Reader Risikomanagement im Krankenhaus Herausgeber Prof. Dr. Andreas Becker Leseprobe! www.ku-gesundheitsmanagement.de Reader Risikomanagement im Krankenhaus Herausgeber: Prof. Dr. Andreas Becker Das Risikomanagement bildet gemeinsam mit dem Compliance Management, dem internen Kontrollsystem und den Aufsichts- bzw. Leitungsgremien den Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens, die sogenannte Corporate Governance. Namhafte Autoren und ausgewiesene Experten geben einen umfassenden Überblick zu den vielfältigen Facetten des (klinischen) Risikomanagements mit konkreten Hinweisen für die praktische Umsetzung, u. a.: • • • • • • • • • • • • Strategische Planung und Umsetzung Corporate Governance und interne Revision Compliance und Datenschutz Stakeholdermanagement Medikationsprozess Risiko- und Compliance-Management in der Notaufnahme Fehlermeldesysteme und Sicherheitskultur Krisenmanagement und Kommunikation in der Krise Ausbildung klinischer Risikomanager Bonitätsprüfung von Krankenhäusern Haftpflichtversicherung Qualitätsmanagement-Richtlinie Krankenhäuser des G-BA Der Reader Risikomanagement richtet sich an die Mitglieder von Aufsichtsgremien, Führungskräfte, Qualitäts- und Risikomanager sowie alle anderen Krankenhausmitarbeiter, die sich für Risikomanagement interessieren. 1. Auflage 2015 © 2015 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, Kulmbach Titelbild: © Andrey Bandurenko – Fotolia.com Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Strategische Planung und Umsetzung des klinischen Risikomanagements . . . . . . . . . 15 Nils Löber Das kritische Gewissen: Corporate Governance und Interne Revision im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Volker Penter, Babette Brennecke und Tobias Gaydoul Zwei Aufgaben wachsen zusammen: Compliance und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . 57 Mark Rüdlin Konzeptionelle Grundlagen eines Stakeholdermanagements im Krankenhaus . . . . . . 69 Ralf Gerhards Funktionsfähig auch in der Krise: Die Kritische Infrastruktur Krankenhaus und das Management operativer Risiken . . . 91 Kathrin Stolzenburg Sieben Schritte zum Erfolg: Vom Risikomanagement zum Management ungeplanter Ereignisse . . . . . . . . . . . . 101 Markus Orengo und Markus Grutsch Der Closed Loop Medication Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Michael Baehr Risiko- und Compliance-Management in der Notaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Astrid Gesang, Wolfgang Droste und Uwe Petersen Belastungsschwelle für Krankenhäuser: Kürzungen von Krankenhausbetten können das Mortalitätsrisiko erhöhen . . . . . . . 147 Ludwig Kuntz, Desdemona Möller und Stefan Scholtes Sicherheit, Qualität und Serviceorientierung im Krankenhaus? . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Nils Löber 3 Reader Risikomanagement im Krankenhaus Krankenhäuser als Hochrisiko- und Hochsicherheitsorganisationen . . . . . . . . . . . . . 169 Sabine Bohnet-Joschko CIRS-NRW: Lernen aus den Fehlern Anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Robert Färber und Burkhard Fischer Krisenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Brigitte Dippold und Xaver Frauenknecht Krisenmanagement und Krisenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Volker Penter, Babette Brennecke, Clara Kozak und Franziska Holler Offen und aufrichtig mit Fehlern umgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Roland Heintze und Christian Peters Ein Mittel der Kommunikation: Normung und Patientensicherheit . . . . . . . . . . . . . 225 Josef Winkler Zertifizierte Ausbildung Klinischer Risikomanager mit Schwerpunkt Patientensicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Andreas Becker und Josef Winkler Ausbildung und Zertifizierung Klinischer Risikomanager mit Schwerpunkt Patientensicherheit im Klinikum Ingolstadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Andreas Becker, Heribert Fastenmeier, Günter Ochs und Erich Göllner Rating: Transparenz schaffen und Chancen nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Andreas Keienburg und Jens Koch Am besten zweigleisig arbeiten: Die Krankenhaus-Haftpflichtversicherung – Problemkind und Lösungsansätze . . . . 291 Stefan Knoch Qualitätsmanagement-Richtlinie Krankenhäuser – Eine sanktionslose Norm? . . . . . 299 Andreas Penner und Anna Büscher Nicht mehr als eine Orientierungshilfe: Rechtliche Grundlagen, Stand und Perspektiven in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Oliver Neuper Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4 Vorwort Vorwort Das Risikomanagement bildet gemeinsam mit dem Compliance Management, dem internen Kontrollsystem und den Aufsichts- bzw. Leitungsgremien den Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens, die sogenannte Corporate Governance. Auch im Krankenhaus bedarf es einer verantwortungsvollen, transparenten, qualifizierten und nachhaltigen Führung unter Einhaltung unterschiedlichster Vorgaben, die zwischenzeitlich auch für das klinische Risikomanagement durch den Gemeinsamen Bundesausschuss formuliert wurden. Der vorliegende Sammelband aus der Buchreihe der KU Gesundheitsmanagement gibt einen umfassenden Überblick zum (klinischen) Risikomanagement und greift dabei u. a. auch die wichtigen Themen Kommunikation, Krisenmanagement, Mitarbeiterqualifikation und Haftpflichtversicherung auf. Bedanken möchte ich mich ganz besonders bei den Autorinnen und Autoren für ihre aktuellen und ausführlichen Beiträge. Mein Dank gilt auch Herrn Bernd Müller, dem Geschäftsführer der Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage, für die Möglichkeit, diesen Sammelband zu veröffentlichen und natürlich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Redaktion, der Technik, dem Layout und allen anderen Bereichen. Stellvertretend seien hier Frau Gabriela Härtel und Frau Susanne Hornig genannt. Rösrath, im Frühjahr 2015 Prof. Dr. Andreas Becker 5 Sieben Schritte zum Erfolg Sieben Schritte zum Erfolg Vom Risikomanagement zum Management ungeplanter Ereignisse Markus Orengo und Markus Grutsch Was Risikomanagement ist und wie man diese Disziplin betreibt kann an Business Schulen und Zertifizierungsinstitutionen gelernt sowie in Büchern nachgelesen werden. Im Zentrum dieser klassischen Ansätze steht meist eine Formel der Form: Priorität = Eintrittswahrscheinlichkeit × Schadenpotenzial Das klingt alles recht einfach und plausibel. Trotzdem tun sich viele Führungskräfte und Berater schwer mit der praktischen Anwendung, vor allem im Kontext von Geschäftsstrategien. Oft drehen sich Diskussionen in zähen Workshops im Kreis: Was ist als relevantes Risiko einzuordnen? Welche Zahlen, Daten und Fakten sind für die Prognosen relevant? Wie werden Risiken bewertet, v. a. dann, wenn sie gleichzeitig auch Chancen beinhalten? Wie viele (Finanz)-Mittel muss man vorhalten, um für Risiken gewappnet zu sein? Der folgende Beitrag zielt nicht darauf ab, die oben genannte Standardformel zu ersetzen. Er versucht aber, die Praxis des Risikomanagements aus etwas größerer Distanz als üblich zu betrachten. Er versucht aufzuzeigen, warum das klassische Risikomanagement mit Vorteil durch weitere Elemente ergänzt wird und bettet dieses erweiterte Verständnis in ein Vorgehen mit sieben Schritten, das sich in der Praxis vielfach bewährt hat. 1. Schritt: Klären von Begriffen und Methodenverständnis Voraussetzung eines zweckmäßigen und effizienten Risikomanagements ist ein gemeinsames Begriffsverständnis der beteiligten Führungskräfte und Berater. Selbstverständlich muss ein solches Verständnis in der Praxis gegenseitig abgeglichen werden. Der Limitierung dieses Mediums Rechnung tragend muss hier auf eine unilaterale Deklaration zurückgegriffen werden (die sich inhaltlich in der Praxis aber bewährt hat): •• Risikomanagement: Es geht nicht nur um Risiken, sondern auch um Chancen. Ein neutraler Begriff ist „Management von ungeplanten Ereignissen“. 101 Reader Risikomanagement im Krankenhaus •• Kontext von „Management von ungeplanten Ereignissen“: Das Management von ungeplanten Ereignissen ist keine separate Disziplin, sondern Teil eines Zieldefinitionsund Planungsprozesses. Das Management von ungeplanten Ereignissen bezieht sich immer auf eine Standardplanung. •• Standardplanung: Die Standardplanung ist die Planung, der man eigentlich gerne folgen würde. Im Allgemeinen deklariert man sie als Standard, weil ihr Gelingen als wahrscheinlich erscheint und weil sie zweckmäßig und effizient in Bezug auf die normativen Vorgaben erscheint. Die Standardplanung kann strategischer Natur sein. Dann bezieht sie sich meist auf Vision, Mission oder Geschäftsstrategie. Sie kann aber auch operativer Natur sein, dann bezieht sie sich meist auf Projektaufträge. •• Chancen und Risiken: ungeplante Ereignisse, die die Zweckmäßigkeit oder die Effizienz der Standardplanung beeinträchtigen oder fördern. •• Zweck des Managements ungeplanter Ereignisse: Erstens geht es darum, die Komplexität der Standardplanung zu vermindern. Anstatt jede Eventualität im Voraus zu berücksichtigen und ‚auszuplanen‘ wird eine möglichst schlanke Standardplanung erstellt. Für alles Ungeplante, das nicht in der Standardplanung berücksichtigt ist, geht es – zweitens – darum, Zeit zu gewinnen. Es wird überlegt, was bereits heute in die Wege geleitet werden muss, um so vorbereitet zu sein, dass man in allen möglichen Zukünften wenigstens ‚den Kopf über Wasser behält‘ und damit lebensfähig bleibt. Standardplanung Management ungeplanter Ereignisse Ereignisse, die dem Vorhaben schaden → langsamer, schlechter, teurer, Risiken Ziel Mission, Strategie, Projektziel... was? wie schnell? wie teuer? warum wie steuern? Initialisierung Definition Planung Steuerung Initialisierung Abschluss Definition Steuerung Abschluss Ereignisse, die das Vorhaben unterstützen → schneller, besser, billiger Chancen Abbildung 1: Standardplanung vs. Management von ungeplanten Ereignissen 102 Planung Sieben Schritte zum Erfolg 2. Schritt: Klären der Standardplanung Ein Risiko oder eine Chance ist immer ein Risiko oder eine Chance in Bezug auf ein konkretes Vorhaben oder ein konkretes Ziel. Beispielsweise ist ein heftiges Gewitter ein Risiko in Bezug auf ein Outdoor-Notfalltraining. Findet derselbe Anlass in einer Turnhalle statt, ist das Gewitter für das Gelingen irrelevant. Bevor man sich also mit dem Management ungeplanter Ereignisse befassen kann, muss geklärt sein, was unter welchen Umständen ohne Eintreten von Risiken oder der Chancen, erreicht werden soll. Je nach Planungsebene bedeutet dies, dass Vision, Mission, strategische oder operative (Projekt)-Ziele geklärt werden müssen. Falls diese Ziele unscharf sind, ist es eine gute Gelegenheit, sie an dieser Stelle mit Hilfe der bekannten SMART-Formel zu schärfen. Ohne ein gemeinsames Verständnis der Standardplanung wird das Management ungeplanter Ereignisse zur belanglosen und meist auch frustrierenden Pflichtübung ohne Nutzen. 3. Schritt: Definieren von Einflussfaktoren (Treibern) Viele Risikomanagement-Workshops verlieren sich im vagen Austausch von Meinungen über das, was in Zukunft alles passieren könnte. Der hier empfohlene Ansatz verzichtet gänzlich auf Prognosen. Stattdessen setzt er bei Dynamiken an, die heute beobachtbar und damit sachlich diskutierbar sind. Eine kleine Herausforderung besteht darin, diese Beobachtungen als richtungsneutrale Einflussfaktoren (auch Treiber genannt) zu formulieren und aufzulisten. Beispiele dazu finden sich in Tabelle 1. 1. Beobachtung Wechselkurs USD/EUR sinkt stark 2. Richtungsneutraler Einflussfaktor/Treiber Wechselkurs USD/EUR Bevölkerung altert zunehmend % Bevölkerung über 60 Jahre ... ... 3. Einfluss auf Standardplanung Finanzierung von neuen Medizintechnischen Geräten hängt vom Wechselkurs USD/EUR ab Kapazität der Bettenstation ist auf die Altersstruktur von 1990 ausgelegt ... Tabelle 1: Liste der Einflussfaktoren (Beispiel) 4. Schritt: Definieren von Trends und Szenarien Als nächstes wird diskutiert, wie sich die Einflussfaktoren im Planungshorizont entwickeln könnten. Der Modus des Konditionals ist bewusst gewählt. Der hier vorgestellte Ansatz empfiehlt dringend, der Versuchung zu widerstehen, zielgenaue Prognosen zu 103 Reader Risikomanagement im Krankenhaus formulieren. Stattdessen werden – viel bescheidener – für jeden Einflussfaktor „plausible Geschichten“ diskutiert. Eine solche mögliche Entwicklung wird im Folgenden Trend genannt. Die mögliche Zukunft, die daraus resultiert, wird Szenario genannt (vielerorts hat sich eingebürgert, den Begriff Szenario als Synonym für Handlungsoption zu verwenden. Das ist hier nicht gemeint). In Anlehnung an Reibnitz (1992) lautet der entscheidende Praxistipp: Diskutieren Sie nicht unzählige mögliche Trendverläufe, sondern für jeden Einflussfaktor nur die beiden extremsten Verläufe, zu denen Ihnen gerade noch eine plausible Begründung einfällt. Dies führt zu einer Erweiterung von Tabelle 1 um zwei weitere Spalten (Tabelle 2): 1. Beobachtung Wechselkurs USD/EUR sinkt stark Bevölkerung altert zunehmend ... 2. .. 3. .. 4a. Gerade noch argumentierbare Entwicklung A Wirtschaftslage bleibt weltweit unverändert schwierig. Die relativen Gewichte verlagern sich wenig, wodurch der Wechselkurs USD/EUR im Vgl. zu heute in einer Bandbreite von ±10 % konstant bleibt. 4b. Gerade noch argumentierbare Entwicklung B Die Krise, die wir seit 2008 erleben entpuppt sich im Kern als Schuldenkrise. Noch innerhalb des Planungshorizontes werden weltweit viele Kreditkontrakte fällig. Da die meisten von ihnen in USD ausgestellt sind, steigt die Nachfrage nach dieser Währung. Der USD kann dadurch deutlich über dem EUR notieren. Eine Verdoppelung des heutigen Wertes von 0.88 ist denkbar. Durch den Einfluss von ZuUnsere Region gerät in wanderung und Fortschritten eine demographische der Medizin stabilisiert sich Negativspirale. Neben dem die Anzahl pflegebedürftiger allgemeinen Rückgang der Personen über 60 Jahre auf Geburtenraten in Westeuheutigem Niveau. ropa verlassen überdurchschnittlich viele Jüngere, gut ausgebildete Personen die Region. Aufgrund der fallenden Immobilienpreise ziehen überdurchschnittlich viele Personen im Ruhestand zu. Dadurch verdoppelt sich die Anzahl pflegebedürftiger Personen über 60 Jahre im Vergleich zu heute. ... ... Tabelle 2: Beispiele für denkbare Extremszenarien A und B Für viele ist dieses Vorgehen anfänglich irritierend. Sie fragen: „Wo bleiben die objektiven Zahlen, Daten, Fakten und Prognosen? Warum nur zwei Szenarien, es kann doch 104 Sieben Schritte zum Erfolg unzählige Verläufe geben? Warum keine Wahrscheinlichkeiten resp. Best-Case, WorstCase und Most-Likely-Case?“ Ohne Klarheit in diesen Punkten ist die hier skizzierte Methodik kaum zu moderieren. Deshalb folgen hier die Antworten auf diese zwangsläufig auftauchenden Fragen: Man braucht kein radikaler Konstruktivist zu sein, um zu erkennen, dass Objektivität im Kontext von Trends und Szenarien ein wackliges Konzept ist. In der Praxis ist Objektivität ohnehin meist die subjektive Meinung des Alpha-Tieres in der diskutierenden Gruppe. Selbst in den Fällen, in denen Zahlen unbestritten sind – bspw. Anstieg der Bettenbelegung im letzten Jahr von 60 Prozent auf 70 Prozent –, ist es ihre Interpretation selten: Reicht der Anstieg? Ist er gefährlich? Wieviel wäre nötig? Wohin führt der Trend? Ziel der hier dargestellten Methodik ist nicht, eine genaue Prognose zu erstellen. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass sich die Zukunft in strategischen Zeithorizonten nicht voraussehen lässt. Anstatt mit Scheinobjektivitäten von dieser Tatsache abzulenken, werden mehrere mögliche Szenarien in Betracht gezogen. Das ultimative Ziel ist, heute so zu handeln, dass die Wahrscheinlichkeiten steigen, in allen Szenarien „wenigstens über die Runden zu kommen“ (vgl. auch Schritt 1). Wie im nächsten Schritt dargelegt wird, geht es nicht um die Szenarien an sich, sondern um das Erkennen von Chancen und Risiken, die in diesen Szenarien enthalten sind. Aus diesem Grund reichen im Allgemeinen zwei Extremszenarien pro Einflussfaktor. Mit Bedacht gewählt enthalten sie alle wichtigen Chancen und Risiken. Eine feinere Abstufung der Szenarien würde viel zusätzlichen Aufwand, aber keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf Chancen und Risiken bringen. Die Methodik empfiehlt, die Trends und die Szenarien nicht zu werten, sondern einfach als möglich festzuhalten. Aus diesem Grund werden Begriffe wie Best- und Worst-Case vermieden. Eine Bewertung erfolgt erst in den nächsten Schritten. Eine saubere Trennung von dem, was passieren könnte und dessen Bewertung ist ein Schlüssel für einen effizienten Prozess des Managements ungeplanter Ereignisse. Eine Einstufung der Szenarien nach Eintrittswahrscheinlichkeit ist zwar nicht verboten, aber an dieser Stelle auch nicht wirklich nötig. Wird von der Prämisse ausgegangen, dass man nicht nur im Most-Likely-Scenario den Kopf über Wasser halten möchte, sondern in allen möglichen Szenarien, spielt die Eintrittswahrscheinlichkeit eine untergeordnete Rolle (sie kann ggf. bei einer später stattfindenden Priorisierung von Maßnahmen relevant werden werden). 105 Reader Risikomanagement im Krankenhaus Zusammenfassend werden im aktuellen Schritt 4 also zu jedem Einflussfaktor zwei gerade noch argumentierbare Extremszenarien festgehalten. Es braucht dabei kein Konsens über zielgenaue Prognosen erarbeitet zu werden, was den Prozess entscheidend beschleunigt. Stattdessen reicht es, die Plausibilität von möglichen Entwicklungen zu beurteilen, unabhängig von der persönlichen Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung. 5. Schritt: Erarbeiten von Stärken und Schwächen der Organisation Wie in Schritt 4 beschrieben empfiehlt die Methodik, Trends und Szenarien nicht zu werten, sondern nur als möglich festzuhalten. Es wird davon ausgegangen, dass dasselbe Szenario – verstanden als Zukunftskonstellation – für ein Unternehmen vorteilhaft sein kann, während es für ein anderes ein Desaster darstellen kann. Beispielsweise repräsentiert ein Szenario mit verschärften Hygienevorschriften für ein Krankenhaus, das diese bereits implementiert hat, einen Wettbewerbsvorteil. Für ein anderes Krankenhaus führt dasselbe Szenario zu einem hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand. Kombiniert mit anderen Faktoren kann im zweiten Falle eine existenzbedrohende Situation entstehen. Auf das Erarbeiten von Stärken und Schwächen wird an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter eingegangen. Bei gut geführten Unternehmen besteht ein schriftlich festgehaltenes Bewusstsein über das, was man besser kann, als andere (Stärken) und über das, womit man sich schwerer tut als andere (Schwächen). Ansonsten ist diese Stelle des Risikomanagementprozesses eine gute Gelegenheit, ein entsprechendes Stärken/ Schwächen-Profil zu erstellen. 6. Schritt: Ableiten von Chancen und Risiken Im Schritt 6 werden Chancen und Risiken abgeleitet. Dabei werden die erarbeiteten Szenarien von Schritt 4 durch die Brille des Stärken/Schwächen-Profils aus Schritt 5 betrachtet. Man geht also für jeden Einflussfaktor die Szenarien A und B durch und fragt sich, wie sich das auf die betrachtete Organisation auswirken würde, wenn es einträte. Dabei gibt es einen Praxistipp: Weil die meisten Szenarien sowohl Chancenaspekte als auch Risikoaspekte beinhalten, tun sich viele Führungskräfte zu recht schwer damit, eine Entscheidung zu fällen, ob es sich jetzt um eine Chance oder um eine Risiko handelt. Es hat sich als sehr hilfreich erwiesen, die Szenarien in eine Matrix einzutragen, in der sowohl Chancen wie auch Risiken abgebildet werden können (Abbildung 2): 106 Sieben Schritte zum Erfolg existentiell Szenario: Verfügbarkeit von Fachkräften verschlechtert sich Szenario: USD/EUR steigt auf 1.8 Chance: Dank unserer Stärke „First Employer“ steigt unsere Wettbewerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt hoch Risiko: schlechtes Timing Szenario: neue Hygienevorschriften werden erlassen Chance: aufgrund unserer Stärke „Hygieneprozesse“ erlangen wir einen klaren Wettbewerbsvorteil mittel Gefahr: Finanzierungsproblem in der Medizinaltechnik und der Rekrutierung internationaler Spezialisten Risiko Chance: keine Risiko: keines mittel hoch Chance existentiell Abbildung 2: Die Chancen/Risiken-Matrix Die Skalierung in Abbildung 2 zielt darauf ab, dass man sich nicht in Details verliert. Man fokussiert nur auf Chancen und Risiken, die mittel, hoch und existentiell eingestuft werden. Die qualitativen Bewertungen beziehen sich auf die Standardplanung (siehe Schritt 2). Mittel und hoch bedeutet, dass die Standardplanung signifikant beeinträchtigt wird. Existentiell bedeutet, dass sich diese nicht mehr umsetzen lässt. In der Praxis haben wir die Darstellung in Abbildung 2 jeweils zur Erklärung des Prozesses verwendet. Die eigentlichen Resultate haben wir aber tabellarisch erfasst. Tabelle 3 enthält ein Beispiel dazu. Szenario Verfügbarkeit von Fachkräften verschlechtert sich ... Relevante Stärke/ Schwäche Stärke: «First Employer» Schwäche: gerne etwas bequem und selbstgefällig ... Chance Risiko Existentiell: Wettbewerbsstellung am Arbeitsmarkt kann relativ zur Konkurrenz entscheidend verbessert werden ... Mittel: schlechtes Timing, wir könnten den richtigen Zeitpunkt, in die Offensive zu gehen, verschlafen. ... Tabelle 3: Chancen und Risiken pro Szenario 107 Reader Risikomanagement im Krankenhaus 7. Schritt: Definieren von Maßnahmen Zur Erinnerung: Im hier vorgestellten Ansatz geht es darum, herauszufinden, was bereits heute in die Wege geleitet werden muss, um so vorbereitet zu sein, dass man in allen möglichen Zukünften wenigstens ‚den Kopf über Wasser behält‘. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Chancen und Risiken aus Abbildung 2 in zwei Gruppen teilen. Im hellen Quadrat links unten stehen die Chancen und Risiken, die mit der klassischen Formel Eintrittswahrscheinlichkeit × Schaden resp. Eintrittswahrscheinlichkeit × Nutzen gesteuert werden können. Entsprechend kann aus den bekannten vier Standardstrategien verhindern, lindern, transferieren oder akzeptieren (für Risiken), resp. ausnutzen, erweitern, teilen oder akzeptieren (für Chancen) eine passende Konfiguration ausgewählt werden. Bei diesen mittleren und den hohen Chancen und Risiken geht es primär um (Kosten)-Effizienz. Wenn man hier etwas falsch macht, „tut es zwar weh, aber man stirbt nicht“. In Unternehmen, in denen es bereits klassische Risikomanagementprozesse gibt, kann man diese Chancen und Risiken dort einfließen lassen. Was hingegen oft übersehen wird, ist, dass existentielle Chancen und Risiken in der dunkleren Zone oben und rechts nicht mit dieser Formel, resp. den Standardstrategien gesteuert werden können. Existentiell bedeutet, dass beim Eintreten der Chance, bzw. des Risikos das Erfüllen des Standardplanung, resp. das Erreichen der Ziele (siehe Schritt 2) ausgeschlossen ist. In einem strategischen Kontext, wo das fragliche Ziel die Business Mission ist, kann das Eintreten eines existentiellen Risikos den Bankrott bedeuten. Entsprechend gibt es auch Chancen, deren Verschlafen gravierende Auswirkungen haben kann. Für existentielle Chancen und Risiken gilt die Leitfrage: „Was müssen wir heute entscheiden und beginnen, um die existentiellen Risiken zu vermeiden und die existentiellen Chancen zu nutzen?“ Dabei darf die Eintrittswahrscheinlichkeit im Grundsatz keine Rolle spielen. Empfohlen ist einzig, heute nur gerade so viel in die Wege zu leiten, dass man in Bezug auf diese existentiellen Chancen und Risiken immer handlungsfähig bleibt. Im obigen Beispiel mit der alternden Bevölkerung (Tabelle 2, zweite Zeile) könnte es sinnvoll sein, sich für Szenario B abzusichern, indem heute ein Fonds für einen Erweiterungsbau der Bettenstation eingerichtet und mit regelmäßigen Einzahlungen bewirtschaftet wird. Falls sich die Wirklichkeit in Richtung Szenario B entwickelt, kann ein Erweiterungsbau in Angriff 108 Sieben Schritte zum Erfolg genommen werden. Falls die Wirklichkeit jedoch gegen Szenario A tendiert, lässt sich der Fonds einfach wieder auflösen. Diese Denkweise impliziert natürlich, dass der ganze Prozess mit den sieben Schritten nicht einmalig, sondern kontinuierlich durchgeführt wird. Dabei muss nicht übertrieben werden. Während der initiale Durchgang meist vier bis sechs eintägige Workshops benötigt, genügt es in den meisten Fällen, wenn die dokumentierte Chancen- und Risikosituation ein bis zwei Mal pro Jahr während einem halben bis einem ganzen Tag überprüft wird. Für die Absicherung der langfristigen Lebensfähigkeit einer Organisation ist das eigentlich nicht sehr viel. Aus Platzgründen wird Schritt 7 nur in groben Zügen dargestellt. Es ist selbstredend, dass zu Beginn jeweils mehrere Handlungsoptionen erarbeitet werden sollten (z. B. mit geeigneten Kreativitätstechniken), die anschließend mit Hilfe einer geeigneten Entscheidungsmethodik bearbeitet werden. Am Schluss muss entschieden werden, was konkret gemacht und wie der Erfolg gesteuert wird. Als Formel hat sich W5 bewährt: wer macht was, bis wann, womit, und wie wird dabei Erfolg gemessen (Wirkungscontrolling)? Fazit Das hier Dargestellte entspricht im Kern einer Kombination aus einer SWOT-Analyse und aus der Szenariotechnik. Beide Konzepte werden in der Praxis oft verwendet, sind aber auch oft Opfer ihres eigenen Erfolgs. Durch die einfache, verständliche Struktur wurden sie zu Standardtools im Strategischen Management im Allgemeinen und im Management von Chancen und Risiken im Speziellen. Leider hat dies nicht immer zu einem überlegten und einwandfreien Einsatz der Instrumente geführt. Dieser Beitrag versucht, dem entgegenzuwirken. Einerseits versucht er, einige Grundsätze in Erinnerung zu rufen. Beispielsweise wird daran erinnert, dass sich die Zukunft in strategischen Zeithorizonten nicht voraussagen lässt, egal wieviele Zahlen, Daten und Fakten man zusammenträgt. Dies ist ebenso banal, wie es gerne vergessen geht. Unzählige Beispiele von „Paralyse durch Analyse“ belegen dies. Andererseits gibt der Beitrag Führungskräften und Beratern eine Methode mit sieben Schritten an die Hand. Werden die Schritte eingehalten, ist auch den Grundsätzen genüge getan. Entscheidungsträger in Unternehmen schätzen die Durchführung einer „Risikomanagement“-Analyse nach den hier vorgestellten Schritten. Der Ablauf schärft das Verständnis zu den Begriffen, macht Handlungsoptionen sichtbar und ergänzt das Risi- 109 Reader Risikomanagement im Krankenhaus kodenken mit dem Chancendenken. Eine Verstärkung des unternehmerischen Denkens ist die klare Folge und dies entspricht mehr als „Good Management-Practice“. Das hier vorgestellte „risikobasierte Denken“ wird auch der Neuauflage von ISO 9001:2015 gerecht. Darin wird der Risikobegriff – wie am Anfang dieses Beitrags – als Abweichungsgröße mit negativer und positiver Auswirkung beschrieben. Für viele Unternehmen, die sich an Management-Normen aus der ISO 9000ff-Reihe oder an Qualitätsmodellen wie EFQM oder TQM orientieren, wird das hier vorgestellte Vorgehen demnach gleichermaßen zweckdienlich sein wie für solche, die sich außerhalb von formalen Qualitätsmodellen pragmatisch auf ungeplante Ereignisse vorbereiten möchten. Literaturverzeichnis Reibnitz, U. (1992): «Szenario-Technik». Gabler 110 Fachwissen. Prof. Dr. Andreas Becker (Hrsg.) Reader Risikomanagement im Krankenhaus Das Thema „Risikomanagement“ ist und bleibt brandaktuell, weshalb auch hier für deutsche Kliniken in Zukunft Handlungsbedarf besteht. Erfahren Sie im KU Reader anhand von Best-Practice-Beispielen und praktischen Handlungsempfehlungen wie Sie ein erfolgreiches Risikomanagement in Ihrer Einrichtung einführen können. Namhafte Autoren und ausgewiesene Experten in der Krankenhauslandschaft zeigen daher Entwicklungen, Trends, Strategien und Umsetzungsbeispiele auf. Der KU Reader widmet sich u.a.: · Der strategischen Planung und Umsetzung · Der Corporate Governance und internen Revision · Der Compliance und dem Datenschutz · Dem Stakeholdermanagement · Dem Medikationsprozess · Dem Risiko- und Compliancemanagement in der Notaufnahme · Fehlermeldesystemen und der Sicherheitskultur · Dem Krisenmanagement und der Kommunikation in der Krise · Der Ausbildung klinischer Risikomanager · Der Bonitätsprüfung von Krankenhäusern · Der Haftpflichtversicherung · Der Qualitätsmanagement-Richtlinie Krankenhäuser des G-BA Weitere interessante Literatur finden Sie in unserem Onlineshop unter shop.ku-gesundheitsmanagement.de Fachbuch, 1. Auflage 2015, 352 Seiten ISBN 978-3-945695-33-3, 49,95 Euro Widerrufsrecht: Sie können Ihre Bestellung innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform oder – wenn die Sache vor Fristablauf überlassen wird – auch durch Rücksendung der Ware widerrufen. 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