Kämpfe und Diplomatie - VVN

JW Ausgabe vom 21.09.2015, Seite 3 / Schwerpunkt
Kämpfe und Diplomatie
Keine Waffenruhe in Syrien in Sicht. Washington und Moskau beraten unterdessen weiteres
Vorgehen in dem arabischen Land
Von Karin Leukefeld
Stadt in Trümmern: Wohngebäude in Aleppo (29.7.2015)
Foto: Abdalrhman Ismail/Reuters
Am frühen Sonntag morgen wurden in Aleppo 14 Zivilisten, darunter sieben Kinder, durch
Raketenbeschuss der sogenannten moderaten Rebellen getötet. Erst vor wenigen Tagen waren 19
Kinder bei Granaten- und Raketenangriffen der bewaffneten Gruppen in Aleppo getötet worden. Sechs
von ihnen hielten sich zu dem Zeitpunkt in einem Kindergarten auf, der von UNICEF unterstützt wird. Die
UN-Kinderhilfsorganisation hat in Syrien »kinderfreundliche Orte« eingerichtet, um Kindern eine Auszeit
vom Krieg zu ermöglichen. Genau ein solcher Ort war von den Kampfverbänden in Aleppo angegriffen
worden. Insgesamt starben dabei 38 Personen. Bei einem Gegenangriff der syrischen Luftwaffe am Tag
darauf gab es 53 Todesopfer. Kinder dürften »niemals Ziel von Angriffen sein«, erklärte die UNICEFVertreterin in Syrien, Hannah Singer. Der »verwerfliche Angriff« auf den UNICEF-Kindergarten zeige, in
welcher Gefahr sich die syrischen Kinder befänden.
Nach Angaben des russischen Nachrichtensenders Russia Today (RT) sollen Kämpfer der Nusra-Front
in Idlib den syrischen Militärflughafen Abu Al-Duhur eingenommen und mehr als 50 dort stationierte
syrische Soldaten hingerichtet haben. RT bezog sich auf Videomaterial, das von der Nusra-Front im
Internet verbreitet worden war. Von seiten der syrischen Streitkräfte wurde die Meldung nicht
kommentiert.
US-Außenminister John Kerry erklärte derweil, Russland und die USA hätten zur Lage in Syrien einen
»militärischen Dialog« begonnen. US-Verteidigungsminister Ashton Carter und sein russischer
Amtskollege Sergej Schojgu hatten zuvor lange telefonisch über die neue Annäherung debattiert.
Pentagon-Sprecher Peter Cook sagte, die beiden Minister hätten ein »konstruktives Gespräch« über die
Notwendigkeit geführt, mögliche Spannungen durch »den russischen Aufmarsch (in Syrien, jW) durch
den Kampf gegen den Islamischen Staat zu deeskalieren«. Gleichzeitig sollten »diplomatische
Gespräche über einen politischen Übergang« in Syrien fortgesetzt werden. Kerry traf am Sonntag
nachmittag in Berlin mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zusammen.
Der US-Sender National Public Radio (NPR) berichtete am Wochenende unter Berufung auf das
Pentagon, dass Russland vier Suchoi-Kampfjets auf einen Militärstützpunkt bei der nordsyrischen
Hafenstadt Latakia verlegt haben soll. Außerdem seien vier Kampfhubschrauber und vier
Transportflugzeuge dort gelandet.
Moskau fährt mehrgleisig, um Regierung und Armee in Syrien zu stabilisieren. Seit Wochen flankiert
Russland mit intensiven diplomatischen Aktivitäten die Bemühungen des UN-Sondervermittlers für
Syrien, Staffan de Mistura, für eine Verhandlungslösung auf Basis der Genfer Vereinbarung vom Juni
2012. Gleichzeitig wird die syrische Armee als »einzige effektive Antiterrorkraft in Syrien« militärisch
deutlich gestärkt, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow bestätigte.
In Zusammenarbeit mit Iran werden von Russland aktuell die Positionen der Regierungsarmee im
Nordwesten Syriens gefestigt, was auch als klares Signal gegen Pläne der Türkei oder der NATO für die
Einrichtung von »Flugverbotszonen« verstanden werden müsse, heißt es in der libanesischen
Tageszeitung As-Safir. Russland hatte – nachdem Bulgarien auf Anweisung der USA seinen Luftraum
für russische Flugzeuge gesperrt hatte – militärischen und humanitären Nachschub für Syrien durch den
iranischen Luftraum eingeflogen. Die russische Luftbrücke nach Syrien soll noch bis Ende September
aufrechterhalten werden.
Der bereits erwähnte Luftwaffenstützpunkt südlich von Latakia, der in den letzten Wochen wieder
instandgesetzt und mit zwei neuen Startbahnen versehen worden sei, könnte As-Safir zufolge zur Basis
für mögliche russische Luftangriffe auf Stellungen von Al-Qaida-Gruppen in Syrien werden. Möglich sei
auch, dass Russland weitere Militärexperten und speziell ausgebildete Eliteeinheiten nach Syrien
verlegt. Syrischen Quellen zufolge sollen syrische Eliteeinheiten bereits von russischen Ausbildern
geschult werden.
Nach Einschätzung von As-Safir könnte die militärische Lage in Syrien zunächst weiter eskalieren.
»Politische Lösungen jeglicher Art werden ausgesetzt, bis die notwendige Machtbalance
wiederhergestellt ist, um den russisch-syrischen Plan für eine politische Lösung umzusetzen«, heißt es.
Dieser Plan strebt die nationale Versöhnung in dem arabischen Land an, die zu einer Regierung der
nationalen Einheit unter Einbeziehung der innersyrischen Opposition führen soll. Die Rolle des syrischen
Präsidenten Baschar Al-Assad wird von Russland dabei deutlich hervorgehoben, wie auch das
ausführliche Interview russischer Medien mit ihm in Damaskus vor wenigen Tagen zeigte. Gefragt, ob er
bereit sei, sich auch mit denjenigen wieder zu treffen, die ihn jahrelang dämonisiert hätten, sagte Assad,
wenn es dem Staat Syrien und den Syrern nutze, werde er jedem die Hand schütteln.
Syrien: Streitkräfte im Visier
General Samir Suliman, Sprecher des syrischen Verteidigungsministeriums in Damaskus, äußerte sich
im Gespräch mit jW:
… zur Lage in Sabadani:
»Die strategische Lage von Sabadani ist wichtig für die Sicherheit von Damaskus. Es ist die größte Stadt
westlich von Damaskus, und sie ist mit Dörfern und Städten im Libanon verbunden. Über Sabadani läuft
der Nachschub der (islamistischen; jW) Kämpfer um Damaskus. Sabadani ist auch von strategischer
Bedeutung für die Verbindung von Damaskus zum Widerstand im Libanon (Hisbollah). Sabadani
verbindet das Kalamun-Gebirge mit Kuneitra auf den Golanhöhen, mit Jordanien und Israel. Es
verbindet den Westen und den Norden Syriens.«
… zu Interessen Israels:
»Auf den Golanhöhen nutzt Israel die Nusra-Front, um gegen die Hisbollah und gegen die syrische
Armee zu kämpfen. Das eigentliche Interesse Israels an der Nusra-Front und allen anderen
Kampfgruppen ist, dass sie gegen die syrische Armee kämpfen. Hinter Israel stehen der Westen und die
USA. Sie wollen die syrische Armee zerstören. So wie sie (…) die irakische Armee bereits zerstört
haben.«
… zur möglichen Kooperation mit der US-geführten Anti-IS-Koalition:
»Der Westen – die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien – betrachtet die syrische
Führung als Regime und illegal. Werden sie diese Meinung ändern, wenn sie mit Syrien kooperieren
wollen? (…) Sie sagen, sie kämpfen gegen den Terror, aber wie kann es sein, dass sie bei der Türkei
einfach wegsehen? Die Türkei ist ein Mitglied der NATO, und gleichzeitig hat die Türkei es dem IS
ermöglicht, seinen eigenen Staat aufzubauen. (…) Es wäre sehr naiv zu glauben, dass Amerika den
Terror bekämpfen will. Wie kann es sein, dass amerikanische Kampfjets ›irrtümlicherweise‹ Waffen und
Munition über den Gebieten von IS abwerfen? Einige Medien haben das dokumentiert.« (kl)
Aus: Ausgabe vom 21.09.2015, Seite 7 / Ausland
Schachmatt für Washington
Russland stellt die Weichen für Frieden in Syrien
Von Rainer Rupp
Laut US-Angaben hat Russland Kampfjets nach Syrien verlegt. Ob es stimmt, wird sich zeigen. Von
russischer Seite unbestritten ist, dass Moskau in den vergangenen Wochen die reguläre syrische Armee
mit neuen und wirkungsvollen Waffen unterstützt hat. Erfolgsmeldungen von den vielen Fronten gegen
den »Islamischen Staat« (IS) und andere vom Ausland unterstützte Terrorgruppen scheinen das zu
belegen. Diese Nachrichten und die Aussicht auf neue russische Kampfflugzeuge zur
Bodenunterstützung alarmieren Washington, konterkariert die Entwicklung doch die höchste Priorität der
USA in der Region: die rechtmäßige Assad-Regierung in Damaskus mittels von diesen selbst und
Großbritannien ausgebildeten und von Saudi-Arabien und Katar finanzierten Terroristen zu stürzen.
Laut einer vergangene Woche veröffentlichten Umfrage der Washington Post sehnen sich inzwischen 82
Prozent der Syrer nach den Zuständen unter Präsident Baschar Al-Assad vor Beginn des Kriegs zurück.
Wer dennoch weiterhin die Forderung stellt, wie dies die Aggressoren USA, Frankreich, Großbritannien,
Türkei, Saudi-Arabien, Katar und andere tun, dass zuerst der syrische Präsident weg muss, bevor es
Frieden geben kann, und wer zum Erreichen dieses Ziels auf die Schlagkraft des IS, von Al-Qaida und
anderen Terrorgruppen in dem Land setzt, der produziert immer neue Flüchtlingsströme und dem sind
Tod und Leid der Zivilbevölkerung egal.
Es ist fraglich, ob der IS und der syrische Al-Qaida-Ableger Nusra-Front von den USA geschaffen
worden sind. Fest steht aber, und das ist in einem Bericht des militärischen Nachrichtendienstes des
Pentagon (DIA) dokumentiert, dass Washington und seine Verbündeten schnell das Potential der
Terrorgruppen als »nützliche Feinde« erkannt haben. Und die müssen gehätschelt und gepflegt und
manchmal auch in ihre Grenzen gewiesen werden. Deshalb unterstützt man sie einerseits verdeckt, aber
wenn sie über die Stränge schlagen und in die falsche Richtung schießen – also nicht gegen Assad,
sondern gegen US-geführte Terrorgruppen in Syrien –, dann muss man sie andererseits ein bisschen
bombardieren. Letzteres dient zugleich als Anti-IS-Show für die Öffentlichkeit.
Der iranische General Kassem Suleimani hat diese US-Strategie vergangenen Mittwoch auf Press TV
treffend beschrieben: Mit dem, was die USA gegen den IS und andere islamistische Extremisten in der
Region tun, wollen sie diese Gruppen nur unter Kontrolle halten, aber nicht eliminieren.
Genau dagegen richtet sich die jüngste Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er zwingt
die Heuchler in Washington, entweder zu bekennen, dass sie an einer Vernichtung des IS derzeit gar
nicht interessiert sind, oder gemeinsam mit Russland und der »Weltgemeinschaft« an der Seite der
regulären syrischen Armee und der rechtmäßigen Assad-Regierung effektiv gegen die Terrorgruppen
vorzugehen.
Bei kritischen US-Kommentatoren gilt der Schritt Moskaus als »Geniestreich«. Denn wenn die USA ihr
Vorgehen gegen den IS mit Moskau koordinieren würden, dann würde es die Assad-Regierung stärken,
die sie seit vier Jahren zu stürzen versuchen. So oder so: »Schachmatt« für die Regimewechsler in
Washington.
US-Strategie in Nahost »grandios gescheitert«
Die Kölnische Rundschau (Montagausgabe) kommentiert die jüngsten diplomatischen
Entwicklungen im Syrien-Krieg:
So bitter es für die Strategen im Westen klingen mag: Wer das apokalyptische Blutvergießen in Syrien
mit seinen völkerwanderungsähnlichen Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa möglichst bald
beenden möchte, ohne die Terrorbande vom IS an die Macht kommen zu lassen, muss zwei
Bedingungen erfüllen: das Regime des skrupellosen Diktators Baschar Al-Assad unterstützen und selbst
militärisch eingreifen, am besten mit Bodentruppen. Dies ist genau das, wozu Russland nun offenbar
bereit ist. Zweifelsohne: Assad gehört nach den im Bürgerkrieg von seiner Armee begangenen
Grausamkeiten eher vor das UN-Kriegsverbrechertribunal als auf einen Präsidentensessel. Doch die
US-Strategie, im Nahen Osten den Sturz von Diktatoren zu unterstützen, um demokratische Kräfte
aufzubauen, war von Beginn an illusorisch. Sie hat im Irak, in Libyen und Syrien zu Anarchie geführt und
zur Hölle auf Erden für die meisten Menschen vor Ort. Sie ist grandios gescheitert.
Es gibt leider auch ein paar Kriegsgeile im Dunstkreis Der Linken:
Vor einigen Tagen dankte der »Bundesarbeitskreis Shalom Nordrhein-Westfalen« in der Partei Die
Linke in einer Erklärung den USA für den »Krieg gegen den Terror« und verband dies mit der
Hoffnung auf eine offene Intervention in Syrien:
Der 11. September war der Beginn des Krieges gegen die zivilisierte Welt, gegen das imaginierte,
kosmopolitische Weltjudentum und das Symbol der freien Welt, die Türme des World Trade Centers.
(…) Osama bin Laden ist zwar tot, der faschistische Todestrieb aber inzwischen so mächtig, dass man
tatsächlich in grenzenloser Dummheit mit Assad und Russland den Islamischen Staat bekämpfen will.
Und immer noch ist in Deutschland nur vom Frieden die Rede, Jürgen Todenhöfer schreibt wieder ein
Buch, und das Lichterkettengesindel warnt davor, religiöse Gefühle zu verletzen. (…)
Wir hoffen, dass das Appeasement bald ein Ende haben wird, dass alle, die den Gedanken an eine
befreite Menschheit nicht aufgegeben haben, Mut zeigen und die Kriegserklärung endlich annehmen.
(…)
Wir möchten den Text beenden, indem wir den USA für die Interventionen im Irak und Afghanistan
danken, wir hoffen, dass bald eine in Syrien folgen wird. (...)