bewußtsein wieder auf.”
Auf diesem Hintergrund ist folgende Bemerkung zu verstehen: Am 8. April 1945,
zwei Tage nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager, machten Pater Kentenich und Kaplan D. einen Besuch bei einem Mitbruder in Freising. Es war nach
dem Mittagessen. Der Pater lud die Besucher freundlich zum Sitzen ein. Man
sprach über die vergangenen Ereignisse und die Situation im allgemeinen.
Die beiden KZ-Häftlinge waren nicht in der besten körperlichen Verfassung.
Während deshalb Kaplan D. müde auf dem Sofa saß und mit dem Schlaf kämpfte, führte Pater Kentenich mit dem Gastgeber das Gespräch; ganz ruhig zwar,
aber doch so, dass die Unterhaltung kontinuierlich dahinplätscherte. Nachdem
sie sich nach kurzer Zeit verabschiedet hatten, bemerkte Pater Kentenich zu Kaplan D.: „So, jetzt habe ich ein bißchen ausgeschlafen.”
Nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau am 6. April 1945 hatte sich Pater
Kentenich über Ulm bis Ennabeuren auf der Schwäbischen Alb durchgeschlagen.
Der Krieg war noch im Gang. Die meisten Zugverbindungen waren zerschnitten,
viele Straßen zerbombt oder vom Militär besetzt. Autos gab es sowieso kaum
und Benzin schon gar nicht. Außerdem war das Reisen wegen der letzten Zuckungen des Krieges und der Willkür des Militärs in dieser rechtlosen Zeit ziemlich gefährlich. Der Gedanke lag nahe, auf der relativ sicheren Schwäbischen Alb bessere Zeiten abzuwarten und dann erst die Reise nach Schönstatt fortzusetzen. Warum sich neuer Gefahr aussetzen, nachdem man gerade dem Tode entronnen war?
Pater Kentenich dachte nicht so. Es zog ihn heim zu seiner Gründung.
In dieser Situation kam bei einer Fahrt mit dem Pfarrer des Ortes der Gedanke
auf, die Heimfahrt nach Schönstatt mit einem Pferdegespann und einer Kutsche
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zu versuchen. Pater Kentenich, der seine Kindheit in der Familie des Großvaters,
er besaß ein mit Pferden betriebenes Fuhrunternehmen -verbracht hatte, war
ganz begeistert von diesem Gedanken.
Kaplan D., der nicht an der Fahrt teilgenommen hatte, erfuhr von dem Plan nach
der Rückkehr in Ennabeuren. Er war das Tagesgespräch. Selbst am Abend schien
der Gedanke bei Pater Kentenich nicht zur Ruhe kommen zu wollen. Nachdem
man sich schon „gute Nacht” gewünscht und zurückgezogen hatte, klopft es vorsichtig an die Tür von Kaplan D. Es ist Pater Kentenich. Noch einmal wird durchbesprochen, was alles mitzunehmen sei, wie die Pferde gefüttert werden müßten,
dass vorher natürlich das Kutschieren etwas zu üben sei und wie lange es wohl
dauern könne, bis man in Schönstatt ankomme.
Schließlich geraten beide so in Begeisterung, dass die Phantasie zu spielen beginnt: Natürlich seien die Pferde schönstättisch zu erziehen und nur mit Idealpädagogik zu behandeln. Unter schallendem Gelächter endet die ganze Betrachtung mit der Feststellung Pater Kentenichs: „Ich sehe uns schon in Schönstatt
einziehen: Wir zwei ziehen, und die Pferde sitzen im Wagen!”
Ein Augenzeuge berichtet ein eigenes Erlebnis: „Es war 1945 in Ennabeuren. An
einem frühen Nachmittag im Mai kam ich in die Kirche. Das Gotteshaus war leer
bis auf einen einzigen Beter, der in der Mitte des Schiffes in einer Bank kniete. Es
war Pater Kentenich.
Ganz ruhig und gesammelt hielt er den Blick unverwandt zum Tabernakel gerichtet. Um ihn im Gebet nicht zu stören, er kniete ich mich hinten auf die letzte Bank. In seiner Andacht hatte er wohl kaum gemerkt, dass jemand hereingekommen war. In dieser Meinung wurde ich bestärkt, als plötzlich ein schweres
Unwetter heraufzog. Das helle, durch die bunten Kirchenfenster hereinstrahlende Sonnenlicht wurde durch dunkle Wolken rasch verdrängt. Sturm erhob sich
und fegte heulend um die auf einer kleinen Anhöhe frei dastehende Kirche. Türen und Fenster schlugen und rappelten. Wenn gesprochen worden wäre, hätte
man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen können. Mir wurde es ganz unheimlich bei diesem tollen Treiben. Herr Pater regte sich nicht. Er schaute weder nach
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rechts noch nach links zu den Fenstern auf, wie man das doch unwillkürlich tut,
wenn plötzlich ungewohnte Geräusche ans Ohr dringen. Ich war gepackt von der
tiefen Gebetssammlung, die von Herrn Pater ausging. Er war im wahrsten Sinne
. des Wortes im Gebet versunken. Herr Pater war einfach beim lieben Gott. Da
konnte ihn nichts, aber auch gar nichts stören. Als sich nach einer geraumen Zeit
das Wetter beruhigte, verließ ich die Kirche. Pater Kentenich verweilte noch längere Zeit im Gespräch mit dem lieben Gott.‘‘
Aus den vielen Gebeten und Betrachtungen, die Pater Kentenich während seiner
Gefängnis- und Dachauzeit in Versform geschrieben hatte, entstand bald nach
dem Zweiten Weltkrieg ein kleines Gebetbuch: „Himmelwärts”.
Teile daraus wurden bald vertont, zum Beispiel die Texte zur heiligen Messe. In
der Hauskapelle des damaligen Bundesheimes, dem jetzigen Pallottihaus, fand
die Erstaufführung der sogenannten „Werkzeugsmesse” statt. Wer in Schönstatt
war und abkommen konnte, war dazu geladen. Als die Orgel zu spielen begann,
setzten sich alle Teilnehmer wie bei einem Kirchenkonzert. Nur einer blieb unbeweglich knien: Pater Kentenich.
Nachher darauf angesprochen, warum er sich denn nicht gesetzt habe, erwiderte er: „Wie konnte ich sitzen beim Nachkosten der Erlebnisse in Dachau, wo unter
den schwersten Umständen die Werkzeugsmesse entstanden ist!”
Für die meisten Menschen verbinden sich tiefe Erlebnisse mit dem Ort, an dem
sie geschehen. Das Liebespaar kehrt gerne zu dem Bänkchen zurück, auf dem
sich die beiden ihre Liebe zum ersten Mal gestanden; ebenso der Verbrecher zum
Ort seiner Tat. So gab es Häftlinge aus den Konzentrationslagern, die nach Jahren der Befreiung seelisch bis auf den Grund aufgewühlt wurden, wenn sie den
Ort ihrer Qualen und Ängste wieder besuchten.
Jeder Häftling des Konzentrationslagers Dachau brachte viele qualvolle Stunden seines dortigen Lebens auf dem Appellplatz zu. Jeden Morgen und jeden
Abend war Zählappell. Nach Wohnblöcken aufgestellt, in strammer Haltung. Bis
die Zahl stimmte. Stimmte sie nicht, standen die Häftlinge stundenlang (einmal
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tagelang), frierend in der Kälte im Winter, unter der prallen Sonne im Sommer.
Der Appellplatz in Dachau war ein freier Platz, der auf der einen Längsseite an
die Wohnbaracken grenzte und auf der anderen vom langgestreckten, etwas Uförmigen Wirtschaftsgebäude eingefaßt war. Welchem Häftling sollte sich dieser Platz mit seiner Umgebung nicht tief und schreckhaft in die Erinnerung einprägen?
Pater Kentenich war sicher einer der ganz wenigen, denen es nicht so erging. Er
lebte in der Geborgenheit, von Gott geführt zu sein, aus der Bereitschaft, für sein
Werk stellvertretend zu leiden, und aus dem Drang, dafür zu kämpfen, zu arbeiten und notfalls zu sterben. Für ihn war die Lagerzeit eine „Hoch-Zeit”; eine Zeit
der Auseinandersetzung selbstverständlich, aber auch der Gnade. Der Ort in sich
wurde durch solch inneres Erleben wieder „neutralisiert”.
Der 25. Jahrestag der Gründung des Schönstätter Familienwerkes und der Marienbrüder wurde am 16. Juli 1967 im Konzentrationslager Dachau gefeiert. Pater
Kentenich – zum ersten Mal nach der Haft wieder in Dachau – hielt bei der Baracke, in der die beiden Gründungen stattgefunden hatten, eine lange Rede zu
über tausend Menschen. Bei sengender Hitze. Danach schritt er, von einer Gruppe begleitet, die Lagerstraße hinab auf den Appellplatz zu.
Dort angekommen, blickte er verwundert auf das Wirtschaftsgebäude (inzwischen Museum, aber in denselben Ausmaßen erhalten) und fragte seine Umgebung: „Was ist denn das?” Erst der Hinweis eines Begleiters, das sei doch das ehemalige Wirtschaftsgebäude des Lagers, brachte die Erinnerung wieder zurück.
Nachdem der Zweite Weltkrieg sein Ende gefunden und Pater Kentenich die langen, harten Jahre im Konzentrationslager Dachau überlebt hatte, machte er sich
sofort daran, seine unter der Verfolgung gewachsene, aber auch durch die Kriegsereignisse geschüttelte Schönstattfamilie neu zu sammeln.
Auf drei großen Weltreisen wollte er die internationalen Ansätze Schönstatts
kennenlernen, den Führungen und Fügungen Gottes in den verschiedenen Län36
dern nachgehen und zum weiteren Aufbau des Werkes in aller Welt beitragen.
Die erste dieser Weltreisen führte ihn 1947 nach Südamerika. Im Verlauf dieser
Reise kam er auch nach Uruguay.
Die Vorfreude und Spannung der Schwestern war entsprechend groß, den Gründer nach so vielen und ereignisreichen Jahren wiederzusehen oder ihm – auf seiten der einheimischen Schwestern – überhaupt erstmals zu begegnen. Eine der
Schwestern – nennen wir sie Schwester Maria, die mit der ersten Gruppe Mitte
der dreißiger Jahre ausgesandt worden war, inzwischen also schon über zehn Jahre in Uruguay arbeitete, war nun der festen Überzeugung, Pater Kentenich könne
sie nach so langer Zeit nicht mehr kennen. „Ich werde Herrn Pater auf spanisch
begrüßen”, meint sie zu den Mitschwestern, „denn er kennt mich doch nicht mehr
nach zehn Jahren”. Als sie ihn aber auf spanisch begrüßt, unterbricht Pater Kentenich sie lächelnd auf deutsch: „Schwester Maria …!”
Die Reise im Jahre 1947 führte auch nach Argentinien. In Valentin-Alsina, wo
die Marienschwestern die Deutsche Gemeinde betreuen, will die Gemeinde Pater Kentenich einen feierlichen Empfang bereiten. Er findet im Haus der Schwestern statt. In unmittelbarer Nähe führt ein Deutscher einen Stehausschank. Während der Vorbereitungen für den Empfang überlegen die Männer, ob sie an jenem Abend Pater Kentenich nicht dazu bewegen könnten, mit ihnen ein Stehbier
zu trinken. Die Schwestern erfahren von dem Plan. Nein, meinen sie, das wird der
Herr Pater wohl nie tun! Und sie schließen mit den Männern eine Wette ab.
Der Abend kommt; der Empfang läuft. Nach einiger Zeit beobachten die Schwestern, wie jene Gruppe von Männern Pater Kentenich etwas abseits führt. Und
zu ihrem großen Erstaunen müssen sie mit ansehen, wie er mit den Männern davonzieht in Richtung Stehausschank. Dort trinkt er mit ihnen ein Bier. Die Wette war verloren.
Die Arbeitskapazität Pater Kentenichs überstieg gewöhnliche Dimensionen bei
weitem. Nicht nur, dass er sein ganzes Leben lang nie Urlaub gemacht hat – sieht
man einmal ab von der vierwöchigen Dunkelhaft in Koblenz, der KZ-Zeit in Dachau oder der Exilszeit in Milwaukee, die er selbst gerne als „Urlaub” bezeichnete,
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– er konnte zwei, drei, ja manchmal vier Exerzitienkurse und Schulungen parallel geben. Die Betreuung von einzelnen und seine Korrespondenz liefen immer
nebenher. Jede Minute des Tages war mit Arbeit und Gebet ausgefüllt. Drängte eine Arbeit sehr, konnte er ohne Schwierigkeit auch eine Nacht durcharbeiten.
Geschlafen hat er selbst zu „normalen” Zeiten nie sehr viel – vier bis sechs Stunden meist.
Von anderen verlangte Pater Kentenich weder seinen Arbeitsrhythmus noch sein
Arbeitspensum. Im Gegenteil, er achtete sehr darauf, dass seine Mitarbeiter ihre
natürlichen Kräfte beobachteten und sich weise beschränkten. War eine Sache
jedoch einmal außergewöhnlich wichtig und dringend, dann konnte er schon einmal die Leistungskraft eines Mitarbeiters überschätzen.
Ende 1962 erschien in der DDR das Buch „Das Katholische Apostolat” von Hubert Mohr, eine Untersuchung Schönstatts aus kommunistischer Sicht mit der
Tendenz, die Gefährlichkeit des Werkes als Instrument des Kapitalismus aufzuzeigen Pater Kentenich wurde eine Ausgabe dieses Buches an einem Dezembertag
desselben Jahres gebracht. Er behielt das Buch am Vormittag, am Abend hatte er
es gelesen und hielt Interessenten einen Vortrag darüber. Das Buch müsse gelesen werden, meinte er. Zwar liege der Verfasser völlig schief mit seiner politischen
Interpretation Schönstatts. Seine Pädagogik habe er aber sehr gut begriffen.
Pater Kentenich war von dem Buch so angeregt, dass er eine Erwiderung darauf
in eine Studie einarbeiten wollte, an der er gerade schrieb. Er fragte einen Mitarbeiter, ob er nicht diese Erwiderung, einen „Anti-Mohr”, schreiben wolle. Jener,
recht überrascht durch die Anfrage, wußte nicht gleich, ob er sich das zutrauen
sollte, zögerte und erbat sich – von Pater Kentenich immer weiter ermuntert – etwas Bedenkzeit.
Kaum war er zu Hause, klingelte das Telefon. Pater Kentenich wollte wissen, ob er
es sich nun überlegt habe und die Erwiderung schreibe. Nach dem Motto „Halb
zog es ihn, halb sank er hin”, gab der Befragte vorläufig nach: Er wolle sich Gedanken machen.
Diese Zusage wurde am Nachmittag gegeben. Am nächsten Morgen telefonierte
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Pater Kentenich wieder: „Haben Sie die Erwiderung schon geschrieben?” – „Aber
Herr Pater”, wehrte sich der Angesprochene, „ich muß mir die Sache zuerst überlegen und ein Konzept machen. So schnell kann ich nicht!”
Am Nachmittag klingelte bereits wieder das Telefon: „Haben Sie das Konzept?
Wie lang wird der Artikel?” Der Arme erklärte, er wisse noch nicht einmal, wie
ausführlich Pater Kentenich sich die Antwort denke. „Das macht nichts”, meinte
Pater Kentenich, „sagen Sie mir die Seitenzahl, damit ich sie in meiner Studie aussparen und dann weiterschreiben kann. Zehn oder fünfzehn?” – „Vielleicht fünfzehn”, dachte der Mitarbeiter laut in einem geistigen Salto mortale. Natürlich
fing er jetzt intensiv an zu arbeiten. Bis zum nächsten Tag hatte er drei Tippseiten beisammen und schickte sie Pater Kentenich, um zu hören, ob er sich die Sache wohl so gedacht habe. Nach wenigen Stunden ist jener schon wieder am Telefon. Die Fragen, ob der Ansatz, die Darstellung usw. richtig sei, schneidet er alle
ab: „Die Sekretärin hat die drei Seiten schon getippt. Wann kommen die nächsten?”
Im Prinzip bejahte Pater Kentenich alles Gute und Schöne, sei es in der Natur
gefunden oder von Menschen geschaffen. Er konnte zur Beschäftigung mit der
Kunst ermutigen, technische Fähigkeiten bewundern, jeglichen Wissensdurst unterstützen. Was aber ihn selbst betraf, so war sein irdisches Interesse einseitig auf
Menschen ausgerichtet. Wie sie waren, faszinierte ihn, an ihren Originalitäten
und Eigenheiten freute er sich. Was sie beschäftigte, beschäftigte auch ihn.
Die Sachwelt?
Er sah und erkannte sie mehr metaphysisch, im Prinzip, weniger in der konkreten
Gestalt. Im Jahre 1947 kam Pater Kentenich zum ersten Mal nach Rom. Einer seiner Mitarbeiter von der Zentrale in Schönstatt, der in Rom studiert hatte, freute sich, dem Gründer und geistlichen Vater die Ewige Stadt zeigen zu können. Er
hatte sich vorbereitet und ein genaues Programm zurechtgelegt.
Ein Wagen mit Chauffeur stand zur Verfügung. Die Besichtigung sollte drei Tage
dauern. Sie verlief ganz anders als geplant! Und zwar betrachtete Pater Kentenich noch recht interessiert die Mosaiken an der Decke von Maria Maggiore.
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Schon viel kürzer fiel der Besuch in St. Peter aus: Ein Blick zur Kuppel, ein Besuch
beim Petrusgrab... weiter. St. Paul vor den Mauern war nach kurzem Blick besehen. Von anderen Orten wollen wir schweigen.
Das Eigeninteresse Pater Kentenichs brach vor der Engelsburg durch. Der „Führer” hob an: „Tomba Adriana (Das Grabmal, von Kaiser Hadrian erbaut), Engelsburg genannt, weil…” – „Du, guck mal”, unterbrach ihn Pater Kentenich „siehst du
diese Schwestern dort?. . .” Es handelte sich um Schwestern in der damals noch
üblichen sehr abgeschlossenen und reichlichen Kleidung. Sie wurden Anlaß für
eine Betrachtung Pater Kentenichs über das religiöse Kleid und seine zeitgemäße Anpassung. Und damit war es um die Besichtigung der Engelsburg geschehen.
Und am Abend des ersten Tages war die Besichtigung der ganzen Stadt abgeschlossen.
Keineswegs besser erging es Pater Kentenichs Umgebung in Südafrika während
seines ersten Besuches zum Jahresbeginn 1948. Seine intensive Arbeitsweise
und Reisetätigkeit dort ließ nach einiger Zeit um seine Gesundheit fürchten.
Der damalige Pallottinerbischof Hennemann von Kapstadt, der sich sehr um Pater Kentenich und seine Gründung in Südafrika sorgte, versuchte, Abhilfe zu
schaffen. Eines Tages schickte er einfach seinen Sekretär mit dem Auto und ließ
zu einer Fahrt zum „Signal Hill”, dem berühmten und für die Seefahrt wichtigen
Hügel am Rande Kapstadts einladen. Zwei Schwestern sollten mitfahren. Pater
Kentenich kommentierte: „Wenn der Bischof das wünscht, muß ich das annehmen.” Und beim Einsteigen in den Wagen meinte er scherzend zum Fahrer: „Ich
bin immer bereit, Opfer zu bringen.”
Die Unterhaltung im Wagen während der Fahrt hatte nichts mit der Landschaft
zu tun. Es ging um „Schönstatt in Südafrika”!
An einer schönen Aussichtsstelle hielt der Fahrer, ließ aussteigen und begann
die Schönheit der Natur zu erklären. Der Blick fiel auf die beiden Ozeane, Tafel40
berg, „Devils Peak” (Teufelsspitze), die Stadt zu Füßen. Pater Kentenich stand für
ein paar Augenblicke still. Dann umfing er mit einer weiten Geste das ganze Naturschauspiel und sagte: „Majestas Domini! …Alles Licht und Luft und Wasser!”
Und zu den Schwestern gewandt: „Kommen Sie. Wir steigen ein. Ich bin gekommen, das Liebesbündnis mit der Gottesmutter zu künden.”
Schon bei der Ankunft in Johannesburg hatte sich diese „organische Einseitigkeit” Pater Kentenichs offenbart. Am Flugplatz standen drei Schwestern und ein
französischer Oblatenpater mit seinem Wagen, um den sehnlichst erwarteten Besuch zu empfangen und ihn in die Stadt zu fahren.
Unterwegs sollte er gleich etwas von den Besonderheiten des Landes aufnehmen. Der Oblatenpater machte auf die riesigen Goldminen aufmerksam, an denen sie vorbeifuhren und gab Erklärungen zu den Anlagen der Bergwerke. Die
drei Marienschwestern auf dem hinteren Sitz des Wagens halfen mit der Verständigung. Mitten in der Verständigung dreht sich Pater Kentenich nach ihnen um
und kommentiert lachend: „Goldminen! Meine Goldminen sitzen hier hinten.”
Autofahrer haben ihre eigene Sprache; meist kräftiger, als es der gewöhnliche
Umgangston zuläßt. Man darf nicht alles, was sie sagen, auf die Goldwaage legen. Manche ihrer Ausdrücke entstehen aus der inneren Anspannung eines hektischen Straßenverkehrs.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war das fast ausschließliche Verkehrsmittel Pater
Kentenichs die Eisenbahn. Das Auto als reguläres Verkehrsmittel lernte er wohl
erst in den Vereinigten Staaten in den fünfziger Jahren kennen; ohne die deutsche Autosprache also. Erst nach seiner Rückkehr aus den USA im Jahre 1965
wurde Pater Kentenich bei Besuchen innerhalb Deutschlands mit dem Wagen gefahren. Der Fahrer – oder die Fahrerin – war sich dabei der „kostbaren Fracht” und
damit auch der besonderen Verantwortung wohl bewußt; eine Tatsache, die das
Fahren nicht leichter machte.
Es war 1966 auf einer Fahrt von Borken nach Münster. Die Landstraßen sind auf
dieser Strecke stellenweise eng und, weil von Bäumen eingesäumt, nur begrenzt
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überschaubar. In einer solchen Straßensituation einen „dicken Brummer” zu überholen, ist meist ein etwas aufregender Vorgang. Die Bäume haben es dann plötzlich sehr eilig und kommen auch noch ganz nahe an einen heran. Bei einem solchen Überholvorgang entfährt der Fahrerin plötzlich: „Dieser dicke Heini!”
Pater Kentenich scheint den Anruf nicht zu bemerken. Er setzt sein Gespräch mit
der übrigen Reisebegleitung in gleichbleibender Ruhe fort.
Nach einer ganzen Weile ergibt sich dieselbe Überholsituation. Als nun aber der
Personenwagen sich von hinten an den Lastwagen heranschiebt, unterbricht Pater Kentenich sein ernstes Gespräch, wendet sich der Fahrerin zu und fragt: „Wie
hieß der noch?”
Es war in der Pfingstwoche des Jahres 1950. Der erste Bundeskurs der Familien
tagte im Exerzitienhaus in Schönstatt. Er bereitete sich auf die erste Bundesweihe und damit auf die Gründung des Familienbundes vor, die am Dreifaltigkeitsfest im Urheiligtum getätigt werden sollte.
Pater Kentenich hatte dem Leiter der Tagung zugesagt, jeden Tag zwei Vorträge
zu halten und auch die Bundesweihe entgegenzunehmen.
An einem dieser Tage nun kommt der Leiter aus seinem Zimmer heraus und sieht
Pater Kentenich an einem der Fenster des Ganges in der Klausur. Er steht da mit
verschränkten Armen und sieht sich das Leben und Treiben der Familien im Innenhof des Exerzitienhauses an. Es ist gerade Pause. Die Familien stehen dort in
Gruppen beieinander, plaudern und lachen. Da und dort spielen Väter oder Mütter mit den Kindern.
Der Leiter tritt an Pater Kentenich heran, der sich das alles ganz versonnen anschaut. Nach einer Weile sagt er: „Du hast doch die schönste Arbeit von uns allen.”
Diese Überzeugung, die Arbeit mit Familien sei doch die schönste, schien auch
im Verhalten Pater Kentenichs durch …, sobald sich die Gelegenheit bot.
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Im März 1968, dem letzten Lebensjahr des inzwischen Zwei-und-achtzig-jährigen, gelang einem jungen Ehemann aus dem Schönstätter Familienwerk der
telefonische „Durchstoß” zu dem ständig belagerten und deshalb auch „abgeschirmten” Gründer. Er bat um eine Einladung und erhielt sie zu einer Mahlzeit
bei nächster Gelegenheit.
Wegen der Überbelastung Pater Kentenichs hatte die Frau vor dem Versuch ihres Mannes Bedenken angemeldet gegen dessen Bemühen um eine Einladung.
Nun, nachdem die Einladung da war, wollte sie auch mit; verständlich. Auch Maria, die älteste Tochter, die gerade ihren zweiten Geburtstag erwartete, wurde
mitgenommen.
Bei der Begrüßung im Sprechzimmer des Schulungsheimes auf Berg Schönstatt,
in dem Pater Kentenich wohnte, drängte es die Frau, sich bei ihm gleich für die
„Selbsteinladung” zu entschuldigen. Es sei dies wohl etwas „frech” von ihrem
Mann gewesen, meint sie. Pater Kentenich entgegnet mit einem Augenzwinkern
zum Mann hin, das sei schon recht so „Das Bravsein überlassen wir den Frauen.”
Nun muß Maria begrüßt werden; auf ihre Art natürlich so, dass sie die Scheu verliert. Der Einladung, an dem weißen Bart zu zupfen, getraut sie sich nicht zu folgen. Als aber der Papa sie auf die Fensterbank stellt und Pater Kentenich mit ihr
„Kuckuck” spielt, indem er immer wieder die Gardine vor- und zurückzieht, verschwindet die Hemmung.
Eine Schwester betreut Maria während des Gesprächs, damit die Eltern sich ungestört bei Pater Kentenich beraten können.
Danach trifft man sich wieder im Sprechzimmer. Pater Kentenich erwidert das
Geschenk der Eltern, indem er ihnen eine Flasche „Zeller Schwarze Katz” Pater Kentenich summt sofort mit. Dann meint er: „Ich habe auch dir was mitgebracht.” Von der Tür her wirft er ihr einen Rosenkranz und dann das Symbol eines Vaterauges zu. Maria fängt – auf der Couch sitzend – mit Begeisterung auf.
Sofort kommt es von den Eltern: „Wie sagst du denn nun?” Statt des erwarteten
„Danke” kommt aber – zum Schrecken der Eltern – aus dem Mund der Kleinen:
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„Noch!” Pater Kentenich lacht schallend. Er verschwindet sofort in seiner Wohnung und kommt mit drei weiteren Rosenkränzen und Vatersymbolen zurück, die
er dem jauchzenden Kind einzeln zuwirft.
(Inzwischen hat die Familie vier Kinder. Am Erstkommuniontag reicht es also jedem Kind zu einem Rosenkranz und Vatersymbol als Geschenk vom Gründer.)
Das Telefon war für Pater Kentenich ein ganz bevorzugtes Mittel seiner priesterlich-väterlichen Tätigkeit. Nicht nur konnte er dadurch Arbeit schnell erledigen
und lebendigen Kontakt halten mit den Vielen, die auf Rat warteten und von einem ermutigenden Wort von ihm abhingen. Auch konnte er – vor allem bei dem
riesigen Andrang während der letzten Jahre seines Lebens – am leichtesten und
schnellsten per Telefon erreicht werden. Und viele, besonders seine Mitarbeiter,
nützten in dieser Weise das Telefon aus.
Eines Morgens nahm Pater Kentenich sein Telefon nicht ab Zuerst war das nicht
verwunderlich, weil es je nach Tätigkeit für kurze Zeit schon mal so geschehen
konnte. Als aber den ganzen Vormittag über das Telefon vergeblich geklingelt
hatte und eine Rundfrage bei mehreren Mitarbeitern ergab, dass niemand wußte, wo er sich aufhielt oder was wohl der Grund des Schweigens sei, wuchs in seiner Umgebung die Unruhe. Ob er wohl krank oder ihm irgend etwas zugestoßen
war?
Am späten Nachmittag wurde der x-te Versuch belohnt Ganz ruhig meldete sich
Pater Kentenich am Telefon: „Bitte?” Natürlich entlädt sich zuerst die Sorge und
Unruhe wegen des langen Schweigens, in die Frage mündend, warum er sich
denn den ganzen Tag nicht gemeldet habe. Zuerst weicht Pater Kentenich der
Frage mit einigen Scherzen aus, läßt im Gespräch aber dann doch durchblicken:
Heute sei ja ein Festtag der Gottesmutter. Darum sei er heute nicht für die Vielen, sondern allein für SIE dagewesen.
Unter den erzieherischen Händen Pater Kentenichs entstand eine Welt von Symbolen, Bräuchen und Liedern; bevorzugte Mittel, um die tieferen Schichten der
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menschlichen Seele in Liebe an Gott und die Mitmenschen zu binden. Er selbst
schien aber von diesen Dingen eher unberührt zu sein. Im Vordergrund seiner
Seele stand – so schien es – die Bindung an die großen Ziele und Ideale seiner
Sendung und die Verpflichtung der Wahrheit gegenüber. Ob Symbole – die er
meist weiterschenkte – und Lieder auch für ihn wichtig und sprechend waren?
An einem 4. Oktober, dem Todestag Josef Englings, des treuesten Mitgründers
aus der Anfangszeit, war Pater Kentenich eingeladen, die besondere Weihe eines
Kurses mitzuvollziehen. Nur der Kursführer war bei ihm. Die anderen Mitglieder
des Kurses waren zerstreut; jeder vollzog die Weihe zur vorher vereinbarten Zeit,
wo immer er sich gerade aufhielt.
Pater Kentenich fand sich mit dem Kursführer zur geplanten Zeit im Heiligtum
ein. Der Kursführer gestaltete eine kleine Andacht. Höhepunkt war das Weihegebet, das sie gemeinsam beteten. Dann war – in der Intention des Kursführers
– die Feier zu Ende. Nun begann Pater Kentenich zu singen; zwei Lieder, die in
Dachau entstanden waren: Das sogenannte „Heimatlied” mit sechs langen Strophen und „Halt das Zepter in der Hand …” mit deren acht. Kräftig und mit Begeisterung sang er – zur Überraschung des Kursführers, der dann wohl mitsangt
– alle Strophen beider Lieder.
Das Kindsein vor Gott spielt eine große Rolle in Pater Kentenichs Spiritualität
und Erziehung. Es ist Fundament des Weges zur Heiligkeit, ja – nach den Worten
Christi (Mt 18,3) – Bedingung, um überhaupt in den Himmel zu kommen. Gerade hier liegt ein Problem beim modernen Menschen, der Abhängigkeit als Beraubung seiner Freiheit empfindet, der autonom, sein eigener Herr und selbst Herr
der Dinge sein möchte. Durch eine solche Haltung wird Gott verdrängt, „getötet”, wie Nietzsche sagte. Pestalozzi zitierend, betonte deshalb Pater Kentenich
immer wieder, dass gerade der verlorene Kindessinn heute die Vatertätigkeit Gottes unmöglich mache. Der heutige Mensch müsse zurückfinden zu einer echten
Kindeshaltung dem Vatergott gegenüber.
Es war um die Zeit des Erntedankfestes. Eine ihm bekannte Familie hatte Pater
Kentenich bei einem Besuch am Nachmittag ein Paket gebracht mit „Produkten
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aus dem eigenen Garten”, wie sie beim Abschied erklärte. Das Paket blieb den
Nachmittag über liegen. Als aber am Abend mehrere Besucher zusammenkamen,
erwachte Pater Kentenichs Gebefreudigkeit. Er erinnerte sich des Paketes. Ganz
ruhig, wenn auch unter angeregter Unterhaltung, wurde das Paket von ihm geöffnet. Es enthielt große, wunderschöne Trauben. Pater Kentenich zerlegte die
Trauben in so viele Teile, wie Menschen im Zimmer waren. Als er bemerkte, dass
es ihm nicht gelungen war, alle Teile gleich groß zu machen, versprach er: „Das
größte Kind bekommt die größte Traube.” Während die Gäste sich gegenseitig
neckten, wer unter ihnen wohl das größte Kind sei, teilte Pater Kentenich aus.
Die größte Traube blieb übrig. Er aß sie selbst.
Diesen Heiligen kennt wohl nur, wer aus der Gegend von Köln stammt. Der
Name ist nämlich eine „kölsche” Ableitung des Wortes „Loch”. Und der Heilige
entstand – so erzählt eine lustige Geschichte – auf einer Bittprozession, als der
Wind dem Vorbeter während der Allerheiligen-Litanei das Gebetbuch verblätterte. Der Mann, der so schnell die Litanei nicht wiederfinden konnte und eine unheilige Stockung der Prozession befürchtete, fuhr seinen Anrufungen nach kurzem Zögern einfach fort: „Heiliger St. Löchske” – „bitte für uns”, antwortete das
Volk, in seiner Andacht ungestört. Pater Kentenich, in Gymnich bei Köln geboren
und aufgewachsen, kannte diesen Heiligen offensichtlich, wie sich bei folgender
Begebenheit zeigen sollte.
Während eines Gesprächs mit einem Besuch läutete das Glöckchen vom nahen
Heiligtum zum Angelus. Pater Kentenich schlug vor, den Angelus gemeinsam zu
beten und forderte seinen Besucher auf, vorzubeten. „Lieber nicht, Herr Pater”,
meinte jener, „ich bleibe beim Gebet am Schluß ja doch stecken.”-„Probieren wir
es”, meinte Pater Kentenich. „Wenn Sie steckenbleiben, helfe ich.” Die drei Ave
mit den Anrufungen verliefen andächtig und ohne Schwierigkeit. Es folgte das
Schlußgebet: „Wir bitten dich, o Herr, gieße deine Gnade in unsere Herzen ein,
damit wir, die wir…” und – vielleicht gerade deshalb, weil er es befürchtete: der
Vorbeter wußte nicht mehr weiter. Pater Kentenich sprang zu Hilfe: „ …die wir
durch die Botschaft des Engels die Menschwerdung Christi, deines Sohnes, erkannt haben …” und auch er blieb stecken. Allerdings nicht lange. Denn lachend
beendete er den Angelus mit der Anrufung: „Heiliger St. Löchske, bitte für uns!
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Nos cum prole pia!”
Dass Pater Kentenich wenig Kälteempfinden besaß, bedeutet nicht, dass er auch
schmerzunempfindlich war. Wenn er trotzdem große Schmerzen nahezu gelassen
ertragen konnte, war dies Ausdruck seiner männlichen Disziplin und seiner Leidensliebe in der Nachfolge Christi.
Es ist bekannt, dass Pater Kentenich sich freiwillig entschloß, ins Konzentrationslager zu gehen. Die seelischen und körperlichen Belastungen, denen er in Dachau
ausgesetzt war, sind durch vorausgehende Erzählungen angedeutet und anderweitig dokumentiert. Die hier zu berichtende Begebenheit ereignete sich, nachdem der Schrecken des Konzentrationslagers eigentlich vorbei war.
Pater Kentenich hatte sich von Dachau nach Ennabeuren auf der Schwäbischen
Alb durchgeschlagen. Während eines Besuches im benachbarten, zerschossenen
Westerheim stießen Pater M. und dessen Bruder auf ihn, die mit einem Auto ausgezogen waren, den Gründer nach Schönstatt heimzuholen. Das freudige Wiedersehen wurde schon zur Einstimmung auf die siegreiche Heimkehr nach Schönstatt und drängte um so mehr zur baldigen Abreise.
Die Rückfahrt begann auch gleich am nächsten Tag. Die Fahrgäste hatten sich
verabschiedet und saßen bereits im Auto. Der Fahrer hatte gewartet, bis Pater
Kentenich eingestiegen war, und schlug mit Schwung die Türe zu. Diese aber
schloß nicht, sondern gab lediglich einen dumpfen Ton von sich. Pater Kentenichs
Daumen hatte im Türrahmen gesteckt. Der Fahrer riß die Tür wieder auf, und die
Umstehenden erschraken nicht wenig, als sie den Finger sahen, der bereits rotblau anlief und begann, dick anzuschwellen.
Bestimmt und nachdrücklich lehnte Pater Kentenich jede medizinische Behandlung seines Fingers ab und drängte abzufahren. In den nächsten Stunden bis
Stuttgart saß er „nur” ganz ruhig da und hielt seinen geschwollenen Daumen
senkrecht nach oben. Erst in Stuttgart ließ er ihn behandeln und verbinden.
Antoine de Saint-Exupery läßt den Fuchs in dem Roman „Der kleine Prinz” erklären, wie man ihn zähmen, mit ihm Freundschaft schließen kann: Der „Kleine
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Prinz” solle täglich zur selben Stunde kommen und sich jedesmal ein wenig näher
zu ihm setzen. Diese Regel hat sich in der folgenden Begebenheit bestätigt.
Zum regelmäßigen Lebensrhythmus Pater Kentenichs in Milwaukee gehörte der
tägliche Spaziergang; wenn möglich zur selben Zeit, allein oder mit Begleitung.
Gewöhnlich spazierte Pater Kentenich in dem schön angelegten und ganz von
hohen Bäumen überschatteten „Calvary cemetery”, dem Friedhof, der auf der anderen Straßenseite der Bluemound Road lag, seiner Wohnung genau gegenüber.
Dennoch konnte es ab und zu geschehen, dass er die Route seines Spaziergangs
änderte. So geschah es im Februar des Jahres 1962. Der Spaziergang verlief auf
dem freien Gelände vor dem Heiligtum zwischen Bluemound Road und Wisconsin Avenue. Zur Zeit des Spaziergangs kamen durch das Gelände mehrere Kinder
– in Gruppen und allein – auf ihrem Schulweg. Mit der typischen Kurzform des
amerikanischen Grußes: „Hi, Father” huschten sie vorbei. Mit einem länger gezogenen „hi” antwortete jedesmal der Ehrfurcht gebietende Priester mit dem langen, weißen Bart.
Zur selben Zeit tauchte auch immer ein kleines Mädchen auf in rotem Mäntelchen, mit roter Mütze, großen Augen und schmalem Gesicht. Als es zum ersten
Mal die würdige Gestalt des Paters langsam auf sich zukommen sah, stutzte es,
verließ den Weg und machte über den Rasen einen großen Bogen um die Spaziergänger. „Die Kleine hat Angst”, meinte Pater Kentenich zu seinem Begleiter, setzte jedoch ruhig seinen Weg fort. Am nächsten Tag ergab sich dieselbe Konstellation, mit dem Unterschied, dass das Mädchen ohne Zögern anfing, ihren Bogen
zu schlagen. Bevor sie aber aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, winkte
Pater Kentenich ihr zu, rief „hi”, ließ sie dann aber ihres Weges gehen.
Die Szene wiederholte sich am nächsten Tag, allerdings wiederum mit einem Unterschied: der Bogen des Mädchens war deutlich kleiner geworden; und am Tag
darauf sogar noch kleiner. „Morgen wird sie mir die Hand geben”, kommentierte
Pater Kentenich die langsame Annäherung. Als das Mädchen tags darauf wieder in Sichtweite kam, blieb er stehen und ließ sie herankommen. „Hi”, grüßte er
und streckte ihr seine Hände entgegen zum Gruß. Die Kleine blieb stehen, schaute den Pater groß an, nahm jedoch die dargebotene Hand nicht. Die Frage nach
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ihrem Namen beantwortete sie, dann huschte sie vorbei.
Bei der nächsten Begrüßung endlich ging sie ohne Zögern auf Pater Kentenich
zu, grüßte „hi” und nahm seine Hand. Eine Freundschaft war geschlossen.
Jedes Kind in den Vereinigten Staaten kennt „Santa Claus”, den Weihnachtsmann. Mit seinem von Rentieren gezogenen Schlitten fährt er durch die Wolken
und bringt den Kindern an Weihnachten die Geschenke durch den Schornstein.
Die Kinder kennen „Santa Claus” aber nicht nur aus der Legenden -und der Weihnachtsreklame. In den großen Warenhäusernsitzt er in den Wochen vor dem Fest
auch in wirklicher Gestalt mit großem, schneeweißem Bart und lädt die Kinder
ein, ihm ihre Weihnachtswünsche zu erzählen.
Anfang der sechziger Jahre trugen die Männer in den USA noch keine Bärte, von
weißen Bärten ganz zu schweigen. „Santa Claus” war deshalb der einzige mit einem Bart, den die Kinder kannten.
Es geschah an einem Nachmittag im Maimonat. Pater Kentenich geht mit einem
Besucher – beide in ein Gespräch vertieft – im Schulhof der Pfarrschule von Holy
Cross auf und ab. Ein Mädchen mit ihrem kleinen Bruder an der Hand; überquert
den Hof. Der Kleine sieht den Priester mit dem weißen Bart, bleibt stehen, zeigt
mit dem Finger auf Pater Kentenich und ruft vernehmlich: „Hoho!” (der Ruf, mit
dem „Santa Claus” erscheint). Schnell drückt die ältere Schwester den Zeigearm
des Kleinen herunter und will ihn weiterziehen.
Der Vorfall ist ihr sichtlich peinlich. Pater Kentenich aber hat den Vorgang bereits
bemerkt. Er bleibt stehen, winkt die beiden herbei und fragt den Kleinen, mit
wachsender Freude an der Geschichte, ob er denn probieren wolle, ob der Bart
echt sei. Unsicher und fragend blickt der Junge abwechselnd auf seine Schwester, die ein verneinendes Gesicht macht, und auf den bärtigen Mann, der einladend lächelt. Schließlich beugt sich Pater Kentenich zu dem Kleinen herab. Der
greift in den Bart und zieht. „Echt”, fragt Pater Kentenich? „Echt!”, bestätigt der
Kleine. „Good bye.”
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Recht zufrieden vom Schmunzeln Pater Kentenichs begleitet – gehen beide ihres Weges.
Durch den Einsatz einiger Frauen hatten sich im Laufe der Jahre in Milwaukee einige Jugendgruppen – anfangs eher Kindergruppen – gebildet. Die Gruppen kamen zum Heiligtum, lernten Pater Kentenich kennen und hatten bald ein recht
vertrautes und spontanes Verhältnis zu ihm gewonnen. Besonders lebendig war
eine Gruppe von Buben im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren, die sich den Namen „Immortal Apostles” (unsterbliche Apostel) zugelegt hatten.
An einem Samstagnachmittag hatte sich Pater Kentenich auf einem Spaziergang
im Friedhof verspätet. Es war höchste Zeit, in die Pfarrei St. Michael zu fahren,
um Beichte zu hören. Die Seelsorgshelferin sitzt schon im fahrbereiten Wagen,
als Pater Kentenich die Bluemound Road überquert.
In diesem Augenblick kommen die „Immortal Apostles” angebraust, umringen
und bestürmen Pater Kentenich, mit ihnen einen Besuch im Heiligtum zu machen. Das Dilemma steht Pater Kentenich im Gesicht geschrieben: Er ginge ja
sehr gerne mit, doch wartet in St. Michael der Beichtstuhl auf ihn. Nach kurzem
Zögern erhellen sich aber seine Gesichtszüge, und er erklärt den Buben: An sich
müsse er jetzt ja eilig weggehen und habe keine Zeit. Er wolle aber mit ihnen gemeinsam sehen, was denn die Gottesmutter wolle. Sie würden es an den Knöpfen
seines Mantels abzählen, ob er mit ihnen gehen solle oder nicht. Erster Knopf:
„Yes” – beantwortet von einem Freudengeschrei der Buben. Zweiter Knopf: „No”
– gespannte Erwartung. Dritter Knopf: „Yes” – Jubel bei den Buben. Vierter und
letzter Knopf: „No” …Pater Kentenich hebt bedauernd die Schultern, lächelt,
winkt und besteigt den Wagen.
Die Buben ziehen allein zum Heiligtum, in keiner Weise betrübt. Sie hatten keine
Abfuhr erhalten, nur ein faires Spiel verloren.
Die Gruppe der „Immortal Apostles” hatte sich auf ein Weihe an die Gottesmutter vorbereitet, die sich im Heiligtum bei Holy Cross vollziehen sollte. Pater Kentenich war von den Buben selbstverständlich dazu eingeladen.
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Am Schluß der Feier, nachdem das Weihegebet gesprochen war, ging er nach vorne, drehte sich herum und versuchte ein Gespräch mit den strahlenden Jungen:
„Wer ist denn de Größte in Schönstatt?” (Pater Kentenich zielte mit diese Frage
auf Josef Engling, den im ersten Weltkrieg gefallene Mitgründer der Anfangszeit.
Ihn hatte, so wußte er, die Führerin der Gruppe in der Vorbereitungszeit den Buben als großes Vorbild aufgezeigt.)
Die „Immortal Apostles” aber schweigen. Er wiederholt die Frage: „Wer ist das
größte Vorbild in Schönstatt?” – Verlegenes Schweigen der Jungen. Auch die
zweite Wiederholung der Frage erbringt keine Antwort. Die Jungen blikken hilflos auf die enttäuscht dabeistehende Führerin.
Schließlich gibt Pater Kentenich auf, überreicht jedem ein kleines Geschenk, erteilt den Schlußsegen und beendet die Feier.
„Warum habt ihr denn nicht geantwortet?”, lautet die vorwurfsvolle Frage der
Führerin, sobald sie draußen unter sich sind. „Ihr wißt doch die Antwort!” –
„Aber”, wehren sich die Buben einhellig, „wir können doch Pater Kentenich nicht
ins Angesicht sagen, dass er der Größte ist.”
Jener erfährt natürlich das originelle Geständnis der Buben. Er lacht herzlich
und meint verschmitzt zur Führerin: „Ja, ja, Ihre Gefolgschaft ist halt schlauer als
Sie.”
Das Verhältnis Pater Kentenichs zur Sprache war originär und originell. Originär insofern, als er von der ursprünglichen Bedeutung der Worte ausging und
sie auch – manchmal entgegen dem inzwischen gewandelten Sprachempfinden
– entsprechend gebrauchte. So empfand es einmal ein Mitbruder direkt beleidigend, als er von Pater Kentenich ganz freundlich gebeten wurde: „Wollen Sie, bitte, gefälligst lesen?” – Bis ihm aufging, dass das „gefälligst” nicht Herrisches enthielt, sondern schlicht um den Gefallen bat vorzulesen. Originär auch, da er wegen desselben ursprünglichen Verhältnisses zur Sprache an Worten festhielt, die
inzwischen „aus der Mode” gekommen waren. Die alter begründenden Fürwör51
ter dieweilen”, „alldieweil” „sinte malen”, „füglich” tauchten bei ihm immer wieder auf. Ein übertriebenes Lob war eine „Lobhudelei” – „erklecklich”, – „etzlich” Eigenschaftsworte, die sonst kaum mehr gebraucht werden.
Originell war das Verhältnis zur Sprache, weil es Pater Kentenich wegen des ursprünglichen Zugangs zu ihr offensichtlich leicht fiel, eigene Begriffe zu schaffen
und durch Wortverbindungen neue Wirklichkeiten und Akzente seiner Spiritualität zu benennen und zu vermitteln. Man denke an „dreidimensionale Frömmigkeit”, „Blankovollmacht”, „Gnadenkapital”, „göttlicher Ein-, Auf- und Durchbruch”,
„Werkzeugsfrömmigkeit”, „Gott-, Werk- und Menschengebundenheit” usw. Jeder,
der einmal versucht hat, einen Text des Gründers in eine andere Sprache zu übersetzen, kann von dieser Originalität ein Liedlein singen . . .
Zum originellen Umgang mit der Sprache gehören auch Klang und Rhythmus.
Entsprechende Formulierungen drängten sich Pater Kentenich geradezu auf und
erschienen immer wieder: „Hüben und drüben”, „gang und gäbe”, „regen und wegen”, „Hintz und Kuntz”, „eh und je”.
Die folgenden Kapitel wollen den Sprachgebrauch Pater Kentenichs beobachten
und darin der Originalität des Sprechenden nachspüren.
Im KZ Dachau schrieb Pater Kentenich ein Handbuch für Oberinnen, den
sogenannten „Hirtenspiegel”. Aus Tarnungsgründen verfaßte er das ganze
Werk in Versform. Das Ergebnis waren 5870 Vierzeiler. Sein Schreiber –
Pater Kentenich schrieb ja nicht selbst, er diktierte nur – berichtet, dass er das
Diktat zwar anfangs etwas vorbereitete – einerseits durch stenographische
Notizen auf kleinen Zetteln, andererseits indem er, auf dem Bett ruhend, um
den geschwächten Körper zu schonen, mit den Fingern am Bettrand das
Versmaß zählte nach kürzerer Zeit aber schon flüssig und ohne nähere
Vorbereitung diktieren konnte; im Reim; stundenlang, bis zu hundert
Strophen an einem Stück. Eine erstaunliche Demonstration von dem beson
deren Verhältnis Pater Kentenichs zum Reim in der Sprache.
Seine Freude am Reim zeigte sich auch im täglichen Umgang. Auf alle mög
lichen Situationen wußte er ein „Sprüchelchen”, entweder irgendwo aufge
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schnappt oder selbst gemacht. Einige Kostproben: Ging etwas schief oder
kaputt,
so
konnte
der
Kommentar
sein:
„Da liegen die Blätter vom Glase zerbrochen in dem Grase.‘‘
Gelang jemandem eine Sache, kam es anerkennend aus
Pater Kentenichs Mund:
„Dieser Flegel
wirft den Kegel
nach der Regel!”
Auch ohne Kommentar ist verständlich:
„Diese kleine Frau
macht soviel Radau!”
Ging die Arbeit zügig voran, konnte es heißen:
„Zwischen sechzig und achtzig,
die Sache, die macht sich!”
„Hannibal, geh du voran;
du hast die langen Stiefel an!”
In einer – auch recht ernsten – Betrachtung über die Vergänglichkeit des
Irdischen mochte das Zitat erscheinen: _
„Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen,
morgen in das kühle Grab .
Oder: „Wenn Stieflein wüßt,
dass Absatz sterben müßt,
wie wär es dran!”
Um jemandem seine Freiheit zu wahren oder seine Originalität zu charakteri
sieren, zitierte er gerne frei nach Goethe
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(aus „Beherzigung”):
„Sehe jeder, wie er‘s treibe.
Sehe jeder, wo er bleibe.
Und wer steht, dass er nicht falle.
Eines schickt sich nicht für alle!”
Auf die Entfaltung der individuellen Art eines Menschen kam es Pater
Kentenich besonders an. Damit seine Originalität ja nicht verstümmelt werde,
darf jeder – so verkündete er häufig -, sogar bis zu zwanzig „Fimmel” haben.
Bedenklich wird es erst, wenn es mehr sind. _ Im schon genannten
„Hirtenspiegel” findet sich – im Vers 1212 – diese Weisheit in Reim gesetzt:
„Klug ist es, seine Herde zu belehren, dass in Gemeinschaft sich die ‚Fimmel‘
mehren, dass jeder hat auf zwanzig gutes Recht …sind‘s mehr, dann liegt der
Fall in etwa schlecht. Sind‘s weniger, muß Gott man herzlich danken; das sind
die lebensnahesten Gedanken.” Viele aus seiner Gefolgschaft haben in kriti
scher Situation Kraft und Zuversicht gefunden in dem Verslein, das Pater
Kentenich immer wieder zitierte:
Bemerkte er zuviel Durchsetzungskraft und zu gewaltsame Lösungen, konnte aus
Uhlands „tapferem Schwaben” der Spruch erklingen:
„Zur Rechten wie zur Linken sah man einen halben Türken niedersinken.”
Als junger Spiritual erklärt Pater Kentenich in seinen Vorträgen zur Seelenkunde das Strebevermögen. Beispiel: Welche Wirkung hat der Apfel in der Hand eines anderen, wenn man selbst ein leidenschaftlicher Apfelliebhaber ist? Das Herz
spürt eine Hinneigung zu diesem konkreten Apfel. Eine Bewegung geht vom Herzen zu den Nerven, zu den Muskeln, zu den Händen. Diese „haschen nach dem
Apfel und im nächsten Augenblick ist der erste Bissen hinter dem Gehege meiner Zähne verschwunden. Und der bisherige glückliche Besitzer?
‚Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet noch der Mensch zurück …‘
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Seinen Antrittsvortrag, die sogenannte „Vorgründungsurkunde”, beginnt der junge Spiritual, um das Klima zu lockern und Kontakt herzustellen, mit einem Reim
aus der damals wohl noch bekannten – und von der Hausleitung wohl wenig gelittenen – „Jobsiade” von Kortum: „Heute will ich mich euch nur vorstellen.
Ob dieser Antwort des Kandidaten Jobs entstand ein allgemeines Schütteln des
Kopfs.” Und gleich wendet er den Vers auf die augenblickliche Situation an:
„Ob der Nachricht des neuen Spirituals geschah ein allgemeines Recken des
Hals.‘‘
In einer längeren Schrift erklärt Pater Kentenich, warum er zu Beginn seiner erzieherischen Tätigkeit eine Marianische Kongregation gründete. Neben der inneren Verwandtschaft zwischen den Marianischen Kongregationen und seinem
Denken kam es ihm auch darauf an, eine feste Erziehungstradition zu schaffen,
die nach seiner Ablösung vom Spiritualsposten im Studienheim Schönstatt nicht
so schnell wieder umgeworfen werden konnte. Die recht ernste Ausführung fährt
an der Stelle fort: „Auf solche Wandelbarkeit macht ein alter Kapuzinerspruch für
Guardiane aufmerksam:
‚Der eine baut ‚nen Hühnerstall, der andere reißt ihn nieder. Der eine treibt den
Teufel aus, der andere holt ihn wieder.‘ “
Wie sehr der Reim als solcher Pater Kentenich anregte und seine Assoziationen
beeinflußte, wie sehr er dadurch auch im Vortrag Klima bestimmen und auflockern konnte, erhellt folgendes Beispiel:
In einem Vortrag am 24. November 1965 – also kurz nach der Beendigung
seiner Exilszeit in den USA – spricht er von der heilenden Kraft der „Inscriptio”, der Kreuzesliebe. Allerdings, fährt er fort, muß man eine solche Haltung
ernst nehmen, wie am 20. Januar 1942, als die konkrete Gefahr bestand, ins
Konzentrationslager geschickt zu werden. Dann fährt die Rede fort: Die Lehre
„in sich ist nichts Neues. Hier war das Neue das blutige Ernstnehmen. Da gibt
es kein Wenn und Aber, da gibt es kein Wackeln …-‘Die Mutter hat gefackelt
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die Glocke kommt gewackelt …‘
wie es in einem alten Gedicht heißt. Macht das viele Reden tut es …je mehr ich
rede, desto mehr muß ich mich bemühen, das auch wirklich zu tun …”
Konkreten Dingen des Alltags gegenüber zeigte sich Pater Kentenichs Verhalten sehr verschiedenartig. Einerseits hatte er durchaus praktisches Verständnis und wußte die Dinge anzupacken. Mithäftlinge aus dem Konzentrationslager bezeugen, dass er sich in der ungewohnten Situation des Lagers mit militärischem Drill, mit Bettenbauen, Raumenge usw. schnell und gut zurechtfand. Andererseits verhielt er sich ganz gedankenverloren; eben dann, wenn ihm alltägliche Dinge nicht wichtig waren, wenn sie nur ihn betrafen. Er beachtete sie dann
nicht, vergaß sie.
Im Provinzhaus der Pallottiner in Milwaukee kamen die Patres zu verschiedenen
Zeiten zum Frühstück, wie es häufig geschieht in Häusern einer Priestergemeinschaft. Jeder Pater kam nach seiner Messe und der damit verbundenen seelsorglichen Verpflichtung. Jeder konnte sich auch selbst sein Frühstück zusammenstellen, wie es seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack entsprach.
Pater Kentenich war in der Regel als erster zur Stelle – nach seiner Messe um
5.50 Uhr – und frühstückte allein. In einer größeren Schale, wie man sie gernein
Frankreich benützt oder noch in manchen Dörfern Süddeutschlands oder Westfalens, ließ er sich Kaffee geben. Dazu ziemlich viel Honig und ein rohes Ei. Alles
kam in die Schale zum Kaffee, wurde mit dem Kaffeelöffel leicht und langsam
verrührt und schließlich getrunken. Das war das Frühstück.
Ein Besucher nahm einige Tage lang mit Pater Kentenich das Frühstück ein. Dabei wunderte er sich nicht nur über die Zusammensetzung des Frühstücks, sondern fragte sich auch, ob das rohe Ei im Kaffee sich bei den andächtigen Rührbewegungen Pater Kentenichs denn überhaupt auflöse.
Schließlich faßt er sich ein Herz und fragt: „Herr Pater, darf ich Ihnen denn helfen, das Ei zu zerrühren?” – „Wieso”, erwidert der Angeredete, „mache ich etwas
falsch?” Der Besucher meint, seine Mutter habe ein rohes Ei immer mit der Gabel
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zerschlagen, damit es sich auflöse. Er darf es . vormachen. Pater Kentenich folgt
aufmerksam der Demonstration und meint dann gutgelaunt: Der Besucher war
gespannt, was wohl beim Frühstück am nächsten Tag geschehen würde. Ob er
wohl wieder helfen und das Ei zerschlagen soll, oder ob es Pater Kentenich diesmal gar selbst so macht?
Jener läßt sich die Bestandteile seines Frühstücks geben, setzt sich an den Tisch,
schlägt das rohe Ei zum Honig in den Kaffee, rührt langsam und andächtig mit
seinem Löffelchen im Kaffee herum und trinkt – ganz in das Gespräch mit seinem Tischnachbarn vertieft – sein Frühstück.
Nicht immer schlief Pater Kentenich, wenn es so schien. Nach der Gründung der
Schönstattpatres am 15. Juli 1965 mußten die Satzungen der neu gegründeten
Gemeinschaft erstellt werden. Pater M. erarbeitete den Entwurf. Inzwischen war
– seit dem 15. September desselben Jahres – Pater Kentenich in Rom und konnte
sich – nach dem 22. Oktober – wieder ungehindert seinem Werk widmen.
„Herr Pater, ich reiche den Satzungsentwurf nicht ein, bevor Sie ihn nicht überprüft haben”, erklärte deshalb Pater M. „Gut”, meinte der Gründer, „lies ihn mir
vor.” Pater M. begann zu lesen, Paragraph für Paragraph der kompakten Rechtssprache. Pater Kentenich saß da, ganz ruhig, den Ellbogen auf der Stuhllehne,
den Kopf mit der Hand stützend, die Augen geschlossen.
Bald hatte Pater M. den Eindruck, er sei eingeschlafen, und hörte auf zu lesen.
Sofort meldete sich die in völliger Ruhestellung sitzende Gestalt: „Warum liest du
nicht weiter?” – „Oh, ich dachte, Sie seien eingeschlafen.” – „Nein, nein, im Gegenteil! Ich habe sehr aufmerksam zugehört.”
Als leidenschaftlichem Erzieher kam es Pater Kentenich immer auf den lebendigen Kontakt an. Die gesprochene Sprache war ihm dazu das Hauptwerkzeug.
Er gebrauchte und formte sie der Situation entsprechend ganz originell und verstand es meisterlich, dadurch seelische Kontakte anzuknüpfen. Einer Gruppe junger Männer hielt er einen Vortrag über ihre besondere Berufung. „Wir sind”, so
hob er an, „specialissimi modo electi (in besonderer Weise erwählt), dilecti (ge57
liebt), = collecti (zusammengeführt) …” – dann unterbricht er, schaut schmunzelnd in die Runde und meint: „Eine schöne Kollektion!” – um dann ganz ernst in
seinem Gedanken fortzufahren.
Den Schwund an Schamgefühl und Intimität charakterisiert er einmal so: „Früher ist man rot geworden, wenn man sich geschämt hat. Heute schämt man sich,
wenn man rot wird.”
In Milwaukee gab Pater Kentenich einem der dort wohnenden Theologen private
Exerzitien. Es geschah dies in Form von Spaziergängen auf dem „Calvary”-Friedhof. Auf einem der Spaziergänge begegnen die beiden der Hausfrau, die den
Theologen den Haushalt versorgte. „Sieh da”, meinte der Exerzitienmeister, „der
Exerzitant und die Exerzitante!” Und: das blieb so, solange die Exerzitien dauerten.
Eine Person in Pater Kentenichs Seelenführung schrieb ihm einen wichtigen
Brief, der sofort gelesen werden sollte. (Wer die Briefstöße auf Pater Kentenichs
Schreibtisch gesehen hat und seine übrige Arbeitslast kannte, wundert sich nicht,
dass die Briefe nicht immer gleich gelesen wurden.) Bald kommt aber ein Anruf:
„Herr Pater, haben Sie meinen Brief gelesen?” -„Ohhh”, meint Pater Kentenich
langgezogen, „ich habe hier einen ganzen Berg von Briefen, so groß wie der Mont
Blanc. Dieser Mond muß wieder blank gefegt werden. Und dann ist auch Ihr Brief
dabei.” Konnte man noch enttäuscht sein bei einer solchen Antwort?
Zu einem Osterfest bekam Pater Kentenich eine Schachtel von Osterlämmchen
aus Gips geschenkt. Er begann sofort, sie weiterzuschenken. Jedesmal aber mit
der kleinen Botschaft, wir sollen selbst „Opferlamm” sein, um „Osterlamm” werden zu können.
Die Bedeutung des Gehorsams bei den schönstättischen Instituten illustrierte
Pater Kentenich gerne mit dem Bild von einem Faß, das bei den Orden drei Reifen hat – die drei rechtlichen Bindungen der Gelübde: Armut, Gehorsam, Jungfräulichkeit – in den schöntättischen Gemeinschaften aber nur einen, nämlich
das Rechtsband des Gehorsams (weshalb das Faß anders verfugt sein muß).
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In einem Vortrag in Brasilien, bei dem verschiedene Vertreter der
Schönstattfamilie zugegen sind, behandelt er dieses Thema: „Lassen Sie mich
das, was ich jetzt sagen möchte, in schlichte, populäre Formen kleiden. Das erste Bild: das Bild eines Fasses. Das klingt natürlich sehr banal. Sie vergessen dabei
nicht, es handelt sich hier um einen Vergleich und jeder Vergleich hinkt. Da habe
ich zwei Fässer. Das eine Faß stellt den Ordensmann dar, das andere Faß stellt einen von uns dar, also einen Pater und eine Marienschwester. – Ein schöner Vergleich! Also Pater ein Faß, Marienschwester ein Fäßchen. – Nun möchte ich sagen, dass beide Fässer den gleichen Inhalt bergen...” Der Abschied in Milwaukee
1965, obwohl Ende seiner Exilszeit, fiel doch recht schwer. Zum Trost schenkte
Pater Kentenich jemandem seinen Regenschirm mit der Bemerkung: „Jetzt können Sie auch in Zukunft ‚unter meinen Schutz und Schirm fliehen.”
Auf Grund der reichen Erfahrung an sich und anderen, dass der Liebesbund mit
der Gottesmutter ein „Wundermittel” ist zur allseitigen Lebensbewältigung, geschah es wie selbstverständlich, dass Pater Kentenich seinen Weg, sein Lebensgefühl anderen anbot; ganz im Geiste des heiligen Paulus: „Ahmt mich nach, wie
ich Christus nachahme” (1 Kor. 11,1). Dies tat er gerne in einem Bild.
Das Telefon klingelte. Dem Anrufer hörte man bereits beim Gruß an, dass er nicht
in bester Stimmung war. „Na, wo drückt der Schuh”, lautete die ermutigende Frage. Es entstand ein längeres Gespräch, in dem der Druck abgelassen werden
konnte. Zum Abschluß meinte Pater Kentenich: „Jetzt müßte ich Ihnen an sich
meine Schuhe schenken. Die drücken nicht.”
Das Zusammenspiel von Scherz und echter Anteilnahme in Pater Kentenichs Reaktionen war unnachahmlich. Es war genau die Mischung, die tröstete, weil sie
die Herzen verband und Schweres leichter machte.
Kurz nachdem Pater Kentenich 1965 die USA verlassen hatte, um über Rom wieder nach Deutschland zurückzukehren, erlitt Herr N., ein deutschstämmiger Maurermeister und treues Mitglied der „Deutschen Gemeinde” in Milwaukee, einen
Betriebsunfall: ein Ziegelstein fiel ihm auf den Kopf. Seitdem hatte er ständige
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Kopfschmerzen, die schließlich dazu zwangen, den rührigen und sonst kräftigen
Mann arbeitsunfähig zu schreiben.
Pater Kentenich hatte im Sommer 1966 mitten im Betrieb der ersten Zeit nach
seiner Rückkehr von dem Unglück brieflich erfahren.
Im folgenden Frühjahr gelingt es dem Ehepaar N. nach Deutschland zu kommen. Natürlich wollen sie auch Pater Kentenich in Schönstatt besuchen. Sie staunen nicht wenig über die Größe Schönstatts und den Andrang von Menschen
zu ihrem alten Seelsorger von St. Michael. Es ist auch gar nicht mehr so einfach,
bis zu Pater Kentenich vorzudringen. Die Schwester, die sie im Tal nach ihm fragen, meint, es könne nicht jeder einfach zum Herrn Pater Kentenich. Erst als das
Ehepaar ein Foto vorweist, das sie zusammen mit dem Gründer zeigt, wird die
Schwester diensteifrig und begleitet sie auf den Berg Schönstatt.
Auch die Schwester an der Pforte ist zunächst abwehrend. Als sie allerdings erfährt, die Leute kommen aus Milwaukee, klappt plötzlich alles.
Die Wiedersehensfreude ist auf beiden Seiten groß. Noch während der herzlichen Begrüßung kommt Pater Kentenichs Frage: „Was macht der Kopf, Herr N.?”
Jener – überrascht, dass der jetzt vielbeschäftigte Pater schon Bescheid weiß,
stellt lakonisch fest: „Er brummt!” Worauf Pater Kentenich scherzend und gleichzeitig teilnahmsvoll mitfühlend meint: „Neuen aufsetzen!”
Als Einleitung für eine Kreuzpredigt erzählte Pater Kentenich einmal die Geschichte von einer Laiengruppe, die ein Passionsspiel aufführte. Auf dem Höhepunkt des Stückes rief der Christusdarsteller am Kreuz in seiner Aufregung anstatt: Es ist vollbracht! – „Es ist prachtvoll!”
Diesen Versprecher nahm der Prediger auf. Es sei gar nicht so dumm, sondern
sehr tiefsinnig. Wenn man, so wie der Heiland, sein Kreuz auf sich nehme in völliger Hingabe an den Vaterwillen, dann führe das Kreuz sicher zum Ostermorgen. Und dann sei es auch wahr, dass, wenn der Krenzweg vollbracht sei, er auch
prachtvoll sei.
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Ein Priester namens „Herz” hatte die Möglichkeit, Pater Kentenich in den USA zu
besuchen. Es sollte seine erste Begegnung mit dem Gründer sein. Vor dem Weiterflug nach Milwaukee mußte er in New York übernachten. Er tat es bei einem
dort wohnenden Mitbruder. Dieser wollte vorher bei Pater Kentenich anrufen und
die Ankunft des Besuchers anmelden. Nach kurzem Gespräch wünschte Pater
Kentenich, der unbekannte Mitbruder möge doch auch an den Apparat kommen.
Dem war das nicht besonders recht. Er wäre dem verehrten Gründer lieber beim
ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet. Es half aber nichts, er mußte
nach dem Hörer greifen. Noch bevor er aber ein Wort sagen konnte, vernahm er
aus der Muschel: „In der Bibel heißt es: ,Im Anfang war das Wort.‘ Goethe sagte:
,Im Anfang war die Tat.‘ Wir in Schönstatt sagen: ,Im Anfang war das Herz.‘ Herzlich willkommen, Pater Herz!”
In seinem Redestil zeigte sich Pater Kentenichs inneres Engagement selten in
Lautstärke oder Tonfall. Die Lautstärke war kräftig, der Tonfall recht charakteristisch, besonders durch das Ansteigen der Stimme am Ende eines Satzes, der „rheinischen Kadenz” im inzwischen wohl verschwundenen Predigerstil. Beide waren
aber getragen und hatten eher eine distanzierende Wirkung. Häufiger kam der
innere Schwung, sein Drängen in Pater Kentenichs Formulierungen zum Ausdruck. So auch bei folgender origineller „Übersetzung”.
Vom heiligen Ignatius ist das Wort bekannt: „Ite, incendite mundum!”; „Geht,
entzündet die Welt!” Das Wort entsprach Pater Kentenichs apostolischer Einstellung. Er gebrauchte es häufig.
So tauchte es auch auf in einem Vortrag am 17. Oktober 1966 auf der Delegiertentagung des Schönstattwerkes, „Oktoberwoche” genannt. Ein Jahr zuvor war
der Gründer aus seinem Exil zurükkgekehrt; zur selben Zeit, als das Konzil zu Ende
ging. Bei dieser Oktoberwoche ging es ihm nun darum, die innere „Hinordnung”
seines Werkes auf die nachkonziliare Kirche aufzuzeigen. Am Ende des Vortrags
kommt das innere Feuer durch:
„Wir haben ja Männer da, vielleicht auch einige Frauen, die das zum Lebensinhalt
gemacht (haben). Wir wollen die feurigen Rosse noch weitergaloppieren lassen,
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aber auch sorgen, dass wir mit auf den Wagen kommen.
Das sind alles Dinge, die ich leider nur kurz berühren kann. Es ist ein wichtiges
Anliegen, ein großes Anliegen: Wir müssen zum Papst! Wenn Sie nur halb glauben, was ich glaube, wenn Sie nur ein Zehntel glauben, dann verstehen Sie, wie
alles in mir drängt: Geht hinaus in die Welt!
Ich meine, ich darf nun schließen mit dem Wort, das der heilige Ignatius so gerne gebraucht hat: ‚Ite, incendite mundum!‘ Macht, dass Ihr herauskommt! Nachdem Ihr lange beieinander gesessen habt, nachdem Ihr Euch gegenseitig gefunden, ineinander und dadurch in Gott hineingewachsen seid: Heraus! Feuerbrand
für die ganze Welt!”
Nos cum prole pia – benedicat virgo Maria!”
Bei der lebendigen und kontaktnahen Art konnte es im Rede - und auch
Schreibstil Pater Kentenichs an illustrierenden Vergleichen und Bildern nicht
fehlen. Eine repräsentative Sammlung davon würde in sich ein eigenes kleines
Bändchen ergeben. Hier kommt es nur darauf an, an wenigen Beispielen die Art
zu charakterisieren.
Wir sind vom gebietenden, ratenden, fügenden und zulassenden Willen Gottes umgeben. Nichts kann geschehen außerhalb der göttlichen Vorsehung. Diese Wahrheit war eine von Pater Kentenichs Lieblingsbetrachtungen. Die Schwierigkeit, die sich für uns Menschen im täglichen Leben immer stellt, ist, hinter allem Geschehen, vor allem dem unangenehmen, Gott wahrzunehmen. Wie das geschehen soll, bebildert der Vergleich mit dem Mann, der im Winter spazierengeht.
Unerwartet trifft ihn ein Schneeball im Genick. Im ersten Augenblick wallt Unmut auf. Er wendet sich energisch um, will dem Angreifer…und sieht, dass es sein
Freund war, der den Schneeball geworfen hat. Sofort wandelt sich die Stimmung.
Der Schneeball war kein Angriff, sondern ein Gruß.
Damit verwandt ist das häufig gebrauchte Bild von dem Vater, der uns ständig
berührt, der aber manchmal eiserne Handschuhe trägt, die uns weh tun. Im ei62
sernen Handschuh ist aber immer die warme Vaterhand, die es zu erkennen und
zu erspüren gilt.
Es kam jemand zu Pater Kentenich, unzufrieden mit sich selbst. Der Vergleich mit
einer Mitschwester ergab, dass sie nichts wert sei. So wie jene kann sie nie werden! Pater Kentenichs Antwort: Ein Kirschbaum muß Kirschen tragen, ein Birnbaum Birnen. Wie verkehrt ist es für einen Birnbaum, Kirschbaum sein zu wollen!
Wohl jeder, der sich längere Zeit der Botschaft und Erziehung Pater Kentenichs
aussetzte, hat aus seinem Mund das Bild erklärt bekommen von dem Kind, das
vom eigenen Vater, der Arzt ist, operiert werden muß. Das Kind, das unter dem
Messer liegt, mag jammern und weinen, weil schneiden not tut. Im tiefsten Leid
aber weiß es immer, dass es der Vater ist, der operiert Natürlich konnte es bei
dem urwüchsigen Verhältnis zu Klang und Bild in der Sprache nicht ausbleiben,
dass schon mal ein Vergleich „vergewaltigt” wurde und ein Bild „aus dem Rahmen” fiel. Einer Gruppe von Studenten, denen er mehr Selbst- und Sendungsbewußtsein bei gleichzeitig festem Standpunkt beibringen wollte, rief er zu, sie sollen sein wie der Adler, „der mit mächtigem Flügelschlag zur Sonne rauscht und
dabei doch mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Wirklichkeit steht” (wobei
er für einige Minuten die Aufmerksamkeit derjenigen verlor, die sich einen solchen Adler vorzustellen suchten.)
Die Aufforderung, wir alle müßten in unserem Verhältnis Gott, dem Vater, gegenüber und zur besseren Bewältigung schwieriger Lebenslagen schlichte, kindliche
Menschen werden, erschien bei Pater Kentenich in allen möglichen Situationen
und Zusammenhängen; und auch in den verschiedensten Formulierungen.
Im Konzentrationslager mit allen Gefahren, Lasten und Leiden lebte er zum Beispiel stark aus dem Gedanken: Der liebe Gott hat für seine Kinder immer „die besten Windeln”. „Dies sind die besten Windeln für mich.”
Im März 1952 wurden zwei Novizen der Pallottiner in Chile eingekleidet. Pater Kentenich hielt ihnen und allen Anwesenden eine Ansprache. Im Gegensatz
63
zum heutigen Rationalismus, so führte er aus, der „Verkopfung” des modernen
Menschen, der Intellektualisierung des Studiums, auch der Theologie, müssen wir
kindliche Menschen werden; ja, richtige „Kindsköpfe”! „Und der größte Kindskopf
in Schönstatt” – so schloß der Gedanke – „das bin ich!”
Aus der Hl. Schrift wissen wir, dass ein gewisser Nikodemus aus dem Hohen Rat
Jesus heimlich bei Nacht aufsuchte, um ihn über das Reich Gottes zu befragen
(3, 1-21).
Auch ein Mann von Arimatbäa tritt im Neuen Testament auf; ebenfalls vom Hohen Rat. Mit Nikodemus zusammen erbat er sich von Pilatus den Leichnam Jesu,
um ihn zu bestatten. Mit Namen hieß er allerdings Josef (Jo 19,38).
In der Leidensgeschichte Christi spielt außerdem Simon von Cyrene eine wichtige
Rolle. Er half Jesus das Kreuz tragen (Mark 15,21). Es war Karfreitag. Pater Kentenich hatte die Einladung einer Gruppe von Seminaristen angenommen, ihr neu
erarbeitetes Kreuz zu segnen und in ihrem Gemeinschaftsraum anzubringen. Es
verstand sich von selbst, dass er dabei eine Ansprache halten sollte.
Auch für Pater Kentenich war dies selbstverständlich. Er kam von einer Kreuzwegandacht und lebte ganz in der Atmosphäre des Tages. Entsprechend ernst und
besinnlich war die Ansprache. Die Zuhörer ließen sich willig führen … bis zu dem
Punkt in der Ansprache, in dem Pater Kentenich erwähnte, dass Nikodemus Jesus das Kreuz tragen half. Auf Grund seines inneren Kontaktes mit den zuhörenden Theologen spürte er sofort, dass eine fremde Regung durch ihre Reihen ging.
Er formulierte deshalb noch einmal seinen Gedanken und in dem Bemühen, ihn
deutlicher zu machen, führte er auch aus, dass Nikodemus von Arimathäa Jesus
das Kreuz tragen half, und brachte dann – nicht weiter gestört von den Regungen der Theologen – seine Betrachtung zu Ende.
Zur Schande der Theologen sei es gesagt: Sie wissen nicht mehr, worüber Pater
Kentenich an jenem Karfreitag predigte. Nur an eines erinnern sie sich bis auf
den heutigen Tag – zum eigenen Trost als inzwischen selbst predigende Priester;
nämlich, dass bei der Einweihung ihres Kreuzes ausnahmsweise ‚Nikodemus von
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Arimatbäa‘ Jesus das Kreuz tragen half.
Wie es wohl nicht anders zu erwarten ist nach allem Bisherigen: Pater Kentenich
erzählte auch gerne einen Witz. Nur – und das soll gleich zur Einleitung zugegeben werden: Gut Witze erzählen nach dem gängigen Stil, mit Knalleffekt am
Schluß, konnte er nicht. Einmal, weil er sich selbst an seinem Witz so sehr freute,
dass er schon mal durch eigenes Lachen die Pointe verderben konnte. Zum anderen, weil auch die Witze, die er öfters und gerne erzählte, sich nicht durch intellektuelle Spritzigkeit auszeichneten, sondern eher mit tiefsinnigem Humor Szenen aus dem Leben des einfachen Volkes beleuchteten, die er dann gleich im konkreten Leben anzuwenden wußte. Hier einige charakteristische Beispiele:
In einem Zugabteil sitzen zwei Frauen und ein Junge, der lange zum Fenster
hinausschaut. Als er sich schließlich umdreht, entfährt es der ersten Frau:
„Was für ein Wasserkopf.” Die zweite Frau: „Das ist mein Fritz!”
Nach einer betroffenen Sekunde die erste Frau beschwichtigend:
„Steht ihm aber gut! Steht ihm aber gut!”
Beim Bürgermeister eines Dorfes findet ein Festessen mit vielen
Ehrengästen statt. Die Frau Schultheiß, die Gastgeberin, hat vortrefflich für alles
gesorgt. Nur am Kopfende der Tafel, dem Platz des Hausherrn, fehlt die Serviette. Jemand macht die Bürgermeistersfrau darauf aufmerksam. Jene erwidert laut
und empört: „Unser Hannes schlappert nicht!” (Diesen Witz erzählte Pater Kentenich mit besonderem Genuß, als er einmal mit zwei „Johannes” am Tisch saß.)
Und noch ein Witz in Kölscher Mundart. Wiederum zwei Frauen im Zug mit einem „Fritz”. Der Junge leckt das Abteilfenster ab, bis es die erste Frau nicht mehr
mitansehen kann. Zur Mutter: -„Da‘f dat dat?” (Darf es (das Kind) das?) -„Ja, dat
da‘f dat.” Ja, das darf es.) -„Dat dat dat da‘f?!” (Dass das das darf?!)
Wurde ein Witz dieser Art von Pater Kentenich erzählt, dann wurde das Lachen
der Zuhörer nicht nur von der Komik des Witzes hervorgerufen, sondern auch von
der spontanen Freude und manchmal von dem schon vorausgehenden Lachen
des Erzählers.
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Die Hauptkomik eines von Pater Kentenich erzählten Witzes bestand oft in der
Situation, in die er ihn hineinsprach. Dazu eine Illustration aus der Gründungszeit Schönstatts.
Die Statuten des Studienheimes in Schönstatt enthielten unter „Verordnungen
für den Schlafsaal” den Paragraphen 14:
„Es ist Ehrenpflicht eines jeden, sofort beim ersten Glockenschlag aufzustehen.
Auf den Weckruf ‚Benedicamus Domino‘ (Laßt uns preisen den Herrn) sollen alle
andächtig antworten (nämlich ‚Deo gratias‘, Dank sei Gott). Nach dem Nachtgebet begebe sich jeder möglichst schnell zu Bett.”
Dass die Befolgung dieses Paragraphen in kalten Tagen bei den damaligen Verhältnissen und dem Alter der Jungen weder leichtfiel noch andächtig ausfiel,
läßt sich denken.
Pater Kentenich greift die Situation auf in einem Vortrag über das Kampffeld im
eigenen Inneren wegen der drei Leben, an denen wir teilhaben, dem vegetativen,
sensitiven und intellektuellen:
„Wer kennt diesen Zweispalt (in uns) nicht! Blicken wir nur auf uns selbst, greift
nur hinein ins volle Menschenleben. Der schwerste Stand ist bekanntlich für viele
der Aufstand – das Aufstehen. Es läutet. Benedicamus Domino!
– Schon Zeit? – Im Bett ist‘s so warm, so mollig Es hat geläutet, die Pflichtruft. Du
mußt aufstehen!, wendet der Verstand ganz schüchtern ein. Der innere Zwiespalt
ist da: Der Kampf beginnt, der Kampf mit dem Kopfkissen. Ach, du bist noch so
müde, du könntest dich erkälten. – Um gut zu studieren, muß man sich gut ausgeruht haben. – So meldet sich stürmisch das sinnliche Wohlbehagen. Na, wenigstens noch einen Augenblick, nur noch einmal umdrehen. Zudem gibt ja auch
der Klügste nach. Da – die Drehung ist vollendet – Deo gratis. – Der Augenblick
dauert aber einmal lange. Das ist die erste faule Birne, die ich meinem Herrgott
schon in aller Frühe an den Kopf werfe. Wie viele werden nachfolgen. Zum Unglück hat es heute auch der Pater Soundso noch auf mich abgesehen. Da kommt
er auf mein Bett zu.
Mit Blitzesschnelle geht mir dies und jenes durch den Kopf. Ich bin, ich bin
– eine kleine Notlüge will sich mir aufdrängen. Ich will sagen: Ich bin krank. Wo?
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Natürlich im Kopf, am Hals oder an der Brust. Doch noch zur rechten Zeit besinne ich mich auf mich selber, und so ist die einzige Entschuldigung: Ich bin liegen
geblieben. Ein sehr tiefsinniger und unwiderlegbarer Grund dafür, dass ich nicht
aufgestanden bin.
Nebenbei gesagt. Ein anderer soll sich viel geschickter aus derselben Verlegenheit geholfen haben. Der Betreffende, nennen wir ihn einmal Anton, war an einer Anstalt, wo geweckt wurde mit den Worten: Laudetur Jesus et Maria (Gelobt
sei Jesus und Maria). Die Antwort war: In aeternum. Amen. (In Ewigkeit. Amen).
– Anton hat sich nun verschlafen. Der Präfekt stürzt sich wütend auf ihn, rüttelt
und schüttelt und ruft ihm aufgeregt zu: Wie lange willst du noch schlafen?! Anton reckt sich und antwortet – noch ganz traumbefangen: In aeternum. Amen.”
Es gibt Übernamen, unter denen ihre Träger sehr leiden, weil sie zu sehr karikieren, deshalb bespötteln und abwerten. Die Sprache nennt solche Übernamen
Spitznamen. Es gibt aber auch Übernamen, die – dazu im Gegenteil – Intimität
und Zärtlichkeit ausdrücken. Wir nennen sie Kosenamen. Auch Pater Kentenich
gebrauchte gerne Übernamen. In ihrem Charakter waren sie weder Spitznamen
– denn er wollte alles andere als verletzen – noch Kosenamen im üblichen Sinne. Wir wollen sie „Necknamen” nennen, weil es meist etwas Neckendes, Scherzendes enthielten in der Tendenz, die Originalität einer Person aufzugreifen und
durch entsprechende Betitelung eine persönliche Beziehung herzustellen.
In Wehrpaß des im Konzentrationlager Dachau verstorbenen Pater A. Eise fand
sich eine Eintragung, er habe im ersten Weltkrieg an dreiunddreißig Schlachten
teilgenommen. Von Pater Kentenich bekam er deshalb gerne – wohl auch seinem
Temperament entsprechend – den Titel „Mann der dreiunddreißig Schlachten”.
Ein chilenischer Pater schnappte in einem Vortrag Pater Kentenichs das Wort
„Mumpitz” auf. Trotz ausgedehnter Deutschkenntnisse war ihm dieses Wort unbekannt. Sofort ach dem Vortrag erkundig-„Mumpitz”? Es fiel en Angesprochenen nicht leicht, das Wort zu erklären. Um es richtig und anschaulich verständlich zu machen, benützte man an diesem und den folgenden Tagen jede geeignete Gelegenheit, um daran zu illustrieren, was denn alles „Mumpitz” sei. Als Pa67
ter Kentenich davon erfuhr, war der „Neckname” fertig. Der Frager wurde zum
„Pater Mumpitz”.
Der inzwischen verstorbene Pater F., ein recht draufgängerischer Mitarbeiter an
der Zentrale in Schönstatt, der wohl schon mal einen anderen auf die Hörner nehmen konnte, war der „Stier von Uri”, oder – im KZ Dachau wegen seines Wagemutes – der „Donnersohn”.
Und ein gerade in die USA eingewanderter Deutscher war längere Zeit der „Peter in der Fremde”.
Im Herbst 1965 hatte Pater Kentenich sein Quartier in Rom im Generalat der
Mainzer Vorsehungsschwestern bezogen. Es war die Zeit der letzten Konzilssessio. Einige Bischöfe besuchten gerne und öfters den kleinen Kreis um Pater Kentenich und fühlten sich in der dortigen Atmosphäre offensichtlich wohl. Auch sie
waren vor einem „Necknamen” nicht sicher. Und zwar ganz im Geiste des Konzils:
mit Vatertitel und auf Latein.
In einem Gespräch mit Pater Kentenich – wohl teils in Latein geführt – bemerkte der Erzbischof von La Plata, der inzwischen verstorbene Bischof von Fulda sei
ein ‚Pater amabilis‘ (ein liebenswürdiger Vater). Pater Kentenich stimmte zu, fing
den Ball sofort auf und fragte weiter, was für ein Pater denn der – damalige und
dem Erzbischof etwas zu energische – Weihbischof von Münster sei. Der Erzbischof war nicht um eine Antwort verlegen: Er sei ein ‚Pater terribilis‘ (ein „schrecklicher” Vater). Lächelnd konterte Pater Kentenich: „Dann sind Sie der ‚Pater admirabilis‘ (der wunderbare Vater).”
Und so benannte er die Drei in kommenden Unterhaltungen. Jener „Pater Hokuspokus”, von dem oben schon die Rede war, ist ein Schelm von besonderem
Ausmaß. Seine Umgebung ist nie vor ihm sicher. Als ihm um das Jahr 1960 herum als Seminarist aus einer Reklame für einen Zoo ein ganzer Stoß Postkarten
mit lauter Affen in die Hände fiel, mußte damit etwas unternommen werden.
Ein „Opfer” war bald gefunden und gut gewählt. Tage- und wochenlang fand
der Arme, wo er ging und stand…einen Affen: an seiner Tür, unter seinem Teller
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im Speisesaal, in dem Buch im Lesezimmer, das er gerade las, in seiner Post, seiner Serviette, Manteltasche usw. Er glaubte sich von einer Verschwörung umzingelt. Und je mehr er in zunehmender Wut bei jeder Konfrontation mit einem Affen schnell um sich blickte, um die Übeltäter zu entdecken, in um so unschuldigere Gesichter blickte er. Schließlich war er so fixiert, dass er das Angebot gerade jenes „Pater Hokuspokus” annahm, ihm bei der Suche nach den Übeltätern zu
helfen. Theorien in Menge entstanden und Schlachtenpläne wurden entwickelt.
Sie konnten zu keinem Ergebnis führen.
Als die Postkarten vom Zoo ausgingen, schrieb „Pater Hokuspokus” seine Freunde in aller Welt an und bat, jenem lieben Mitbruder doch einen Kartengruß zu
schicken; mit einem Affen drauf natürlich. Affengrüße kamen aus den verschiedenen Ländern Südamerikas, aus Israel und sogar aus China.
Es traf sich gerade zu dieser Zeit, dass ein Bekannter des „Pater Hokuspokus” in
Milwaukee bei Pater Kentenich einen Besuch machte. Er bat ihn, dem Herrn Pater den ganzen Streich zu erzählen. Dieser hatte seine helle Freude an der Affengeschichte.
Auch er besorgte sich eine Postkarte mit einem Affen. Und so geschah es, dass
der von Affen Geplagte als Höhepunkt der ganzen Narretei – und wohl auch zu,
seinem Trost – einen Affen aus Milwaukee erhielt mit der Signatur „J.K.”
Während seines ganzen Lebens hatte Pater Kentenich ein helles Ohr für
die Stimmen der Zeit. Männer, die mit ihrem Denken die Welt bewegten –
ganz gleich, ob christlich oder nicht – interessierten ihn. Er setzte sich mit
ihnen auseinander, forschte nach dem Wirken des Heiligen Geistes in ihren
Lehren, verarbeitete und zitierte sie in seinen Kursen und Schriften und ver
suchte, von seiner Warte und seiner Gotteserfahrung aus darauf eine Antwort
zu geben; meist, indem er Impulse ihres Denkens aufnahm und in seine
Spiritualität integrierte.
Dabei war die Auseinandersetzung mit solchen Männern eine geistige
Begegnung mit ihrem Denken. Auf den Gedanken, Pater Kentenich interes
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siere sich eventuell auch für deren Aussehen, konnte man kaum kommen.
Professor Karl Rahner, fraglos einer der größten und einflußreichsten deut
schen Theologen unseres Jahrhunderts, konnte dieser inneren Beschäftigung
Pater Kentenichs mit Männern seiner Zeit nicht entgehen. Vor allem während
des Zweiten Vatikanischen Konzils nahm er das theologische Denken Karl
Rahners in sich auf und kommentierte es bei Gelegenheit.
Es war Anfang des Jahres 1962. Über die deutsche Seolsorge in Milwaukee
traf Pater Kentenich mit einem Theologiestudenten aus Deutschland zusam
men, der zu Besuch in den USA weilte. Es kam zu einem Spaziergang mit
angeregter Unterhaltung über die kirchliche Lage. Mitten im Gespräch fragt
Pater Kentenich plötzlich:
„Kennen Sie Karl Rahner?”
„Ja, ich habe ihn einmal in einem Vortrag in München gehört.”
„Wie sieht er denn aus?”
„Hm, eine etwas gedrungene Gestalt, mittelgroß, großer Kopf.”
„Sooo? Ich habe ihn mir immer ganz lang vorgestellt (und während er seine
beiden Zeigefinger bis in Stirneshöhe hebt und langsam nach unten zieht):
Kaarl Raaahner.”
Die beiden Gefängniswärter, die 1941 für Pater Kentenich während seiner Gestapohaft im Koblenzer Karmelgefängnis Post heraus- und hereinschmuggelten,
bezeichnete er als den „kleinen” und den „großen” Boten; weniger, um sie zu necken, als vielmehr aus Gründen der Tarnung.
In Milwaukee gab es dann – allerdings nicht mehr um zu tarnen, sondern um zu
necken, der Körpergröße entsprechend – die „kleine Maria”, die Haushälterin des
zum Provinzhaus der Pallottiner gehörigen Pfarrhauses, und die „große Maria”,
Pater Kentenichs Seelsorgshelferin in der Deutschenseelsorge.
Eines Nachmittags weilt Pater Kentenich mit einem deutschstämmigen Herrn aus
Argentinien in seinem Büro. Als die Seelsorgshelferin anklopft, um ihren Nach70
mittagsdienst zu beginnen, winkt er sie herein und stellt sie dem Besucher vor:
„Das ist die ‚Maria vom hohen Wuchs”‘. Der Herr, nicht vertraut mit der schelmischen Art Pater Kentenichs – und wohl auch nicht sonderlich bewandert in deutscher Geographie und deutschen Adelsgeschlechtern – hört sich dies andächtig
an und schweigt verwundert. Da man gerne über Abstammung und Herkunft redet, wenn sich die Landsleute im Ausland treffen, setzt Pater Kentenich die Vorstellung fort: „Sie ist aus Westfalen, aus dem Münsterland.” – „Ah, da liegt das
also”, bemerkt, hörbar befreit, der Herr. Ein kurzes Stocken, dann brechen Pater
Kentenich und die „große Maria” in herzhaftes Lachen aus – was den Besucher
nur noch unsicherer macht. Die Hilflosigkeit im anderen witternd, faßt sich Pater
Kentenich schnell und meint beschwichtigend: „Ja, so kann man es auch verstehen, denn es gibt ja auch ein Hohes Venn.” Und dann gibt er dem Gespräch eine
andere Richtung, so dass der Herr aus der für ihn unangenehmen Situation vollends herauskommt.
Die lustige Begebenheit vergaß Pater Kentenich aber nicht so schnell. Bereits am
nächsten Morgen begrüßt er seine Seelsorgshelferin mit dem neuen „Adelstitel”
und spielt gleich damit:
Eine ganze Zeit stellte Pater Kentenich nun seine Seelsorgshelferin gern unter ihrem „Adelstitel” vor.
Jene „große Maria” trat ihren Dienst als Seelsorgshelferin für die deutsche Auslandsseelsorge in Milwaukee im Herbst des Jahres 1960 an. Mit welcher Aufmerksamkeit und väterlichen Sorge, aber auch mit welch schelmischer Herzlichkeit sich Pater Kentenich auf einen ihm bis dahin von Angesicht unbekannten
Menschen und zukünftigen Mitarbeiter einstellte, sollte sie gleich bei ihrer Ankunft erfahren.
Laut Voranmeldung und Fahrplan sollte die neue Seelsorgshelferin mit dem Flugzeug zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr ankommen. An jenem
Samstagabend jedoch hatte die Maschine drei Stunden Verspätung. So war die
Reisende frühmorgens um 2 Uhr endlich in ihrem Quartier.
Kaum die Koffer abgestellt, läutete das Telefon. Die Hausfrau kannte sich aus:
„Gehen Sie hin”, rief sie, „es ist bestimmt der Herr Pater”! Er war es. Mehrmals
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hatte er bereits angerufen, um Genaueres über die Ankunft zu erfahren. Jetzt
wollte er gleich alles wissen von Flug und Fahrt und über das Befinden der Reisenden. ,Ja”, beendete er schließlich das Gespräch, „ich würde Sie ja gerne noch
sehen – da es aber so spät ist, warten wir bis morgen (nicht bedenkend, dass dieser „morgige” Tag ja bereits angebrochen war). Um 10 Uhr bei der deutschen
Messe in St. Michael sehen wir uns dann.”
Auf dem Weg nach St. Michael kommt der Wagen, der die neue Seelsorgshelferin
zur Messe bringt, am Provinzhaus der Pallottiner vorbei. Dort geht gerade Pater
Kentenich vor dem Haus auf und ab. Natürlich fahren sie heran, um ihn zu begrüßen. Er begreift sofort, um wen es sich handelt, tritt mit schnellem Schritt an das
gerade haltende Auto heran und hält – über das ganze Gesicht lachend – seiner
neuen Mitarbeiterin die Türe zu. Ihre Versuche, sie dennoch zu öffnen, mißglücken. Schließlich gibt sie auf und verlegt sich aufs Bitten. Mit den Händen: Bitte,
bitte …„Na, jetzt wollen wir sie herauslassen”, beendet Pater Kentenich die ‚Blockade‘. Sie steigt aus. Er sieht sie in ihrer ganzen Größe und kommentiert sofort:
„Viel zu groß gewachsen! Da muß ich aber noch kräftig schneiden!”
Ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch” war eines der geflügelten Worte
Pater Kentenichs, die er gerne im Scherz gebrauchte. Solche „Wörterbuch”-Erfahrungen machte er reichlich - allerdings nicht immer nur bei Frauen. Er war selbst
„schuld” daran, denn lange Erzählungen, spontanes Hervorsprudeln von dem,
was das Herz bewegte, waren selbstverständliche Reaktionen auf die Erfahrung,
von ihm angenommen und verstanden zu werden. Es war klar: Der Herr Pater
„mußte” an allen besonderen Erlebnissen Anteil nehmen. an ihm lag es dann allerdings auch wieder, die Flut einzudämmen, den Hahn zu schließen. Er tat es
auf seine Weise.
Beim Schönstatt-Heiligtum in Delafield in der Nähe von Milwaukee sollte im
Mai 1965 ein Gedenkstein für Josef Engling, den im ersten Weltkrieg gefallenen
Mitgründer Schönstatts, eingeweiht werden. Der Stein, ein riesiger Findling aus
dem Indianerreservat im Norden von Wisconsin, kam nicht rechtzeitig an. Was
tun? Pater Kentenichs Seelsorgehelferin, eine engagierte Verehrerin Josef Englings kommt auf den Gedanken, einen vorläufigen „Gedenkstein” aus Blumen
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aufzustellen und mit ihm eine Maifeier im Geiste Josef Englings zu gestalten.
Aber, woher die dafür notwendigen Blumen nehmen, die es zu der Zeit gar nicht
gibt? Und wenn es sie gäbe, womit sie bezahlen? Wenigstens müßte man genügend Blumen haben, um daraus ein großes rotes Kreuz auf einer Gedenksteinattrappe zu gestalten.
Die Seelsorgshelferin wendet sich an die Beerdigungsinstitute der Stadt, von denen sie schon mal nach größeren Begräbnissen übriggebliebene Blumen „geerbt”
hatte. Heute aber hat sie fast alle Institute der Reihe nach angerufen – ohne Erfolg! In letzter Minute – sie kommt bereits zu spät zur Büroarbeit – erhält sie ein
riesiges Blumenbukett mit roten Nelken. Sie zählt sie. Es sind präzise 67 – ein besonderer Grund zur Freude, denn Josef Engling wäre in diesem Jahr eben genau
67 Jahre alt geworden!
Noch völlig unter dem überwältigenden Eindruck der 67 Nelken kommt sie ganz
aufgeregt zu Pater Kentenich und sprudelt alle ihre Erlebnisse heraus, erzählt
von ihrer Verlegenheit, ihren Anrufen, dass sie aufgeben wollte und sie nun diese Nelken gerettet haben, – redet wie ein Wasserfall und sprüht vor Begeisterung
über die besondere Fügung der Pater Kentenich hört sich alles geduldig an. Er
scheint kaum Anteil zu nehmen an dem eindrucksvollen Bericht. Schließlich unterbricht die Seelsorgshelferin sich selbst und ihren Wortschwall und erkundigt
sich vorwurfsvoll: „Aber Herr Pater, interessiert Sie denn das gar nicht? Gefällt
Ihnen die Geschichte etwa nicht??” – „Doch, doch!” läßt sich Pater Kentenich
jetzt gütig vernehmen. „Nur müssen Sie die ganze Geschichte jetzt noch einmal
erzählen.”
Die Geschichte mit den siebenundsechzig roten Nelken hatte ein Vorspiel, in der
der vertraute und vertrauensvolle Umgang Pater Kentenichs mit der übernatürlichen Welt besonders bezeichnend zum Ausdruck kommt.
Dass für seine Seelsorgehelferin – wie für viele in der Schönstattfamilie – Josef
Engling ein guter Freund und Helfer in allen Nöten war, war Pater Kentenich bekannt. Nun fehlt ihm eines Tages ein dringend benötigtes Schriftstück. Er sucht
längere Zeit in den Stößen von Sachen auf seinem Schreibtisch, in den Schubfä73
chern um den Schreibtisch herum ... vergeblich. Schließlich schlägt er seiner Seelsorgshelferin vor, sie solle es Josef Engling sagen, damit das Schriftstück endlich
gefunden werde. Sie aber meint, das soll er doch selbst tun. Er habe doch auch
gute Beziehungen zu ihm; Josef Engling sei immerhin sein geistlicher Sohn. Und
außerdem wisse sie ja gar nicht, was er suche. – Nein, erwidert er, er habe halt
die Gottesmutter gern; sie hingegen solle sich an Josef Engling wenden. Und mit
der Bemerkung, „Ich such‘ die Mappe”, verläßt er das Büro, um im Schlafzimmer
weiterzusuchen.
Die Seelsorgshelferin setzt sich hierauf in Pater Kentenichs Stuhl und „spielt” einfach mal: ‚Josef‘, sagt sie im stillen, hier ist deine Chance!‘ Sie zieht das Schubfach heraus, in dem Geschenksachen aufbewahrt werden und findet obenauf
eine alte graue Mappe. Diese legt sie einfach in Pater Kentenichs Stuhl und geht
wieder zum Schreibtisch. Er kommt zurück: „Da ist sie ja, die Mappe!”
Gemeinsam beten sie jetzt zu Josef Engling und danken ihm. Nach der feierlichen Zeremonie fanden sich Mitglieder aus. der „Deutschen Gemeinde” im nahe
gelegenen Farmhaus zusammen, um das Geschehen in einem natürlichen und
fröhlichen Beisammensein noch etwas nachzufeiern; sehr zur Freude Pater Kentenichs. Er ging dann auch bald daran, bei der Gestaltung selbst mitzumischen: Jeder, der in seine Nähe kam und den er dazu überreden konnte, mußte eine Steg–
reifrede halten.
Das Ereignis der siebenundsechzig Nelken fand auch ein Nachspiel, und zwar am
folgenden Tag, dem 30. Mai 1965, an dem die Feier mit dem ‚Gedenkstein aus
Blumen‘ stattfand.
Schließlich fand sich keiner mehr, und es gab auch in der Tat nicht mehr viel zu sagen. Da stand er selbst auf und hielt eine Ansprache. Sie fand folgenden Schluß:
„ …Das dritte Beispiel haben Sie hier (auf die Seelsorgshelferin deutend). Und
niemand im Lande hat so eine tiefe Beziehung zu Josef Engling. Wenn sie etwas
hat, das macht sie alles mit Josef Engling ab. Und der ist so dumm, der fällt immer darauf rein. Ich schlage vor, wir machen einmal eine Probe aufs Exempel. Sagen Sie nur: Das oder das wünsche ich = (mir), vom Mond oder ich weiß nicht
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woher. Versuchen Sie es, ganz gleich was …” Die Seelsorgshelferin beginnt sich zu
wehren und ruft dazwischen: „Herr Pater, bringen Sie den Josef und mich nicht in
Verlegenheit!” Und dann erklärt sie kurz, wie sie es wirklich mache. Wenn sie etwas brauche, sage sie immer: „Josef, laß mich nicht im Stich!” Oder noch kürzer:
„Seppl‘, blamier Dich nicht!”. Pater Kentenich: „Beispiel, Beispiel! Und jetzt muß
sie die Geschichte von den siebenundsechzig Nelken erzählen.”
Eines der wichtigsten Worte in den USA ist „business”-Geschäft. Leicht erliegt
man bei solcher Einstellung der Versuchung, auch menschliche Werte und Qualitäten mit solchen Kategorien zu messen. Man kennt die Gagen der Stars, taxiert
den Wert eines Sportlers nach dem Preis für Ankauf und Transfer. Zur Zeit des
Exils von Pater Kentenich in Milwaukee wurde der dortige recht berühmte Baseball-Club (Spieler, Management und Name), trotz großen Protestes der Bevölkerung, von einer anderen Großstadt der Staaten einfach aufgekauft.
Auch die amerikanischen Katholiken wissen sehr wohl, dass es in der Kirche Gottes nicht ohne „business” geht. Schließlich müssen alle Pfarreien und das ganze
ausgebaute katholische Schulsystem vom Klingelbeutel und den festen Beträgen für kirchliche Dienste erhalten werden. Auf diesem Hintergrund wird man
die spontane Reaktion Pater Kentenichs in der folgenden Geschichte verstehen
können.
Eine Marienschwester arbeitete in Milwaukee als Krankenschwester im Krankenhaus einer anderen Schwesterngemeinschaft. Es konnte nicht ausbleiben, dass
sie viel von ihrem Gründer sprach, der ja in derselben Stadt wohnte und auch von
ihm schwärmte: ein weiser Mann, ein gütig-väterlicher Mensch, kurzum, ein Heiliger. Die Begeisterung der Schwester weckte das Interesse und auch die Neugier
einer Schwester der anderen Gemeinschaft. Eines Tages beschließt sie, sich diesen Pater anzusehen. Sie erscheint in der Bluemound Road, wo Pater Kentenich
wohnt und kommt nach der Begrüßung direkt und unvermittelt mit ihrem Anliegen: „Father, ich möchte eigentlich gar nichts von Ihnen. Ich möchte Sie nur anschauen, denn diese Schwester sagt, Sie seien ein Heiliger.” Darauf Pater Kentenich prompt mit lautem Lachen: „Das kostet fünf Dollar!”
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Die einfachen Menschen, die in Milwaukee nach St. Michael zum deutschen Gottesdienst kamen, wußten nicht, wer eigentlich Pater Kentenich war. Der Gedanke, der leutselige Mann könne der Gründer eines weitverbreiteten Werkes und
mehrerer religiöser Gemeinschaften sein, lag ihnen völlig fern. Dass er gar in Milwaukee im Exil lebte, schien geradezu unglaublich. Für sie war er ein alter, liebenswürdiger Pater, der sich auf seinen Lebensabend hin noch etwas um die versprengten und vom Leben arg geschüttelten Deutschen kümmerte.
Pater Kentenich tat nichts, um einen anderen Eindruck zu vermitteln. Je weniger
die Leute von seiner eigentlichen Lebensarbeit wußten, um so selbstverständlicher fanden sie zu ihm, um so überraschter waren sie dann allerdings immer wieder von der schelmischen Originalität einerseits und dem großen geistigen Horizont dieser würdigen Persönlichkeit andererseits.
Ein Oldenburger aus dieser „Deutschen Gemeinde” besuchte Pater Kentenich
einmal in seinem Büro in der Bluemonnd Road. In vertraulichem Gespräch von
Mann zu Mann unterhalten sich die beiden angeregt über die Vergangenheit,
die Familie, die Arbeit, den Betrieb, die Gewerkschaft, das Leben überhaupt. Und
auch die große Politik kommt natürlich zur Sprache. Am Ende steht der Mann auf,
klopft Pater Kentenich auf die Schulter und verabschiedet sich treuherzig: „So,
Pater Kentenich, jetzt wissen Sie mal wieder alles!”
Pater Kentenich bittet ihn darauf, der Seelsorgshelferin doch noch etwas zu erzählen und verschwindet für kurze Zeit. Zurückgekommen, greift er plötzlich in
die rechte Tasche seiner weiten schwarzen Soutane, zieht eine lange Banane heraus und beginnt sie zu schälen. Lachend hält er sie dem Mann hin. Als dieser sie
gegessen hat, bringt Pater Kentenich aus seiner linken Tasche noch eine Banane
zum Vorschein, legt sie ihm in die Hand und meint: „Die ist jetzt für Ihre Frau!”
Dann entnimmt er wieder seiner rechten Tasche einen Apfel, gibt ihn zu der Banane und bestimmt: „Der ist für Sie!” Und noch ehe der Mann sich bedanken
kann, findet Pater Kentenich in seiner linken Tasche auch noch einen zweiten Apfel: „Und der ist für Ihre Frau.”
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Das Zimmer, das Pater Kentenich in den letzten Jahren seines Aufenthaltes in
Milwaukee bewohnte, hatte keine besonders ruhige Lage. Die Bluemound Road
gleich um die Ecke war eine der Ausfallstraßen der Stadt mit Verbindung zum
Hafen. Große Lastzüge brummten dort vorbei, so dass manchmal das Haus zitterte. Autos, die zum Innenhof der Schule einbogen, gaben, gerade um die Ecke
gekurvt, Gas vor dem Fenster seines Arbeitszimmers. Eine größere Garage, wo
die Autotüren zugeschlagen wurden, lag dem Eingang gegenüber. Dazu kam im
Sommer der ständige Brummton der im Fenster eingebauten Klimaanlage.
All diese Geräusche empfand einmal ein Besucher besonders störend. So stellte
er schließlich Pater Kentenich die Frage, die ihm die eigene Erfahrung aufdrängte: „Herr Pater, stört Sie dieser Lärm nicht?” – „Oh nein”, erwiderte Pater Kentenich, „ich freue mich daran. Und indem ich mich freue, überwinde ich das Abwehrgefühl dagegen.”
Pater Kentenich schloß mit der Erzählung, dass er einmal in einem Zimmer wohnte, in dem der Wasserkran tropfte. Das ständige Tropfen habe ihn nervös gemacht … bis er anfing, sich über das monotone „Klick, klick . . .” zu freuen.
Eine Familie der „Deutschen Gemeinde” in Milwaukee feierte Abschied von ihrem
Sohn, der weit fort von zu Hause eine besondere Schule besuchen sollte. Der Abschied fiel den Eltern wie dem Jungen nicht leicht. Pater Kentenich wußte darum
und ließ sich – entgegen seiner gewöhnlichen Zurückhaltung bei Einladungen zu
Mahlzeiten – zum Abendessen einladen. Er selbst hatte Besuch von drei jungen
Priestern, die ebenfalls mitkommen durften.
An einer länglich, festlich geschmückten Tafel nahm man Platz; Pater Kentenich
an einem Kopfende, die drei Priester links und rechts von ihm. Der Tisch war gedeckt mit allem, was die Hausfrau aufbieten konnte. Pater Kentenich nahm mehreres, aß aber wenig und unterhielt sich mit seinen Tischnachbarn und der Familie. Der Höhepunkt sollte zum Schluß kommen: Der Nachtisch, eine ganz besondere Spezialität aus der Heimat der Hausfrau. Man sah ihm an, dass er süß war.
Während die Gastgeberin stolz Name und Beschaffenheit des Gerichtes erklärte, kam sie auf Pater Kentenich zu. Er sollte ein besonders großes Stück davon er77
halten.
Pater Kentenichs linker Nachbar beobachtete die Situation gespannt und besorgt. Er kannte in etwa dessen Lebensgewohnheiten. ‚Was er jetzt wohl macht‘,
dachte er. ‚Er ißt abends gewöhnlich nichts und wegen seines Zuckers gleich zweimal nichts Süßes.‘
Freundlich nimmt Pater Kentenich das große Stück in Empfang, bedankt sich und
setzt sein Gespräch mit dem Nachbarn fort. Als die Hausfrau, den Nachtisch
austeilend, einige Plätze weiter gegangen ist, fragt er – mitten im Gespräch –
ganz ruhig seinen rechten Nachbarn: „Essen Sie solche Sachen gerne?” – „Oh ja”,
meint jener, „ganz besonders gern!” Darauf Pater Kentenich: „Helfen Sie mir!”
Ein Blick auf die gerade beschäftigte Hausfrau, und während er mit einem kräftigen Druck seiner Gabel den allergrößten Teil der süßen Herrlichkeit abtrennt und
dem verblüfften Nachbarn auf den Teller schiebt, setzt er schon wieder ganz ruhig sein Gespräch fort und ißt langsam seinen kleinen Rest.
Die Predigten, die Pater Kentenich jeden Sonntag in St. Michael in Milwaukee
hielt, waren für seine Zuhörer recht anspruchsvoll. Einmal wegen des Inhalts: Pater Kentenich war der Ansicht, man müsse der Gefahr wehren, die Zuhörer zufriedenzustellen, indem man einfach unterhaltsam predige. In einer durch Existenzkampf und Konsum seelisch verflachenden Gesellschaft müßten die letzten
Wahrheiten gekündet, das „nahrhafte Schwarzbrot des Glaubens” ausgeteilt werden. Dann aber auch wegen des Stils: Pater Kentenich sprach kraftvoll, aber doch
auch distanziert, jede rhetorische Suggestion bewußt meidend. Zum dritten wegen der Länge. Eine Predigt von dreißig Minuten war eher als kurz zu bezeichnen;
fünfunddreißig Minuten und etwas darüber konnte man jederzeit erwarten.
Den Leuten gefiel das verständlicherweise nicht. Dass sie in der Predigt nicht alles verstanden, konnten sie ertragen. Aber dass sie so lang war, das regte einige
Gemüter auf.
Im kleinen Kirchenchor der „Deutschen Gemeinde” machte sich einmal der Ärger darüber Luft. In der Hitze der Diskussion meinte einer: „Glaubst Du, der Pa78
ter könnte drei Stunden an einem Stück predigen, und der Stoff ginge ihm immer
noch nicht aus!”
Drei Stunden lang hat Pater Kentenich in Milwaukee nicht gepredigt. Aber dass
ihm der Stoff nicht ausging, das sollte sich am Sonntag, den 9. Dezember 1962,
zeigen. Die Predigt kündete – das Fest der Unbefleckten Empfängnis vom Vortag
nachkostend – die Herrlichkeiten der Gottesmutter. Drei Worte des heiligen Bernhard gliederten die Predigt:
1. Die Gottesmutter ist das Werk Gottes, das alle anderen endlos übersteigt.
2. Auch zu ihrer Verherrlichung wurde die ganze Welt erschaffen.
3. Gott wollte, dass wir keine Gnade erhalten ohne ihre Mitwirkung.
Dann kam die Anwendung: Wir sollen selbst Mariengestalten werden.
Er aber hob von neuem an: Leo XIII. sagt oft, die Gottesmutter ist ein Wunder.
Eine neue Gliederung kündigt sich an (nach fünunddreißig Minuten): Sie ist ein
Wunder in der natürlichen Ordnung, Jungfrau und Mutter zugleich. Auch davon
sollen wir ein Abbild sein (vierzig Minuten). Allerdings, „das sind wohl Gedanken, die uns ungewohnt erscheinen...” Mitten im Satz bricht der Prediger ab und
meint: „Jetzt weiß ich nicht, wie spät es ist. Meine Uhr steht…Wie spät ist es?”
Aus den ersten Reihen erhält er Auskunft: „Zehn vor elf.” – „Du meine Güte …
meine Uhr zeigt immer noch zehn nach zehn! Muß ich Schluß machen. Nos cum
prole pia. und leise in sich hineinlachend eilt er zum Altar, um die heilige Messe
fortzusetzen.
Für seine langen Predigten hatte Pater Kentenich gute sachliche Gründe: Die
moderne Seele wird durch kurze Eindrücke, vor allem wenn sie sehr intensiv sind,
eher aufgeputscht. In ihrer Freiheit bewahrt und in der Tiefe geprägt wird sie
durch den stetigen Tropfen, den „Rieselregen” einer glaubenstiefen Verkündigung.
Jenseits aller sachlichen Begründungen aber war auch klar, dass die lange Predigt Pater Kentenich entsprach. Sie war unabhängig ob modern und beliebt oder
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nicht – sein persönlicher Stil.
In den sechziger Jahren wurde Pater Kentenich berichtet, einer der Schönstattpriester sei in seinem Land ein „Starprediger” geworden. Jede Woche predige er
im Fernsehen. Pater Kentenich horcht auf: „So, das ist ja großartig. Wie lange
predigt er denn!”- „Zehn Minuten!”- „Zehn Minuten nur?” – ,Ja, Herr Pater, wenn
man bedenkt wieviel Leute dadurch erreicht werden, und wie intensiv das Fernsehen wirkt, dann ist zehn Minuten Fernsehzeit sehr viel.” Pater Kentenich zögert
und wiegt den Kopf. „Hm”, meint er e schließlich, „das wäre nichts für mich.”
Natürlich kam die Unzufriedenheit der Leute über die langen Predigten auch Pater Kentenich zu Ohren. Er hörte sich die Klagen an und antwortete darauf in einer der folgenden Sonntagspredigten. Ungefähr so: Er wisse, dass er lange predige, aber er meine, wir alle müßten uns um die Wahrheiten des Glaubens mühen,
damit unser geschwächter Glaube wachse. Es sei wohl wahr, dass keiner die ganze Predigt hindurch aufpassen könne. Aber das sei auch nicht notwendig. Er sage
für viele Leute etwas. Jeder möge sich aussuchen, was ihn anspreche, und dabei
betrachtend verweilen. Da nun aber solche Unzufriedenheit über die Länge der
Predigt aufgekommen sei, werde er sich vornehmen, an den kommenden Sonntagen kürzer und mit mehr Beispielen zu predigen.
An diesem Sonntag dauerte die Predigt dann auch tatsächlich nur zwanzig Minuten. Ebenso am darauffolgenden Sonntag. Danach wurden es aber bereits
fünfundzwanzig Minuten, und nach einem Monat hatte die Predigt wieder die
gewohnte Länge.
Pater Kentenich wußte selbst, dass er nie mit dem fertig wurde, was ihm auf der
Seele brannte. Kaum einmal konnte er in einer Schrift und einem Kurs die angekündigte Gliederung zu Ende führen. Oft meinte er am Ende einer Vortragsreihe, er sei jetzt gerade mit der Einleitung fertig. So fruchteten alle Vorsätze, kürzer zu reden, nichts. Deshalb kommentierte er solche Situationen mit schalkhaftem Blick. Man müsse unterscheiden zwischen Versprechen und Vorsatz: Versprechen müsse man halten. Bei Vorsätzen komme es vor allem auf den guten Willen an. Er verspreche ja nicht, kürzer zu reden, er nehme es sich nur vor. Das frei80
bleibende Angebot!
Das hervorstechende Merkmal von Pater Kentenichs Lehr- und Predigttätigkeit
war aber keineswegs die Länge der Reden; es war die Tiefe und Fülle der Gedanken und Wahrheiten in Anpassung an die Zeit- und Seelenlage seiner Zuhörer.
Die Darlegung der Gedanken war dabei getragen von großer Zurückhaltung und
Ehrfurcht vor dem Gegenüber. Es war große innere Bewegung, aber nichts Suggestives in der Rede Pater Kentenichs. Gerade deshalb wirkte sie auf manchen
Hörer anfangs oft abstrakt und theoretisch. Aufmerksam zuzuhören war infolgedessen – im wahren Sinne des Wortes – anspruchsvoll. Die Seele wurde bewegt,
auf einen Höhenweg mitgenommen, mit tiefer Wahrheit angefüllt. Und – auch
das – nicht die Langeweile ermüdete.
Im Rahmen einer längeren und intensiven Schulung machte ein Theologe die
entsprechende Erfahrung. In den ersten Vorträgen blühte er förmlich auf. Er hing
an jedem Wort . Pater Kentenichs. Nach einigen Tagen wurde er aber müde und
schlief – trotz Gegenwehr – im Vortrag ein. Es passierte ihm mehrere Male nacheinander. Da er in der ersten Reihe, also direkt vor Pater Kentenich saß, schämte
er sich nicht wenig. Als er einmal wieder eingeschlafen war, ging er zu Pater Kentenich und wollte sich entschuldigen. Jener nahm . die Entschuldigung erst gar
nicht an, sondern erklärte den Vorgang: Er habe sehr wohl registriert, wie der Zuhörer den ersten Vorträgen aufmerksam gefolgt sei. Jetzt sei seine Seele voll; sie
könne nichts mehr aufnehmen. Deshalb solle er ruhig und fest schlafen. Da er in
der Atmosphäre des Kurses bleibe, werde er bald wieder wach werden und der
Gedankenlinie folgen können. Und so geschah es.
Die Bewegungen Pater Kentenichs hatten ein ganz besonderes Gepräge. Bei näherer Beobachtung und tieferem Nachdenken entdeckte man, dass sie adäquater Ausdruck einer spannungsreichen, aber zu innerer Harmonie gelangten Persönlichkeit waren: Seine Haltung war aufrecht, königlich, der Schritt fest und energisch; die Bewegung der Hände – und dabei manchmal vor allem die der Finger
– Zeichen einer großen Lebendigkeit und Spontaneität. Dabei war nichts künstlich und „gemacht”. Die Bewegung des Geistes dominierte. Sie benützte den körperlichen Ausdruck, ohne auf ihn besonders zu achten. Der Leib war, wie er selbst
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oft lehrte, „Spiegel der Seele”.
Bei keiner anderen Handlung konnte ein Beobachter das so sehr erleben wie bei
der Feier der heiligen Messe: Die liturgischen Gesten vollzog Pater Kentenich so
ruhig und doch wiederum so flüssig, so gleichbleibend und doch gar nicht mechanisch oder gar theatralisch, dass sie vor allem den Eindruck einer großen Sammlung und eines seelischen Geschehens vermittelten, dessen äußerer Gestus sie
waren.
Dieses Verhältnis von Andacht und Ausdruck konnte zu Situationen führen, die
äußerst komisch gewirkt hätten, wären nicht auch sie wieder auf Grund des geistigen Geschehens beinahe selbstverständlich gewesen.
So vollzog sich die Opferung in dem sparsamen, aber ganz gesammelten Gestus
der Darbringung von Brot und Wein. Darauf folgte die kurze Verneigung mit dem
zusammenfassenden Aufopferungsgebet und die Wendung nach rechts zur Händewaschung. Pater Kentenich hielt dem Ministranten dabei ganz kurz Daumen
und Zeigefinger beider Hände hin .und tupfte sie dann auf dem bereitgehaltenen Tüchlein nur ab. Verspätete sich nun der Ministrant mit Abstellen des Weinkännchens und Bereitmachen der Geräte für die Händewaschung, dann konnte
es geschehen, dass Pater Kentenich, ganz in Andacht versunken, zur rechten Altarseite kam, seine Hände für das „Lavabo” ausstreckte, die Geste des Abtupfens
e machte – in die Luft – und schon wieder in der Mitte des Altares und auf dem
Weg zum „Orate fratres” war, bevor der Ministrant mit dem Wasser ankam.
Man wird sich kaum wundern, dass bei solcher Andacht und Sammlung im liturgischen Vollzug die Erneuerung der Liturgie und der Rubriken durch das Zweite
Vatikanische Konzil bei Pater Kentenich zuerst eher störend wirkte. Bei ihm mußte die durch die Vereinfachung bedingte Änderung der Formen – im Gegensatz
zur Intention der Kirche und der Erfahrung der Gläubigen – zuerst einmal vom eigentlichen Geschehen ablenken. Als deshalb die liturgische Reform in Kraft gesetzt wurde – es war während seines Aufenthaltes in – Milwaukee – zeigte Pater
Kentenich die Tendenz, weiterhin seine Messe wie bisher in Latein zu feiern. Er
erfuhr aber bald, dass jemand daran Anstoß nahm. Daraufhin entschloß er sich,
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am nächsten Tag – und von da an in den USA immer die Messe in Englisch zu
feiern. (Erst 1965 nach seiner -Rückkehr nach Schönstatt kehrte er zu seiner alten Gewohnheit zurück, seine Messe still und wie seit Jahren „eingebetet” in Latein zu feiern.)
Man weiß von Heiligen – dem heiligen Thomas zum Beispiel -, dass es sie Anstrengung kostete, eine Betrachtung zu beenden oder ein Gebet abzubrechen. So
tief war die Versunkenheit in Gott. Solche Gegebenheiten im Leben heiliger Menschen kamen einem in den Sinn, wenn man die erste Messe Pater Kentenichs auf
Englisch miterlebte. Er schwitzte vor Anstrengung. Und dies sicherlich zum geringsten Teil wegen der englischen Sprache, in der er damals schon einfache Ansprachen halten konnte, sondern weil ihm die Konzentration auf die neue Form
die Sammlung raubte. Nur allmählich, über mehrere Tage hinweg, kehrte die gewohnte Andacht und Atmosphäre der täglichen Messe bei Pater Kentenich zurück.
Von 1959 bis zu seiner Rückkehr nach Europa im September 1965 feierte Pater
Kentenich jeden Sonntag um 10 Uhr eine heilige Messe in der Unterkirche von
St. Michael für die deutschsprachigen Katholiken in Milwaukee. Im Rahmen der
liturgischen Erneuerung war eines Sonntags der Altar von der Wand abgerückt
und zum vorderen Rand der Altarstufe geschoben worden. Es sollte „versus populum”, dem Volk zu zelebriert werden. Pater Kentenich hatte dies noch nicht getan, da im Heiligtum bei Holy Cross, in dem er werktags die heilige Messe las,
der Altar unverändert blieb.
Die Umstellung schien Pater Kentenich keine Schwierigkeiten zu bereiten.
Alle Richtungen schienen zu stimmen: Das Meßbuch war – vom Priester aus
gesehen – immer noch links, Wasser und Wein weiterhin rechts.
Und ob das Gesicht dem großen Altarkreuz oder jetzt dem Volk
zugewandt war, konnte die heilige Handlung nicht stören.
Lediglich, wenn man sich früher am Altar umgedreht hatte, um dem Volk einen liturgischen Gruß zu geben, stimmte die Richtung nicht mehr. Das „Dominus vobis83
cum” vor der Oration gab es inzwischen nicht mehr. Die erste Möglichkeit, die bei
der Verwirrung eintreten konnte, ergab das Ende der Opferung. Verwirrung trat
zwar nicht ein, aber es geschah, dass Pater Kentenich nach dem Altarkuß sich
andächtig vom Volk weg zur Wand drehte, das „Orate fratres… Betet Brüder …”
sprach, erst jetzt merkte, was er getan hatte, lächelnd wieder zum Altar und zum
Volk zurückkehrte, um aber dann völlig gesammelt das sakramentale Geschehen
der Gegenwärtigsetzung Christi unter uns Menschen fortzusetzen.
Über Pater Kentenichs Auffassung und Art der Sonntagspredigt wurde schon berichtet. Tatsache ist, dass für ihn jede Predigt ein ganz persönliches und lebendiges Glaubenszeugnis war. Er lebte in seiner Predigt, und er wollte, wenn auch in
der Form äußerst vornehm und zurückhaltend, dass seine Zuhörer ebenfalls ganz
von den Wahrheiten des Glaubens erfüllt seien.
Am Pfingstsonntag, dem 6. Juni 1965, sprach Pater Kentenich über die Einwohnung des Heiligen Geistes in der menschlichen Seele und über das vielfältige
Spiel der Liebe zwischen Gott und den Menschen, das daraus erwachsen soll, das
die Rätsel des Lebens löst und uns von uns selbst befreit. Wuchtig klang es in der
Predigt: „Nicht ich …Du, Du, Du!”
Noch spürbar bewegt von seiner Verkündigung, kehrt Pater Kentenich von der
Kanzel zum Altar zurück und betet mit dem Volk das Glaubensbekenntnis. Dann
schlägt er, während die Gläubigen das Lied zur Opferung singen, mit dem Bändel das Meßbuch um – und breitet die Arme aus zur Oration …???
Der Ministrant auf der Evangelienseite folgt den liturgischen Gesten und gewinnt
den Eindruck, dass Pater Kentenich, statt der Opferung bereits das Gabengebet
spricht. Tatsächlich: nach weiterem Umblättern breitet der Zelebrant wieder die
Arme aus: Präfation. Der Ministrant hofft, Pater Kentenich werde bei der Verneigung zum Sanctus merken, dass der Kelch ja noch zugedeckt ist. Aber nein, weiteres Umblättern: Hochgebet. Jetzt steigt er die Altarstufen hoch, tritt an Pater
Kentenichs Seite und flüstert: „Herr Pater, die Opferung!” Pater Kentenich stutzt,
tut einen kleinen Ruck des Erkennens, deckt im nächsten Augenblick den Kelch
ab, erhebt die Patene zur Opferung des Brotes und ist schon wieder ganz in der
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Andacht des eucharistischen Geschehens.
Um die Zeit seines Goldenen Priesterjubiläums, das er am 8. Juli 1960 feierte, bescheinigte Pater Kentenich mehrfach schriftlich und mündlich, dass er einen „körperlichen und geistigen Verjüngungsprozeß” durchmache. Die Beobachtung von
außen bestätigte die Aussage. Obwohl der Gründer in seinen letzten Jahren unübersehbar ein Mann hohen Alters war, bewahrte er sich bis zu seinem Tode kurz
vor Vollendung seines 83. Lebensjahres eine stramme und zuchtvolle Körperhaltung. Sein Geist war agil wie eh und je, die Arbeitskraft bis zur letzten Krankheit
hin ungebrochen.
Auf seine Leistungsfähigkeit angesprochen, konnte er schon einmal eine Bemerkung machen über den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dessen Schaffenskraft und „jugendliche” Beweglichkeit bis ins hohe Alter.
Mit ihm fühlte er sich in dieser Beziehung offenbar verwandt.
Sein inneres Lebensgefühl war entsprechend. Wohl nie fühlte sich Pater Kentenich alt in einem gebrechlichen Sinn. Das zeigte sich am deutlichsten, wenn er
über das Alter anderer sprach.
Nach 14jähriger Abwesenheit von Schönstatt kam es bei der Rückkehr, als er
eine noch um mehrere Jahre jüngere Oberin begrüßte, spontan von den Lippen
des inzwischen Achtzigjährigen: „Alt geworden!”
In den sechziger Jahren wurde ihm der Tod eines früheren Schülers und späteren Mitarbeiters an der Zentrale in Schönstatt mitgeteilt. Er nahm sehr Anteil an
dem Tod. Außer den näheren Umständen, unter denen der Verstorbene verschieden war, interessierte ihn auch dessen Alter und das einiger seiner ehemaligen
Mitschüler. Als ihm gesagt wurde, der Pater sei mit 68 Jahren gestorben, meinte
er versonnen: ,Ja, ja, unsere Patres sind doch schon recht alt.”
Die USA sind das Land des „Baseball”, ein Schlagballspiel, in dem es darauf ankommt, mit einem runden Holz einen harten Ball – meist etwas größer als ein
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Tennisball – so weit wie möglich über ein Feld zu schlagen.
Auf dem Rasen vor dem Heiligtum in Milwaukee geschah es schon einmal, dass
die älteren Jungen der Pfarrschule von „Holy Cross” Baseball spielten.
An einem Nachmittag im Mai 1963 sahen sie dabei den ihnen längst vertrauten alten Pater mit dem weißen Bart auf dem Gehsteig der an das Grundstück
angrenzenden Wisconsin Avenne auf und ab gehen. Er war in Begleitung eines
jüngeren Herrn; beide schienen ganz in ein tiefschürfendes Thema vertieft zu
sein. Da trifft einer der Jungen mit seinem Schläger den Ball genau in der Mitte. Hoch fliegt dieser Ball über das ganze Feld und schlägt wenige Meter vor der
Straße und den beiden Spaziergängern auf. Zur großen Überraschung nicht nur
der Jungen, sondern auch des ganz gesammelt zuhörenden Begleiters macht in
dem Augenblick der würdige Pater ein paar behende Schritte nach vorne, stoppt
den Ball mit dem Fuß, bevor er auf die Straße rollt und kickt ihn vorsichtig den
Jungen zurück. Dann setzt er ruhig und ganz gesammelt das kurz unterbrochene Gespräch fort.
Ganz selten geschah es während seiner Zeit in Milwaukee, dass Pater Kentenich
sich das Vergnügen eines Ausflugs leistete. Dann geschah es, um jemand anderem eine Freude zu machen. In den letzten Jahren der Milwaukeezeit führte ein
solcher Ausflug immer zu dem am Michigansee gelegenen Grant-Park. Man ging
auf den ausladenden und teils von Bäumen überschatteten Grünfl ächen spazieren. Zum Abschluß gab es ein „Picknick” an einem der zahlreichen Picknickplätze auf dem Gelände.
Unweigerlich führte der Spaziergang zum Ufer des weiten Sees. Pater Kentenich
stand dann gerne ganz ruhig da und blickte über das Wasser…wäh-rend die jüngeren Begleiter nicht widerstehen konnten, mit demselben zu spielen: Sie sammelten flache Kieselsteine und warfen sie so flach, dass sie über das Wasser hüpften; je häufiger, desto besser. „Pfludern” nennt sich dieses Kinderspiel in manchen Gegenden Deutschlands.
Pater Kentenich schaute dem Treiben zu, bis einer der Begleiter mit einem schön
flach gewaschenen Stein auf ihn zukam und mit verschmitztem Gesicht meinte:
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„Den schenke ich Ihnen, Herr Pater.” – „Schön gesagt”, meinte jener, trat an den
Rand des Wassers, holte kräftig aus und warf den Stein. Gespannte Sekunden.
Dann wandte er sich strahlend um. Die Geste der Hand und die Worte verkündeten den Erfolg: Dreimal war der Stein gehüpft.
Wenn man in den Evangelien liest, wie die Apostel stritten, wer denn wohl der
größte sei und wer auf der rechten und linken Seite Jesu auf Thronen sitzen dürfe; wer betrachtet, wie sie andere Leute von Christus fernhielten (um ihn für sich
zu haben), in dem mag schon einmal die Frage aufsteigen, wie solche Menschlichkeiten in Gegenwart des Gottmenschen möglich waren.
Erfahrungen mit einem Gottesmann wie Pater Kentenich geben einen Schlüssel zur Beantwortung einer solchen Frage Die unvollkommenen Reaktionen der
Apostel waren wohl nur möglich, weil sie sich von ihrem Meister ganz angenommen wußten, von ihm ganz angezogen, fasziniert waren und deshalb ihren Gefühlen freien Lauf ließen. So kamen auch die unvollkommenen Stadien ihrer Liebe zum Ausdruck, in denen sie ihren Meister zuerst einmal für sich haben, selbst
in seiner Nähe sein wollten. Es war die Aufgabe Jesu, solche Anhänglichkeit
nicht zu zerschneiden, sondern wachsen zu lassen und zu läutern.
Dem Vorbild Jesu entsprechend war Pater Kentenich ein Meister darin, die Liebeskraft eines Menschen, ganz gleich, auf welcher Stufe, zu wecken, sie – oft mit
großer Geduld – zu läutern und zu selbstloserer Liebe zu führen. Die folgende Geschichte illustriert den Vorgang.
Zwei Priester besuchten Pater Kentenich in Milwaukee. Ein Fräulein schlug ihm
vor, mit seinen Besuchern an einem schönen Nachmittag einen Ausflug zum
Grant-Park am Michigansee zu machen. Pater Kentenich nahm die Einladung an.
Die Gastgeberin stellte den Wagen zur Verfügung und bereitete ein großzügiges
Picknick vor, aber: es sollten nur Pater Kentenich und seine Besucher eingeladen
sein, - sonst niemand.
Hier nun setzte Pater Kentenich mit seiner Erziehung an. Aus eigener Initiative
lädt er zum Ausflug vier weitere Bekannte ein, die in seinem Wagen mitfahren
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sollten. Und als er mit seinen Besuchern erscheint, um abzufahren, steht auch der
zweite Wagen bereit, um zu folgen. Das paßt nun dem Fräulein überhaupt nicht.
Sie versucht, im Stadtverkehr den nachfolgenden Wagen abzuschütteln, indem
sie häufig die Richtung wechselt und ungewohnte Straßen durchfährt. Aus dem
Manöver wird ein kleines Verfolgungsrennen. Schließlich verfährt sie sich in der
Stadt derart, dass sie nicht mehr weiß, wo sie ist. Sie muß anhalten, den nachfolgenden Wagen nach Weg und Richtung fragen und ihm die Führung überlassen
Eine bittere Pille.
Pater Kentenich hat sich während der ganzen Fahrt angeregt mit den beiden
Priestern unterhalten, als merke er nichts. Im Park angekommen, strahlt er neben seiner unerschütterlichen Ruhe die Freude über Landschaft und Natur, das
Wetter und was sonst noch aus, so dass jegliche Spannung und aller Mißmut geradezu verfliegen muß. Und so sitzt man nach einem Spaziergang am See entlang auch friedlich an einem der Picknickplätze um einen Tisch, plaudert angeregt und genießt die guten Sachen, die da alle aus den Vesperkörben hervorkommen.
Mitten im Schmaus und in der Unterhaltung, als die Gastgeberin Pater Kentenich
etwas anbietet, kommentiert er freundlich, aber laut, dass alle es hören können:
„Nicht wahr, so ein Ausflug ist doch viel schöner, wenn es mehr Leute sind!”
Pater Kentenich kennenzulernen, war selten nur ein äußerer Vorgang, der sich
lediglich mit dem Verstand vollzog und bestenfalls im Gedächtnis haften blieb.
Weil Pater Kentenich sich jedem öffnete, der auf ihn zukam, wurde auch das Herz
angesprochen. Eine tiefe Bindung gegenseitiger Zuneigung und Liebe entstand.
Ein Deutscher, der sich mehrere Wochen in Milwaukee aufhielt, erfuhr genau dieses. Die Begegnungen und Gespräche, die er mit dem Seelsorger der Deutschen
hatte, weckten ein tiefes Echo in dem jungen Mann. Wie man ganz treffend sagt:
Er hing an Pater Kentenich.
Um so unangenehmer wurde ihm der Gedanke an den Abschied. Schon in den Tagen davor drückte dieser Gedanke die Stimmung. Den Abschiedstag selbst und
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das Abschiednehmen legte sich der Besucher deshalb sorgfältig zurecht. Er bat
Pater Kentenich, zu einer bestimmten Stunde ins Heiligtum zu kommen, um gemeinsam mit ihm zu beten. Dann sollte ein letztes Gespräch in seinem Zimmer
folgen, danach noch ein Foto vor der Fatimagrotte und schließlich der Abschied.
Pater Kentenich erklärte sich mit allem einverstanden.
Wer aber am Abschiedstag zur abgemachten Zeit im Heiligtum nicht erschien,
war Pater Kentenich: die erste Enttäuschung für den jungen Mann. Nach langem Warten fand er dann heraus, dass Pater Kentenich Besuch hatte von einer
Frau aus der Nachbarschaft (die er am liebsten an den Nordpol gezaubert hätte). Auch aus dem Gespräch wurde nichts, weil die Frau immer noch nicht gegangen war. Schließlich drang die Seelsorgshelferin in das Arbeitszimmer ein, damit
wenigstens die Aufnahme noch gemacht werden könnte Pater Kentenich kam,
brachte aber auch dazu die Frau mit Die Frau mußte sogar noch mit auf das Foto.
Danach drängte Pater Kentenich – unverständlicherweise – zur schnellen Abfahrt, obwohl noch etwas Zeit übrig gewesen wäre. Der Scheidende konnte keine
Minute mit ihm allein sein, und ihm wurde schmerzlich klar, dass Pater Kentenich
die Frau bewußt da behalten hatte. Der ganze Abschied war verdorben.
Einige Jahre später traf der Besucher von Milwaukee wieder mit Pater Kentenich
zusammen. In einem Gespräch, das an die damalige Begegnung anknüpfte, erwähnte er den Abschied und gestand seine Enttäuschung und sein Unverständnis, warum Pater Kentenich die Frau denn nicht fortgeschick habe. „Wissen Sie”, –
meinte jener, „das mache ich immer so, wenn der Abschied schwerfällt. Schon die
Tage vorher habe ich gemerkt, wie schwer er Ihnen fallen würde. Und wenn man
dann beim Abschied ständig beieinander ist, wartet, bis die Zeit kommt und sich
doch nicht trennen möchte, dann wird die Sache immer schlimmer. Ich habe die
Zeit mit Ihnen verkürzt, damit Ihnen der Abschied leichter falle.”
Pater Kentenich besaß eine besondere Meisterschaft darin, seelische Vorgänge
verständlich zu machen und sie erzieherisch auszuwerten. So benutzte er für den
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seelischen Konflikt der Verdrängung gerne das Bild von den Fischlein im Teich:
Die Seele sei wie ein Teich, der bei kaltem Wetter zufrieren kann. Für die Fischlein
im Teich – die unverdauten Eindrücke des Unbewußten – stellt das ein besonderes Problem dar. Sie wollen an die Oberfl äche, können aber nicht. Deshalb stören
sie das seelische Gleichgewicht.
Im Jahre 1965 betreute Pater Kentenich eine Person, die offenbar von mehreren Fischlein im zugefrorenen Teich geplagt war. Pater Kentenich hatte den seelischen Sachverhalt an Hand des Bildes erklärt und die Person ermutigt, die Fischlein an die Oberfl äche kommen zu lassen. Immer, wenn dies geschähe, das heißt,
wenn schmerzhafte und deshalb verdrängte Erinnerungen im Bewußtsein auftauchten, dürfe sie ihn anrufen und davon erzählen. Er werde die Fischlein „schlucken”; dann seien sie verschwunden.
Im Juli 1965 kommt nun von Rom die Nachricht nach Milwaukee, dass die Schönstattpatres, die neue pars centralis et motrix des Werkes, gegründet werden könne: verständlicherweise eine große Freude für Pater Kentenich. In der freudigen
Atmosphäre über die gute Nachricht läutet das Telefon. Es meldet sich die oben
erwähnte Person: Sie habe wieder ein Fischlein und wolle es ihm mitteilen. Nein,
meint Pater Kentenich freundlich, heute sei ein besonderer Tag, weil die neue Patresgemeinschaft gegründet werden dürfe. Sie solle sich herzlich mitfreuen. Das
Fischlein habe Zeit bis morgen. Heute kein Fisch!
Mit einem Besucher schickt sich Pater Kentenich an, einen Spaziergang zu machen. Es war im Dezember 1964 in Milwaukee und bitterkalt. Beim Verlassen des
Hauses stellt er fest, dass sein Besucher keine Kopfbedeckung hat. Alles Beteuern, dass dies nicht schlimm sei, hilft nichts. „Nein, nein”, meint Pater Kentenich,
„nehmen Sie meinen Hut. Es ist ein Prophetenhut. Außerdem habe ich kürzlich
einen neuen geschenkt bekommen für meine baldige Heimkehr. Den muß ich sowieso einmal ausprobieren.” Er geht zurück in sein Zimmer und holt den neuen
Hut, der genauso aussieht wie der alte.
Also spazieren zwei Herren auf und ab, mit genau dem gleichen Hut auf dem
Kopf – mit nur einem Unterschied: Da der Kopf des Besuchers merklich kleiner ist
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als der Pater Kentenichs, steht ihm der Hut auf beiden Ohren auf.
Die Erscheinung Pater Kentenichs strahlte – obwohl von relativ kleinem Wuchs –
Kraft und Würde aus bis ins hohe Alter. Der Blick war klar und gütig, die Haltung
aufrecht, der Schritt fest.
Gegen Ende seines Lebens fiel die Kniebeuge schwer, aber jede ging bis auf den
Boden, und immer noch hatte sie etwas Federndes: Langsam ging sie nach unten, und schnell richtete der Körper sich wieder auf.
Es waren deshalb nur zum kleineren Teil die zunehmenden körperlichen Gebrechen Pater Kentenichs, zum größeren Teil aber Verehrung und Zuneigung seiner
Umgebung, die sie | veranlaßten, ihm bei verschiedenen Gelegenheiten beizuspringen und mit kleinen Diensten und guten Ratschlägen helfen zu wollen. Pater Kentenich lehnte solche Betreuung häufig energisch ab: „Ich bin kein Großvater, sondern ein Vater”, konnte er in solchen Fällen sagen.
Es waren deshalb nur zum kleineren Teil die zunehmenden körperlichen Gebrechen Pater Kentenichs, zum größeren Teil aber Verehrung und Zuneigung seiner Umgebung, die sie veranlaßten, ihm bei verschiedenen Gelegenheiten beizuspringen und mit kleinen Diensten und guten Ratschlägen helfen zu wollen. Pater Kentenich lehnte solche Betreuung häufig energisch ab: „Ich bin kein Großvater, sondern ein Vater”, konnte er in solchen Fällen sagen.
Im Jahre 1965 – also in Pater Kentenichs achtzigstem Lebensjahr – machte die
„Deutsche Gemeinde” von St. Michael an einem Maisonntag eine Wallfahrt zum
Heiligtum der Gottesmutter in Delafield, etwa 25 km außerhalb von Milwaukee. Nach der Maiandacht mit Ansprache gab es eine Erfrischung im danebenliegenden Farmhaus. Vor Pater Kentenich standen auf dem Tisch mehrere Getränke. Um die anderen zum Zugreifen zu ermuntern, griff er selber nach einer Flasche Bier und schickte sich an, sie zu öffnen. Die, Flasche war mit einem Kronkorken verschlossen. Der Öffner packte nicht richtig und rutschte ab. Von links
und rechts wollten Hände zugreifen und helDer Öffner rutschte erneut ab und
die spitzen Kanten der Metallkappe ritzten sogar den Rücken des Mittelfingers.
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Pater Kentenich würdigte die inzwischen unruhige und sich auf dem Sprung befindende Nachbarschaft keines Blickes. Er setzte erneut an und öffnete die Flasche. Er selbst. Allein.
Mit dem 13. September 1965 begann das Ende von Pater Kentenichs Exil. Am
18. September flog er nach Rom. Am 22. Oktober wurden die kirchlichen Dekrete gegen ihn aufgehoben. Am I0. November feierte er mit den führenden Vertretern der Schönstattbewegung in Rom seinen achtzigsten Geburtstag. Ein alter
Mann, möchte man denken. Was wird er wohl überhaupt noch tun können? Hat
ihn die Kirche etwa nur begnadigt, weil er inzwischen ein bedauernswerter Greis
geworden ist?
So war es nicht. Und vor allem dachte die Schönstattfamilie nicht so. Sie wartete auf den Vater und Gründer mit Erlebnissen und Erfahrungen, die es zu berichten gab, mit Unternehmungen und Projekten, die überprüft werden mußten, mit
Fragen, die eine Antwort verlangten, und vor allem mit der Bereitschaft, sich erneut von ihm formen und führen zu lassen. Ein Berg von Arbeit wartete. Würde
er den Gründer erdrücken?
Pater Kentenich dachte nicht so. Sein Lebensgefühl von ungebrochener Energie
und geistiger Vitalität kam spontan zum Ausdruck auf einem Spaziergang im geliebten Friedhof- direkt seinem Domizil in Milwaukee gegenüber – im Juni 1965.
Möglichkeiten, dass das Exil zu Ende gehe, zeichneten sich damals ab. Die Gedanken eilten den Ereignissen voraus und beschäftigten sich schon damit, was
dann wohl geschehen würde. Der Begleiter auf diesem Spaziergang meinte in
diesem Zusammenhang: „Herr Pater, wenn Sie nach Hause kommen, dann bringt
sie die Schönstattfamilie um.” Pater Kentenich schmunzelte hintergründig vor
sich hin und meinte: „Wir wollen sehen, wer wen umbringt!”
Die Stunden seines Lebens, in denen Pater Kentenich geredet hat – immer stehend übrigens – können nicht gezählt werden. Sie dürften, aneinandergereiht,
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die Zeit von mehreren Jahren umfassen. Dabei ist die reine Menge wiederum
nur indirekt wichtig und bezeichnend. Sie ist Ausdruck eines ungeheuren Dranges, die „Welt” mitzuteilen, die er in sich trug. Von allem, was in der Zeit geisterte, konnte er sich anregen lassen, alles konnte er analysieren und zu allem vom
Standpunkt seiner religiösen Erkenntnis und Erfahrung aus Stellung nehmen.
„Man hat den Eindruck”, meinte einmal jemand, „dass er unter einem ständigen
Ansturm von Gedanken steht und dem Drang, sich mitzuteilen.” Er selbst scherzte schon einmal: „Sie können mich mitten aus dem Schlaf reißen. Über die Gottesmutter kann ich Ihnen immer eine Predigt halten.”
Eine solche Eigenerfahrung wirft ein besonderes Licht darauf, wie die vierzehn
verordneten Jahre der Trennung von seinem Werk auf ihn gewirkt haben müssen.
Während der Wandel der Zeit fortschritt, das Schönstattwerk vielseitig angegriffen war, die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil um neue Antworten rang,
sollte er, kirchlichen Dokumenten zufolge, „im Schatten bleiben”.
Pater Kentenich blieb im Schatten – wie selbstverständlich. Die ersten Jahre in
Milwaukee waren – äußerlich gesehen -recht einsam. Mit der Zeit ergaben sich
seelsorgliche Kontakte. Ab 1959 kam die Betreuung der Deutschen mit sonntäglicher Messe und Predigt dazu. Für einen Mann, der in das Zeitgeschehen eingreifen wollte – und meinte, dass er es auf Grund seiner Sendung sollte – und dies
jahrzehntelang im typischen Dialog des Redners mit Menschen der verschiedensten Prägung getan hatte, war solches Tun recht spärlich. Pater Kentenich schrieb
in Milwaukee für sein Archiv und schwieg.
Dass dieses Schweigen auch als leidvolle Spannung erlebt wurde, erhellt blitzartig eine Bemerkung, die er einem Besucher gegenüber im Jahre 1962 fallen
ließ.
Das Konzil war in vollem Gange. Die verschiedensten Berichte flatterten auf den
Schreibtisch Pater Kentenichs. Er verfolgte sie aufmerksam. Besonders interessierte ihn die Diskussion des Konzils um das damalige Schema 13: Die Kirche und
ihr Verhältnis zur modernen Welt. Hier sah er das Angebot Schönstatts. Als nun
aus den Berichten Stimmen von Konzilsvätern zu ihm drangen, die meinten, das
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Konzil könne zu dieser Frage noch keine gültige Stellung nehmen, weil sie in vielen Bereichen noch zu wenig Erfahrung habe, erzählte Pater Kentenich dem Besucher von diesen Stimmen und meinte dann nebenbei: „Sollen sie mich halt holen!”
(P.S.: Wenige Tage nach Pater Kentenichs Ankunft in Rom im September 1965
besuchte ihn ein argentinischer Bischof, um ihn um Rat zu bitten in der Frage
des priesterlichen Zölibates. Pater Kentenich hielt ihm aus dem Stand einen Vortrag von zwei Stunden, der den Bischof tief beeindruckt wieder ins Konzil zurückgehen ließ.)
Auch die Vertreter der Schönstattfamilie, die sich am Ende der Exilszeit des Gründers im November 1965 in Rom eingefunden hatten, bekamen gleich etwas davon zu spüren, was sich in der Seole Pater Kentenichs während der vergangenen
Jahre „im Schatten” angestaut hatte. Von der Zeit seines achtzigsten Geburtstages an – damals am 16. November gefeiert -, hielt er ihnen über mehrere Wochen
täglich zwei Vorträge; ohne unmittelbare Vorbereitung; praktisch immer über die
angesetzte Zeit von zwei Stunden hinaus.
Am 23. Dezember 1965 erhielt Pater Kentenich ganz überraschend die Erlaubnis,
nach Deutschland zurückzukehren. Man bekam gerade noch am Heiligen Abend
Plätze in einem Flugzeug nach Frankfurt. Das „Wunder der Heiligen Nacht”, das
heißt die Heimkehr des Gründers, für die die Schönstattfamilie genau unter diesem Motto gebetet und geopfert hatte, war buchstäblich wahr geworden. Alle,
die von der überraschenden Heimkehr erfuhren, waren unterwegs. Zuerst nach
Frankfurt zum Flughafen, dann in langer Wagenkolonne nach Schönstatt.
Der in Schönstatt zusammenströmenden Menge wurde von Mund zu Mund die
Parole durchgegeben: Wir gehen gleich in die Aula der Marienschule zu einem
feierlichen Empfang Nur die Spitzen der Verbände sollten vor dem Empfang Pater Kentenich zum Urheiligtum zu einer kurzen Statio begleiten.
Pater Kentenichs Einzug zum Urheiligtum, dem heiligen Ort der Gründung seines Werkes, sein stilles Gebet an der Kommunionbank waren ergreifende Augen94
blicke von unaussprechlicher Dichte. Die kleine Beterschar im Heiligtum war mit
ihm geeint in der Atmosphäre eines stillen und überwältigenden Dankes.
Vielleicht auch deshalb geschah es, dass sich Pater Kentenich nach den Minuten
des stillen Betens an der Kommunionbank umdrehte und anhob: „Eigentlich sollte ich hier nicht sprechen, aber: ‚Die Katze läßt das Mausen nicht‘ …” Und damit
begann die erste Ansprache nach vierzehnjähriger Trennung.
Dass man Pater Kentenich bevorzugt zu behandeln suchte und ihm eine solche
Behandlung auch gönnte, entsprach einfach der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit und der Anhänglichkeit seiner Gefolgschaft. Er war der einzige, der sich dagegen wehrte, und zwar aus innerer Abneigung gegen jegliche Privilegien, aus
„sozialer Einstellung”, wie er selbst es nannte.
Der junge Joseph Kentenich lehnte es deshalb im Gymnasium ab, als einziger aus
der Klasse Klavierunterricht zu erhalten.
Nach dem zweiten Weltkrieg, als Fleisch und Wurst sehr teuer waren, nahm der
herumreisende Gründer bevorzugt Käse und ließ es geschehen, dass sich das Gerücht verbreitete, er habe ihn besonders gerne; was natürlich überall dazu führte, dass er bevorzugt Käse vorgesetzt bekam.
Als im November 1965 die Exilszeit Pater Kentenichs zu Ende ging und er sich in
Rom frei bewegen konnte, strömten dort aus allen Himmelsrichtungen Vertreter
des Schönstattwerkes zusammen, um mit dem Gründer die vergangene Zeit auszuwerten und sich für die Zukunft zu rüsten. Das damalige Generalat der Mainzer Vorsehungsschwestern, schön am Rand der Heiligen Stadt gelegen, bot Unterkunft für alle – und wurde zu einem wahren Taubenschlag. Eine der ständig
anwesenden Marienschwestern hatte es übernommen, für den laufend wechselnden Strom der Besucher Verbindungsoffizier zur Hausleitung und besorgte „Hausfrau” für die Gäste zu sein.
In dieser hausfraulichen Sorge bemerkte sie auch, dass Pater Kentenich beim
Frühstück etwas umständlich mit dem dortigen Brot – dem für die südlichen Län95
der typischen Weißbrot mit knuspriger Rinde und weichem Innerem umging. Vielleicht hatte der Herr Pater lieber ein Schwarzbrot nach deutscher Art, dachte sie.
Und fand auch ein Geschäft, wo man solches kaufen konnte.
Am nächsten Morgen fand Pater Kentenich Schwarzbrot bei seinem Gedeck. Er
ließ seinen Blick über die Tafel schweifen, an der er mit den Priestern saß, bemerkte, dass nur bei ihm das Schwarzbrot stand und berührte es nicht.
Am anderen Morgen war Schwarzbrot gedeckt für den ganzen Tisch, an dem die
Priester saßen. Dazu hatte die besorgte Schwester den neben Pater Kentenich
sitzenden Priester aufgefordert, dem Herrn Pater ja das Schwarzbrot anzubieten
und selbst tüchtig davon zu nehmen.
So gab es also Schwarzbrot für einige Tage ... bis Pater Kentenich während des
Frühstücks einmal ans Telefon gerufen wurde und auf dem Weg dorthin an Tischen vorbeikam, an denen die anderen Gäste ihr Mahl einnahmen. Er kam zurück und aß kein Schwarzbrot mehr. Auch nicht am folgenden Tag. Das freundliche Angebot der Priester lehnte er kommentarlos ab.
Als sich sein Verhalten am nächsten Tag zu wiederholen drohte, kam schließlich
die „Hausfrau” selbst und erkundigte sich, warum er denn kein Schwarzbrot mehr
esse. Mit der leichtesten Wendung des Körpers nur stellte Pater Kentenich die
Gegenfrage: „Haben die anderen Gäste auch Schwarzbrot?” Und beendete sein
Frühstück ohne Schwarzbrot.
Die Folge war, dass am nächsten Tag auf allen Tischen Schwarzbrot stand.
Wenn Pater Kentenich früh am Morgen einen Telefonanruf. erhielt, konnte eigentlich nur jemand aus der Schönstattfamilie am anderen Ende der Leitung sein. Er
wußte es. Und so geschah es mehrfach, dass er in seiner guten Morgenlaune den
Hörer abnahm und den Anrufer, wer immer es war, sofort begrüßte mit:
„Nachdem gestärkt ich darf erwachen, um neu die Liebe zu entfachen, laß, Vater,
frohen Gruß dir sagen mit allen, die dein Schönstatt tragen …“,
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dem Anfang des Morgengebetes aus „Himmelwärts”, den Gebeten, die er selbst
im Konzentrationslager verfaßt hatte. „Passen Sie nur auf, Herr Pater, meinte eines Tages daraufhin jemand. „Sie fallen mit dieser Begrüßung noch einmal herein.”
Nach einiger Zeit traf Pater Kentenich die nämliche Person‘ und raunte ihr sofort
und ohne Begrüßung zu: „Heute bin ich! wirklich hereingefallen. Das Fräulein
von der Post war am Apparat, um ein Telegramm durchzugeben …”
Während der letzten Jahre seines Lebens gab es eine ständige Bewegung von
Menschen um Pater Kentenich. Es war schwer, zu ihm zu gelangen. Immer war
er „belagert”. Viele, die ihn wenigstens einmal sehen oder kurz begrüßen wollten, hielten sich deshalb dort auf, wo sie annahmen, dass er vorbeikomme. Andere beteten ausgiebig in dem Heiligtum oder in der Kapelle des Hauses, in dem
er sich gerade aufhielt, in der Hoffnung, dass er vielleicht dort erscheine. Natürlich war man immer darauf aus, ihn bei einer Predigt oder einem gelegentlichen
Vortrag zu hören.
Pater Kentenich hatte seine Messe im Heiligtum zelebriert. Einer Gruppe Studenten hatte er zugesagt, ihnen danach dort einen Vortrag zu halten. Es sollte eine
„geschlossene Veranstaltung” sein.
Während Pater Kentenich seine Gewänder in der Sakristei ablegte, waren die
meisten Teilnehmer der Messe auch schon ihres Weges gegangen. Mit den Studenten blieben aber einige Schwestern im Heiligtum, wohl in der Ahnung, dass
sich hier bald etwas tun müsse.
Pater Kentenich kommt von der Sakristei zurück, geht nach vorne an den Altar,
macht eine langsame Kniebeuge und wendet sich um das unmißverständliche
Zeichen, dass er reden will. Die Studenten setzen sich. Die Schwestern bewegen
sich nicht und harren gespannt der Dinge, die da kommen sollen. Pater Kentenich
schmunzelt und beginnt auch tatsächlich ganz langsam:
„Die Schwestern sind herzlich eingeladen”... macht eine kurze Pause und fährt –
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während es sich die ersten bereits auf den Bänken bequem machen – fort: ”das
Kapellchen zu verlassen.“
Ein allgemeines Gelächter verabschiedet die Schwestern bei ihrer flüchtigfrommen Kniebeuge und begleitet sie hinaus.
In der Erziehungsschule Pater Kentenichs standen Offenheit und Realismus hoch
im Kurs. Schwierigkeiten wurden nicht umgangen, sondern angepackt. Allerdings
– und darin zeigte sich der hausbackene Realismus – nur in dem Maß, in dem dies
Reife und seelische Kraft der Beteiligten zuließ.
Diese Grundeinstellung fand ausgiebige Anwendung im gegenseitigen Verhältnis der Geschlechter. Die naturgegebene Spannung zwischen Mann und Frau war
ein zentrales Thema in Pater Kentenichs Erziehungsarbeit. Sie sollte positiv gesehen und integriert werden, gleich ob in der ledigen, jungfräulichen oder verheirateten Lebensform. Andererseits war Pater Kentenich realistisch genug, um zu
wissen und auch zu sagen, dass die Polarität zwischen den Geschlechtern gefährlich sein kann und dass der Umgang der Geschlechter miteinander durch Prinzipien und Formen geregelt und geschützt werden muß. Zu diesen Prinzipien gehörte auch, dass nach seinem Willen – und auch dem Beispiel seines eigenen Lebens
entsprechend – kein Priester unter 35 Jahren hauptamtlich in einer Gliederung
der „Frauensäule” arbeiten sollte. Natürlich waren solche Prinzipien keine absoluten Gesetze, sondern aus der Erfahrung gewonnene Richtlinien, die deshalb –
auf Grund anders gearteter Erfahrung – auch wieder modifiziert werden konnten. Wegen großen Personalmangels dachten die Obern der Schönstattpatres daran, einen jungen Pater in der weiblichen Jugend einzusetzen; 27 Jahre alt, etwas über ein Jahr geweiht. Der Pater kannte die Prinzipien Pater Kentenichs und
wehrte sich: Er sei höchstens bereit, den Auftrag anzunehmen, wenn der Gründer
selbst ihm dazu die Erlaubnis gäbe.
Ein mehrtägiger Besuch bei Pater Kentenich kam zustande. Gleich am ersten Tag
brachte der Pater seine Bedenken vor. „Warten wir”, antwortete Pater Kentenich,
„ich werde Ihnen später meine Meinung sagen.”
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Der Tag des Abschieds kam. Ein letztes Gespräch war vereinbart. Nachdem der
Pater gebeichtet hatte, mußte er jetzt noch auf jeden Fall erfahren, was Pater
Kentenich über seine geplante Ernennung zum Standesseelsorger der weiblichen
Jugend dachte. Gerade setzt er das Gespräch darüber an, als das Telefon läutet.
Pater Kentenich nimmt ab, hört kurz zu und sagt dann ganz langsam und mit tiefer Stimme in den Hörer: „Nein, Sie können jetzt nicht zu mir kommen. Sie sind
sehr schön, und hier ist ein ganz junger Priester. Das ist gefährlich. Nein, nein,
jetzt können Sie nicht kommen.” Dann legt er lachend den Hörer auf und fährt
fort: „Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, bei den Mädchen zu arbeiten und bitte Sie
nur um eins: Sie müssen in allen Maria großziehen. Das soll Ihr Programm sein.”
Die Arbeitslast der drei Jahre nach Pater Kentenichs Exil war übermenschlich. Er
mußte ab und zu eine Pause einlegen; sei es, um sich mit größerer Ruhe auf eine
bedeutende Tagung vorzubereiten – wie zum Beispiel die traditionellen Oktoberwochen für Hunderte von Delegierten des gesamten Schönstattwerkes – oder
auch um sich – meist durch eine Erkältung veranlaßt – etwas zu erholen. Um sich
des ständigen Andrangs Rat- und Hilfesuchender zu erwehren, zog sich Pater
Kentenich zu diesem Zweck gerne in das Haus der Schönstattpriester, die „Marienau”, zurück. Der Rektor des Hauses hatte dann – von Pater Kentenich ausdrücklich so gewünscht – die undankbare Aufgabe, den Gründer abzuschirmen und für
seine Ruhe zu sorgen.
Während einer dieser Aufenthalte in der Marienau fand dort eine Tagung für Lehrer statt. Der Pater, der sie hielt, traf sich eines Nachmittags mit einem Mitbruder zu einer Besprechung. Sie beschlossen, im Garten der Marienau etwas auf
und ab zu gehen.
Als sie so dahinspazierten, kam der Rektor auf sie zu und machte sie darauf aufmerksam, dass in einer Ecke des Gartens an einem sonnigen Plätzchen Pater Kentenich sitze. Er habe ihn dorthin gebracht, damit er sich in der warmen Sonne etwas ausruhe. Er bitte, dies zu berücksichtigen und den Herrn Pater nicht zu stören. „Selbstverständlich”, versprachen die beiden und setzten ihren Spaziergang
fort, mit Bedacht die Ecke des Gartens meidend, in der Pater Kentenich saß.
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Der Rektor war aber noch nicht lange verschwunden, als sich Pater Kentenich erhob und auf die beiden zuging. „Er ist weg”, meinte er verschmitzt, „jetzt können
Sie mir von der Lehrertagung erzählen.” Um das Gespräch so kurz wie möglich
zu halten, gab der Tagungsleiter nur eine pauschale Auskunft. „Sie müssen mir
mehr erzählen”, insistierte Pater Kentenich, „auch die Einzelheiten”. Aus dem Gespräch wurde ein detaillierter und erschöpfender Bericht. Dann war Pater Kentenich zufrieden.
Als die beiden Patres wieder ins Haus zurückgingen, wurde auch Pater Kentenich
vom Rektor, dem der lange „Stehkonvent” nicht entgangen war, abgeholt und in
sein Zimmer zurückgebracht. Im Flur begegnen sie einem der beiden Patres. Der
Rektor kann eine tadelnde Bemerkung darüber nicht unterlassen, dass die beiden
nun doch den Herrn Pater gestört hätten. Schon holt der so Angeklagte Luft,
um sich zu rechtfertigen, nämlich, dass ja gar nicht sie das Gespräch angefangen hätten, sondern Pater Kentenich selbst.. als dieser ihn im Vorbeigehen ernst
anschaut, ihm den Briefumschlag, den er gerade in der Hand hat, vor den Mund
hält und ihn so zur schweigenden Hinnahme des Tadels bringt.
Die notwendigen Ruhe- und Erholungspausen einerseits und der Andrang der
Gefolgschaft wie eigenes Interesse andererseits brachten Pater Kentenich nicht
nur in „Konflikt” mit sich selbst, sondern auch die vorhergehende Geschichte deutete es schon an – mit dem Rektor der „Marienau”, der ihn „beschützen” sollte.
Im September 1967 rüstete sich eine Gruppe der Mädchenjugend aus der Marienschule in Schönstatt zu einer Fahrt nach Frankreich zur Gedächtnisund Todesstätte Josef Englings. Der große Wunsch der Mädchen war, von Pater Kentenich
durch eine Ansprache zu dieser Fahrt ausgesandt zu werden Jener aber weilte zu
der Zeit in der „Marienau”.
Einem Pater gelingt es, das Anliegen der Mädchen an Pater Kentenich heranzubringen. Dieser überlegt hin und her: Er soll sich ja hier zurückziehen, möchte
aber doch gerne …und außerdem paßt der Rektor auf…und er will ihn auch nicht
kränken in der Aufgabe, die er ihm selbst zugedacht hat. Schließlich wird folgende Lösung geboren: Der „Marienau” gegenüber befand sich damals die Hauska100
pelle der Schönstätter Marienbrüder. Zu einer unauffälligen Zeit am Abend sollten die Mädchen sich dort einfinden. Er, Pater Kentenich, komme dann schnell
über den Weg, um ihnen die Ansprache zu halten. Als der vermittelnde Pater an
dem Abend in die „Marienau” kommt, um Pater Kentenich abzuholen, ist jener etwas ungehalten. Es soll doch eine „heimliche” Ansprache sein.
Die Ansprache fand statt. Unbemerkt konnte Pater Kentenich zum anderen Haus
hinüberwechseln und ebenso, nach einer halben Stunde, wieder zurück.
Eine beliebte Form, sich mit Pater Kentenich zu verbinden, war, ihm den eigenen
Rosenkranz zu geben, damit er eine Zeitlang mit ihm bete.
In einem älteren Herrn in Milwaukee, der Pater Kentenich öfters vor seiner Wohnung auf und ab gehen sah, die Arme verschränkt und den Rosenkranz in der
Hand, entstand genau dieser Wunsch, den er für sehr originell hielt. Er näherte
sich Pater Kentenich mit der Frage, ob er denn nicht für einige Tage an seinem
Rosenkranz beten wolle. Er wolle ihn sich dann in ungefähr einer Woche wieder abholen. Gerne und wie selbstverständlich nahm Pater Kentenich den Rosenkranz in Empfang und fuhr – gleich den neuen benützend – in seinem Gebet
fort.
Nach einer Woche erschien der Herr wieder zur selben Abendzeit, fand Pater Kentenich betend und erkundigte sich, ob er denn jetzt seinen Rosenkranz wieder haben könnte. Pater Kentenich blickte erstaunt auf. Offensichtlich erinnerte er sich
nicht mehr an den ersten Tausch. Und tatsächlich, der Rosenkranz in seiner Hand
war ein fremder. Pater Kentenich hatte inzwischen wieder getauscht – und wußte wieder nicht mehr, mit wem.
Wenn ein Mensch vital liebt, wacht seine ganze Spontanität auf. Er „muß” seine
Zuneigung zeigen. Und das gilt nicht nur für Liebespärchen. Es ist ein Gesetz der
Liebe in sich. Man beobachtet es nur außerhalb der romantischen Liebe viel seltener. Dann aber kann es die originellsten Formen annehmen.
Eine Familie suchte ein passendes und preiswertes Haus, um es zu kaufen. Pater
Kentenich wußte um diese Suche. Durch ihn erfuhr auch eine ältere Frau davon;
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eine ganz einfache alleinstehende Putz- und Küchenfrau, die in Pater Kentenich
vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen gefunden hatte, der ihr
zuhörte, sie schätzte, sich für erwiesene Dienste dankbar zeigte, von dem sie sich
verstanden und angenommen erlebte.
Die Frau kannte ein eventuell geeignetes Haus, das zum Verkauf angeboten war.
Gerne war sie bereit, eine Besichtigung zu ermöglichen. Ein Zeitpunkt wurde verabredet, wann man sich bei der betreffenden Adresse des Hauses treffen wollte.
Die Familie hatte nun, ohne Wissen der Frau, auch Pate Kentenich zur Hausbesichtigung eingeladen, und er hatte ausnahmsweise, angenommen. Als der Wagen mit de interessierten Käufern vorfuhr, war die Frau schon im Haus. In ihrer
lebhaften Art begrüßte sie die ersten, die eintraten und begann, ihnen sofort das
Haus zu zeigen. Pater Kentenich war etwas zögernd nachgekommen. Immer zu
einen Schalk aufgelegt, stellte er sich zuerst hinter die Tür und dann in den Sichtschatten der Frau und hörte sich schweigend und schmunzelnd ihre eifrigen Erklärungen an. Bei einer plötzlichen Wendung ... sieht sie ihn, macht einen Luftsprung und eilt – mit dem Ausruf „Herr Pater!” auf ihn zu. Er nimm die freudige
Begrüßung an und meint dann: „Wenn alt Scheunen brennen, brennen sie lichterloh!”
Pater Kentenich erhielt laufend Geschenke verschiedenster Art: Meßgewänder,
Kelche, Mäntel, Süßigkeiten, Rosenkränze … Sie waren die bunte Antwort von
Menschen, die sich von ihm beschenkt erlebten und das spontane Bedürfnis hatten, wiederzuschenken.
Gewöhnlich blieben die Geschenke nicht lange bei ihm. Sowie er sie erhielt,
schenkte er sie weiter. Den Schenkenden, sofern sie davon erfuhren, war das oft
nicht recht. Das Geschenk war Symbol ihrer Zuneigung zum geistlichen Vater; der
Wunsch, dass es bei ihm bleibe, mehr als verständlich.
Das wußte und empfand Pater Kentenich. Dennoch gab er fast alle Geschenke
weiter. Und das war wiederum ein Symbol: die Zuneigung zu ihm sollte
weitergeleitet werden.
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Sie sollte zu Gott führen und andere Menschen einschließen.
Zu einem Festtag der Gottesmutter brachte ihm einmal eine Mitarbeiterin besonders schöne Blumen und stellte sie auf seinen Schreibtisch. Pater Kentenich freute sich ehrlich darüber und nahm sie dankbar an; für die Gottesmutter und auch
für sich. Bald jedoch klopft es. Eine Frau betritt das Zimmer, nur um eine kurze
Sache zu erledigen, wie sie sagt. Die Mitarbeiterin, mit Pater Kentenichs Gewohnheit vertraut, ahnt die mögliche Gefahr und flüstert ihm zu, während die Frau
noch das Zimmer betritt: „Bitte, nicht die Blumen!” Dieser aber steht auf, nimmt
– nach Begrüßung und Erledigung der Angelegenheit – seelenruhig die Blumen
von seinem Schreibtisch und schenkt sie der nichts ahnenden und hocherfreuten
Frau. Der betroffenen Mitarbeiterin aber raunt er zu: „Ätsch!”
Die vielen Geschenke, die Pater Kentenich bekam, gab er nicht einfach willkürlich fort. Er war sich der symbolischen Bedeutung von Geschenken sehr bewußt.
Schenkte er weiter, dann auch, um durch die äußere Gabe einen geistigen Wert
zu vermitteln, etwas von sich selbst zu geben, eine Botschaft damit zu verbinden.
Am 24. Dezember 1965 war Pater Kentenich nach 14jährigem Exil wieder nach
Schönstatt zurückgekehrt. Sein Aufenthalt in Deutschland war zunächst auf wenige Tage begrenzt. Am 13. Januar 1966 mußte er nach Rom zurükkfliegen. Einige Schönstätter in München erfuhren per Telefon, dass Pater Kentenich und der
mit ihm reisende Weihbischof von Münster dort das Flugzeug wechseln mußten,
also auf dem Flughafen Riem einen kurzen Aufenthalt hatten. In einigen Autos
fanden sie sich zur gegebenen Zeit auf dem Flugplatz ein. Zu ihrer großen Überraschung und Freude war es auch ohne Schwierigkeiten möglich, sich mit den beiden Reisenden in dem rot ausgelegten feierlichen Empfangssaal des Flughafengebäudes zu treffen.
Kaum jemand hatte den Gründer seit seiner 14jährigen Abwesenheit gesehen.
Obwohl also der Flug nach Rom ging, stand die Begegnung dennoch viel mehr
unter dem Eindruck von Heimkehr und Begrüßung.
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Unter den Anwesenden befand sich eine kleine Gruppe von Marienschwestern.
Sie erwarteten Pater Kentenich mit einem Strauß roter Rosen. Auch zwei der
„Frauen von Schönstatt”, des anderen weiblichen Verbandes im Schönstattwerk,
hatten sich eingefunden. Sie überreichten Pater Kentenich zur Begrüßung eine
Schachtel Pralinen. Pater Kentenich nahm die große Pralinenschachtel entgegen,
ließ sich damit fotografieren, plauderte ein wenig und schenkte sie dann den Marienschwestern weiter. Dann nahm er den Rosenstrauß und reichte ihn den „Frauen von Schönstatt”.
„Gehen Sie heim . . .”
Von heiligmäßigen Menschen weiß man, dass sie manchmal in Situationen reagieren oder anderen ein Wort sagen, das eine tiefere Bedeutung hat und mehr
Einsicht verrät, als rein natürlich erklärbar ist. Gläubiger Sinn erkennt bei solchem
Verhalten das besondere Wirken des Heiligen Geistes in solchen Menschen.
Auch Pater Kentenich begleitete der Ruf – aus vielfältiger Erfahrung genährt
– in den Seelen lesen und geradezu prophetische Antworten geben zu können.
Hier ein Beispiel für viele.
„Eine Frau kam mit ihrer Familie nicht mehr zurecht. Ihre Situation war zum Verzweifeln. Schon hatte sie in ihrem Herzen beschlossen, die Familie zu verlassen
und zu einem anderen Mann zu gehen. Die Kirche, den Glauben, alles wollte sie
an den Nagel hängen.
Die Einladung nach Schönstatt schien der Frau die richtige Ausrede zu sein. Sie
wollte hinfahren und von dort aus nicht mehr nach Hause zurück, sondern den
anderen Lebensweg antreten.
Ohne eigentlich Lust zu haben, nahm sie mit ein paar anderen Frauen den Weg
auf den Berg Schönstatt, um einen Vortrag zu besuchen. Die Gruppe kam gerade an, als Pater Kentenich aus dem Auto stieg. Wie erstaunt war diese Frau, als
dieser geradewegs auf sie zukam und ihr die Hand reichte. Er fragte sie, woher
sie komme, und sagte dann, ohne weiteres von ihr zu wissen: „Von hier aus gehen
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Sie wieder heim!” Die Frau sah ihn groß an, fragend, so dass er vielleicht meinte,
sie habe nicht richtig verstanden. Jedenfalls wiederholte er nachdrücklich: „Und
dann gehen Sie wieder heim.”
Das Wort ‚heim‘ – so erzählte die Frau – habe er dabei so betont, dass sie im selben Augenblick wußte, was sie zu tun hatte. Sie gab ihre Pläne auf und fuhr zu
ihrer Familie zurück.
Wie sehr Pater Kentenich das Leben der ihm Anvertrauten mitsollzog und erzieherisch begleitete, überraschte diese immer wieder von neuem.
„Herr Pater, ich muß unbedingt beichten”, meinte einmal jemand, der bei ihm in
Seelenführung war. „Es ist so lange her, dass ich selber schon nicht mehr weiß,
wann ich das letzte Mal gebeichtet habe.”
„Das kann ich Ihnen genau sagen. Es war vor sechs Wochen und drei Tagen.”
„Herr Pater, Sie machen einen Scherz. Sie können doch nicht mehr so genau wissen, wann ich das letzte Mal gebeichtet habe.”
„Doch, ich weiß es ganz genau. Seit diesem Tage stelle ich Sie nämlich auf die
Probe.”
„Mich, auf die Probe? Ja, auf was für eine Probe denn?”
„Na, so etwas, jetzt wird er auf die Probe gestellt und merkt es noch
nicht einmal! Ich habe seit Ihrer letzten Beichte erprobt, wie selbstlos Sie sind.
Seit dem Tage haben wir nie mehr über Sie selbst gesprochen.”
„Aber, Herr Pater, ich war doch viele Male seither bei Ihnen und wir haben häufig geredet!”
„Ja, aber immer über anderes, die Mitbrüder, das Werk, nie über Sie. Und Sie haben es nicht einmal gemerkt. Wollen wir jetzt beichten?”
Welche von den zahlreichen Gliedgemeinschaften der Schönstattfamilie hatte
nicht den Wunsch und – wenn sie sich eine Chance ausrechnen konnte – die kon105
krete Erwartung, der Gründer und Vater möge einmal mit ihnen den Heiligen
Abend feiern? Wegen der vielen Anwärter und der schwierigen Wahl, feierte Pater Kentenich gerne den Heiligen Abend für sich in der Stille. Doch gab er auch
mal dem Drängen der Stürmischsten nach, – was dann alle anderen enttäuschte.
Um eine solche Enttäuschung wiedergutzumachen, lud Pater Kentenich jemand an einem Weihnachtstag zu einem Besuch ein. „Nun muß ich Ihnen aber
auch noch etwas schenken”, meinte er gegen Ende des Besuches. „Und zwar das
Schönste, was ich habe.” Er suchte unter den verschiedenen Geschenken, die er
erhalten hatte, und fand eine Kerze mit Ständer. „Ich meine, diese Kerze ist die
richtige. Wenn es einmal ganz dunkel wird in Ihrem Leben, dann zünden Sie sie
an, damit Ihnen ein Licht leuchtet.”
Es verstrichen einige Jahre bis 1968. Pater Kentenich war den ganzen Sommer
schon sehr krank. Dennoch konnte der damalige Weihnachtsbesuch einmal zu
ihm kommen. Die Sorge um den erkrankten Gründer kam zum Ausdruck; das
Leid, nicht genau zu wissen, wie es ihm geht. „Übrigens”, meldete sich im Gespräch Pater Kentenich, „hat die Kerze eigentlich schon einmal gebrannt, die ich
Ihnen damals zu Weihnachten geschenkt habe?”
„Nein, Herr Pater. Es darf schon noch etwas dunkler werden, bis die Kerze brennen muß.”– ,Ja, was muß denn da passieren, bis es dunkel genug ist?” – „Wenn
Sie einmal sterben, Herr Pater, dann wird es wohl ist dunkel genug sein.”
„So dann wird also die Weihnachtskerze meine Sterbekerze.”
Als der Gründer am 15. September 1968 in der Sakristei der Anbetungskirche verschied, brannte die Kerze an der Todesstelle zum ersten Mal.
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