Projektwoche Illustration

Universität Erfurt
Projektwoche Illustration
illustrare
Projektwoche Illustration
Universität Erfurt
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Fachgebiet Kunst
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Inhalt
6 Einleitung mit den Vorworten von
Prof. Dagmar Demming und Dorothee Mahnkopf
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40 welten
Text von Ronny Ritze, Bilder von Marlen Mahrle
42 ..., als die milch
Text von Kathrin Franke, Bilder von Anke Manske
8 blind date
Text von Marcus Quent, Bilder von Katsiaryna Chasnakova
9 weit weg
Text von Benjamin Damm, Bilder von Katsiaryna Chasnakova
10 die fremde frau
Text von Christiane Berndt, Bilder von Theresia Dedek
12 ein sehr, sehr schönes mädchen
Text von Dato Turashvili, Bilder von Johannes Gräbner
16 zeit für liebestöter
Text von Helga Breitenschädel, Bilder von Katja Hoffmann
20 der geburtstag
Text von Andreas Gelbhaar, Bilder von Stephan Kühne
24 agro-öko-consulting
Text von Franziska Wilhelm, Bilder von Mareike Lerche
28 überlandleitung / verabredet / greizer park
Text von Peter Neumann, Bilder von Carsten Linke
31 zum lufttanz versammelte
Text von Katrin Marie Merten, Bilder von Andrea Kaufmann
46 der taxifahrer-meinhof-komplex
Text von Konstantin Winter, Bilder von Caroline Marquardt
50 flight club
Text von Johannes Lange, Bilder von Christin Müller
54 unscheinbar
Text von Beatrice Frank, Bilder von Julia Roth
56 sand / sagen will ich
Text von Michael Friedrich, Bilder von Christina Peter
58 ein waidgerechter tod
Text von Georg Maltzen, Bilder von Janette Schäpe
60 heute lernen wir, tschüß zu sagen
Text von Stefan Petermann, Bilder von Elke Schmidt
64 spiegelbild
Text von Adina Frank, Bilder von Andrea Schulz
67 der panda in mir
Text von Jana Heinicke, Bilder von Vivian Syffus
70 windmann geht die stürme küssen
Text von Kai Mertig, Bilder von Maria Zimmermann
34 frauke und hans im glück
Text von Udo Tiffert, Bilder von Anna-Maria Kokott
37 der beschluß des königs
Text von Till Bender, Bilder von Jeannine Mahrholz
72 Danksagung, Impressum
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einleitung
Die Publikation „illustrare“ (lat: erleuchten, erklären,
preisen) des Fachgebietes Kunst der Universität Erfurt
geht aus einer Projektwoche hervor, die im Wintersemester 2010/11 unter der Leitung der Berliner Illustratorin
Dorothee Mahnkopf (www.d-mahnkopf.de) stattfand.
Für das Modul Projektwoche werden Gastkünstler und -künstlerinnen eingeladen, die das thematische Angebot des Fachgebietes Kunst erweitern und ergänzen.
Konzept unserer Ausbildung ist, dass die Studierenden
möglichst viele unterschiedliche Künstler und künstlerische
Positionen kennen lernen, um das eigene künstlerische
Vokabular zu erweitern und eine reflektierte Position zu entwickeln.
In der Projetkwoche „Illustration“ haben sich die Studierenden des Bachelor Kunst erstmalig mit der Verbindung von
Text und Bild in einem gestalterischen Prozess auseinander
gesetzt. Dorothee Mahnkopf schreibt in der Ankündigung für
diese Veranstaltung:
„Die individuelle Handschrift des Illustrators spannt neben
der oft komplexen sprachlichen Ebene ein zweites Netz, das
einen Weg in die imaginäre Welt und über ihre Visualisierung
des Kontextes Erklärung, Kommentar bis bewußte Verwirrung eröffnet.„
Die 21 Studierenden arbeiteten mit Texten von jungen
Thüringer Autoren, die im Kultur- und Literaturmagazin heft
(http://heft-online.de/index.php) publiziert wurden.
Prof. Dagmar Demming
Universität Erfurt
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Fachgebiet Kunst
http://www.uni-erfurt.de/kunst/
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Am Anfang steht bei der illustrativen Arbeit das Wort, doch
im nächsten Schritt sogleich das Bild im Kopf.
Im Rahmen der gewählten Geschichte entspannt sich das
Universum ihrer möglichen Inszenierungen.
Der großen Brandbreite der Texte junger Thüringer Autoren
entspricht das unterschiedlichste Spektrum ihrer illustrativen Umsetzung durch die Studenten.
Ich danke für die engagierte Mitarbeit.
Dorothee Mahnkopf
Illustatorin, Berlin
Text von Benjamin Damm
Bilder von Katsiaryna Chasnakova
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blind date
Text von Marcus Quent
Bilder von Katsiaryna Chasnakova
ich zieh dir worte aus der kehle
steck sie wieder rein
mach den deckel zu
stoß dich weg von mir
lass dich frieren auf dem feld
lass dich sterben in meiner welt
in der alles zerfällt
wo hast du das licht hingesteckt
zieh den schlüssel dir aus deiner brust
ich will zurück zu mir
wenn ich dann zuhause bin
schlag ich dir die tür vor der nase zu
und schau dir lange noch durchs fenster nach
weit weg
Ein Selbstmordattentat in Bagdad
6 Tote,
schlimm,
aber weit weg
Ein Anschlag in der Londoner Innenstadt
70 Verletzte
auch sehr schlimm,
aber auch weit weg
und wenn der Zug, in dem ich sitze
in die Luft fliegt
ist das für Andere
auch weit weg
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die fremde frau
Text von Christiane Berndt
Bilder von Theresia Dedek
Jeden Morgen um sechs Uhr verlasse ich das Haus. Wenn ich
die Tür hinter mir schließe, ist es noch dunkel draußen. Da
ich der Letzte bin, muss ich zusperren.
Die Straße liegt verlassen und einsam vor mir. Wir haben ein
altes Haus in einem kleinen Dorf. Bis zur Bushaltestelle muss
ich nur ein paar Meter laufen. Wenn ich um die Kurve bin,
sehe ich sie. Sie läuft ein paar Meter vor mir.
Ihr blondes Haar scheint zu leuchten im Dunkeln. Es ist
sehr hell und kraus und manchmal trägt sie es offen. Meist
jedoch hat sie die Haare hochgesteckt. Ihre Schuhe sind viel
zu hoch und sie klappert laut auf den einsamen Fußwegen.
Ihre Sachen sind auffällig und aus einer anderen Zeit, als
man die Hosen noch über dem Nabel zuknöpfte. Ihre Tasche
besteht aus rotem Leder und sie trägt sie nicht, sondern sie
hält sich daran fest.
Jeden Morgen geht sie vor mir her. Bis zur Haltestelle an der
Hauptstraße. Dann steigt sie in den Bus und setzt sich ganz
vorn in die erste Reihe. Ohne sie anzusehen, setze ich mich
in die letzte Reihe. An ihren Schritten kann ich erkennen,
wie es ihr geht. Sie hat den Gang einer Frau, die Haltung
bewahren will, aber schon längst den Boden verloren hat.
Meist ist sie betrunken. Dann geht sie schneller und aufrechter. Ich sehe es trotzdem.
Noch nie hat sie sich nach mir umgesehen, obwohl sie weiß,
dass ich hinter ihr bin. Und ich halte den immer gleichen
Abstand zu ihr.
Plötzlich strauchelt sie und ich erschrecke. Sie versucht,
sich zu fangen, doch es gelingt ihr nicht. Hilflos fällt sie, die
Hände nach vorn gestreckt, doch ihr Kopf trifft den Bordstein.
Ich laufe zu ihr und versuche, ihr aufzuhelfen. Starker Parfum-Duft soll den Geruch von Alkohol überlagern, doch die
Mischung aus Beidem widert mich an. Panisch krallen sich
ihre langen roten Nägel in meine Jacke, doch sie bekommt
keinen Halt. Ich sehe eine Platzwunde an ihrer Stirn und
wundere mich, wie schwer ein so dünner Mensch werden
kann. Dann fasse ich mir ein Herz und packe richtig zu.
Im nächsten Moment steht sie wieder auf beiden Füßen. Sie
wischt sich den Dreck von der Hose, ohne das Blut zu bemerken, das ihr von der Stirn über die Wange läuft und ihren
Pullover verschmutzt.
„Ich muss zur Arbeit!“ sagt sie und schiebt mich beiseite.
Ich halte sie fest. Verwundert sieht sie mich an.
„Heute nicht, Mutter!“ sage ich mit fester Stimme. „Heute
nicht!“
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ein sehr,
sehr schönes
mädchen
Von Dato Turashvili
Übersetzung Maka Blank
Bilder von Johannes Gräbner
Es gab da in einer kleinen europäischen Stadt ein Seminar
über die Demokratie und über die Entwicklung der Demokratie. Ich bekam die Einladung und flog hin. Welches Seminar konnte wohl schon der Entwicklung unserer Demokratie
helfen, aber ich tat es trotzdem. In Tbilissi, meiner Heimatstadt, war es schon kalt. Viel zu tun hatte ich dort nicht. Ich
hätte bei Kerzenlicht an einem Projekt arbeiten sollen, doch
das war mir keine angenehme Vorstellung. Also flog ich nach
Europa.
Im Flughafen wartete auf mich eine Frau mit Brille und mit
einem Schild in der Hand. Darauf stand mein Name, auf
Englisch und natürlich falsch. Ich lächelte sie an, zeigte
mit dem Finger auf mich, daß ich es sei, und sie atmete
auf. Wahrscheinlich war sie sicher, daß ich aus irgendeiner
Republik der ehemaligen Sowjetunion nicht so einfach in die
Mitte Europas reisen konnte. Wie sie mir dann selbst sagte,
habe sie sich große Sorgen gemacht, am meisten darüber,
daß ich unterwegs, beim Umsteigen, verloren gehen könne.
„In der Natur geht nichts verloren“, beruhigte ich sie.
Zwei Stunden später waren wir am Ziel. Die Veranstalter
hatten das Seminar in einem Wald organisiert und das war
eine gute Wahl – ein geschmackvoll eingerichtetes Schloß
von einem Herzog oder Grafen aus dem Mittelalter. Gemessen an den Lebensumständen in meiner Heimat freute ich
mich jetzt über den europäischen Komfort. Heißes Wasser
begehrte ich besonders und so saß ich zehn Tage lang immer frisch gewaschen und gereinigt im Seminar. Die meisten
Redner waren aus Amerika. Uns, den Leuten aus der ehemaligen Sowjetunion, erklärten sie sorgsam das Wesen und
die Vorteile der Demokratie. Auch wenn die Barmherzigkeit
der Demokratie mein Land momentan nicht weiterbringen
konnte, würde mir der ausgezeichnete Whisky hier sehr gut
tun, dachte ich. So trank ich jeden Abend eifrig die am Tresen erworbene märchenhafte Flüssigkeit und ließ meine Gedanken schweifen. Nachts las ich immer Bukowski, ich hatte
nur dieses eine Buch dabei. Ich konnte Whisky und Bukowski
nur schwer voneinander trennen, konsumierte beides in vollen Zügen. Am Seminar nahmen auch Russen teil, aber nur
Männer, und das war wahrscheinlich eine gute Entscheidung,
da in Rußland eher die Männer Wissen über die Demokratie
nötig haben als die Frauen …
Am elften Tag fuhren wir mit demselben Kleinbus wieder zurück in die kleine Stadt. Hier sollte ich eine Nacht in einem
schönen Hotel bleiben, am nächsten Tag in die Hauptstadt
fliegen und von da aus gleich weiter – in meine, der heiligen Maria gehörende Heimat. Bis zum Abend ging ich in
den gepflasterten Gassen spazieren, kaufte noch ein paar
Geschenke für meine Familie. Dann kehrte ich zum Hotel zurück. Mein Zimmer war gemütlich. Ich machte den Fernseher
an, aber die Werbung nervte mich. Ohne Whisky hätte ich
bestimmt nicht mehr einschlafen können, also ging ich nach
unten.
Es war eher ein Klub als eine Bar. Die Paare tanzten im Dunkeln. Ich setzte mich an einen freien Tisch. Alles war sehr
schummrig beleuchtet. Der Kellner bemerkte mich schnell.
Ich bestellte ein Glas doppelten Whisky, trank es, sobald
es kam, und bestellte noch ein Glas, wieder einen Doppelten. Der Whisky war so gut, daß ich ihn wirklich nicht
mit Eis nippen konnte, wie Bukowski es tat. Auch meinen
Adern und meinem Gehirn tat das Tempo beim Trinken sehr
gut. Ansonsten hatte ich es nicht besonders eilig, denn in
meiner Nähe saß ein umwerfend schönes Mädchen und blickte mich unzweideutig an.
Ich war müde und beschwippst, wenn auch nicht betrunken,
aber ich erkannte doch, daß sie mich als potenziellen Kunden ansah. Es war dunkel, aber ihre schönen Gesichtszüge
konnte ich trotzdem sehen. Ich hatte schon das dritte Glas
getrunken, als sie aufstand und zu mir kam. Sie setzte sich
neben mich, aber nicht rechts von mir, sondern lief einmal
um den Tisch herum, auf die linke Seite. Daran erinnerte ich
mich erst später, am Morgen, in diesem Moment aber bemerkte ich diese Kleinigkeit kaum.
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Das vierte Mal bestellte ich Whisky, nun schon für uns beide.
Sie trank langsam und wenig, ich – wieder kaukasisch. Ich
fragte sie nach ihrem Namen, sie sagte ihn und lächelte mich
an. Dann nach dem Preis und den sagte sie mir auch. Eine
Stunde kostete nicht viel, aber es eilte mich auch nicht, so
schnell zur Sache zu kommen. Mein Geld reichte für die ganze
Nacht. Ich bot ihr an zu tanzen. Heute noch erinnere ich mich
an den Geruch ihres Haares, spüre ihren Arm an meinem Hals
und die zärtliche Berührung ihrer sanften Finger an meinem
Nacken. Sie war wirklich sehr schön. Ein Travolta war ich
sicher nicht, aber etwas anderes als Tanzen fiel mir nicht ein,
um ihr ein wenig näher zu kommen, bevor wir im Bett landeten. Nebenbei trank ich noch ein Glas Whisky. Dann wollte
ich auf einmal sehr, sehr reden, besser gesagt, mich mit ihr
unterhalten, noch besser gesagt, ihr zuhören. Ich wollte alles über sie wissen, was sie mir erzählen und was ich selbst
erkennen würde.
Das siebte Glas war das letzte. Wir nahmen den Aufzug.
Gleich, als wir das Zimmer betraten, gab ich ihr das Geld.
Beschwert durch den Whisky bewegte ich mich sehr langsam
und brauchte lange, um mich auszuziehen. Ich dachte nicht
mehr an Sex, nur noch an das angenehme Schlafen, zusammen mit ihr.
Ich wollte nur ihren nackten Körper unter der Decke spüren,
wollte, daß sie mit dem Kopf an meiner Schulter zusammen
mit mir einschlief. Etwas anderes wollte ich nicht. Wichtig
war, daß ich nicht allein blieb, und dafür bezahlte ich. Sie
war aber ehrlicher als ich und machte das, wofür sie das Geld
schon genommen hatte. Der Whisky wirkte so stark, daß
mich gleich, nachdem wir fertig waren, ein tiefer Schlaf erfaßte. Das einzige, woran ich mich später erinnerte, war ihre
hauchdünne Haut … seltsam und angenehm …
Am Morgen wurde ich schon früh wach. Die Gardinen waren offen und das ganze Zimmer war sonnendurchflutet. Ich
hatte Kopfschmerzen, aber nicht so starke, wie erwartet,
und das bedeutete, daß ich am Vorabend wirklich perfekten
Whisky getrunken hatte. Ich beeilte mich nicht aufzustehen,
weil ich entschieden hatte, ihr als ein besserer Freier den
Vortritt ins Bad zu lassen. Sie war wirklich wundervoll anzusehen. Beim Aufstehen küßte ich sie auf die Wange und
bedankte mich bei ihr.
Sie stand auf und ein riesiger Stich ging durch mein Herz vor
Schreck und Verblüffung – ihr fehlte der linke Arm.
Ich weiß nicht mehr, wie ich zum Flughafen kam. Im Flugzeug bat ich um ein Medikament.
Bis heute kann ich nicht verstehen, wie ich an jenem Abend
nicht merken konnte, daß ihr der linke Arm fehlte, diesem
wunderschönen Mädchen …
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gggab
zeit
für liebestöter
„Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie
schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen. Aber,
die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte –
zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.“
R. M. Rilke
Die Liebe ist das größte aller Gefühle. Sie richtet sich auf
das Höchste. Etwas jenseits des Himmels und aller Horizonte. Auf dich oder auf mich zum Beispiel. Liebe geht immer
aufs Ganze. Wer liebt, dem erschließt sich im kleinsten Fussel die gesamte Weisheit des Weltalls. Ins Unendliche geht
das Verlangen. Doch wie lange? Ewige Treue schwören wir
dem Geliebten. Unsterblich sind wir verliebt. Liebe, richtige
romantische Liebe, ist stärker als der Tod. Das Versprechen
bei der Trauung: „bis daß der Tod euch scheidet“, ist glatt
gelogen. Ehe und Ewigkeit haben dieselbe Wortherkunft,
und man geht falsch in der Annahme, wenn man bei Ehe
nur an eine Rechtsgrundlage der Liebe denkt, an Sitte und
Gesetz. Seit der Romantik ist wieder zusammen, was zusammen gehört, Liebe und Ehe kein Widerspruch mehr, vielmehr
hat sich die Liebe der Ehe bemächtigt und somit ihre letzten
Fesseln gesprengt. Es ist wirklich schön, wenn Ehe und Liebe
eins sind, doch manchmal ist die Liebe etwas detailblind.
In vorromantischer Zeit wurde man verheiratet und fand
die große Liebe woanders. Heimlich mußte man sich treffen, ständig schwebte man in Gefahr, entdeckt zu werden.
Nichts ist erotischer als verbotene oder unmögliche Liebe.
Wenn jedoch aus Liebe geheiratet wird, dann sind der Liebe
keine Grenzen mehr gesetzt. Man muß Leidenschaft und
ewige Dauer unter einen Hut bringen, und das kann nicht
gut gehen. Wir stehen vor dem Paradox, daß die grenzenlose Liebe sich selbst aufhebt. Ganz deutlich muß die Autorin, ohne Angst und Schrecken verbreiten zu wollen, sagen:
Wir stehen kurz vor einer Zeitenwende. Das Verschwinden
der Liebe aus unserer Gesellschaft ist in bedrückende Nähe
gerückt. Und weil das so schrecklich ist, wollen wir das verhindern. Der geneigte Leser wird folgenden „Plan von der
Abschaffung des Endes der ewigen Liebe durch Liebestöter“
sehr einleuchtend finden.*
Jeder und jede Liebende braucht von Zeit zu Zeit Liebestöter,
die die Liebe in ihrer Unendlichkeit auf ein erträgliches Maß
zuschneidern. Es tut der Unendlichkeit überhaupt nicht weh,
sie in faßbare Häppchen zu unterteilen. Gleichzeitig kann
man Endliches unendlich oft zerlegen. Eine Strecke hat unendlich viele Teilstrecken. Auf die Liebe bezogen heißt das:
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Text von
Bilder von
Text von Helga Breitenschädel
Bilder von Katja Hoffmann
Ewige Liebe verträgt Einschnitte, die Zeiten für Liebestöter,
und ein einzelner Abschnitt kann bei Bedarf ewig ausgedehnt werden. Darin kann dann zeitweise endloser Streit und
Langeweile blühen.
Das Universum zum Beispiel kann man sich kaum als ein unendliches vorstellen. Es muß doch einmal angefangen haben, muß doch eigentlich auch irgendwo und irgendwann
aufhören. Ich geh mit dir bis zu den Sternen und weiter?
Unendlichkeit ist für den menschlichen Geist nicht faßbar,
und für den Körper nicht machbar. Dies gilt jedoch nur für
die Vorstellung von Unendlichkeit.
Die Vorstellung von Unendlichkeit verleitet uns manchmal
dazu, sie zu glorifizieren. Und das ist gefährlich. Deswegen
ist es wichtig für den Erhalt einer Liebesbeziehung, den Umgang mit Unendlichkeit praktisch zu üben und sich sinnlich
mit ihr vertraut zu machen: Wir betrachten die Unendlichkeit, indem wir uns zwischen zwei parallele Spiegel stellen.
Das ist auf den ersten Blick enttäuschend, man sieht keinesfalls ewig weit. Denn beim hin- und herspiegeln geht Licht
verloren, und so verschwinden unsere Köpfe immer kleiner
und immer dunkler am Horizont. Aber prinzipiell haben wir
eine unendliche Folge von immer gleichen Köpfen vor uns.
Das ist nicht schön, aber auch nicht erschrekkend. Ein anderes Beispiel ist Unsterblichkeit. Als Ideal für unsere Liebe
kann uns die Seegurke dienen. Sie ist ein Lebewesen, das
sich immer wieder selbst erneuern kann. Zusätzlich kann sie
sich geschlechtlich fortpflanzen – wenn sie mag –, indem sie
Eizellen oder Spermien ins Wasser ausstößt. Deswegen wird
sie auch auf italienisch cazzo di mare, Schwanz der Meere,
genannt. Wir sehen also die Banalität des Unendlichen im
Alltag bzw. unter Wasser. Genauso enttäuscht ist man von
unendlicher Liebe, wenn man sie erleben muß. Damit die
ewige Liebe in einer Partnerschaft nun eben sich selbst nicht
aufhebt, muß man ihr ab und zu einen kleinen Todesstoß
verpassen. Für am besten geeignet halte ich Langeweile (erzeugt durch den Vortrag gurkiger Gedichte) und lange Unterhosen (ausgeleiert und ein bißchen angegammelt). Aber nur
unter einer Voraussetzung: Beide Liebespartner müssen wissen, daß es sich um eine liebesrettende Maßnahme handelt.
Das Problem der Romantiker war ihre Spinnerei. Sie schufen
die romantische Liebe als Ideal, ohne sie vorher ausprobiert
zu haben. Wir Liebenden der Postmoderne sind da weiter.
Wir können nicht mehr ernsthaft sagen: Ich liebe dich. Denn
das wurde einfach zu oft schon gesagt, und was in der Liebe gesagt wird, darf nur dem oder der Einzigen, dem oder
der Geliebtesten aller Geliebten gelten. Man kann seine
Liebeserklärung loswerden, indem man sagt: „Ich weiß, das
Du weißt, das das, was ich jetzt sagen werde, schon hunderttausend mal gesagt worden ist (an dieser Stelle können
auch berühmte Quellen genannt werden), aber ich sage es
trotzdem, denn ich kann nicht anders: Ich liebe Dich.“ Man
befindet sich auf gemeinsamer, leicht ironischer Ebene.
Wenn man eine gemeinsame Wohnung bezogen hat, kann
man nicht stets und ständig leidenschaftlich seufzen. Um
das unmöglich ewig andauernde leidenschaftliche Verlangen nicht als Abwesenheit von Liebe zu verstehen, muß man
auf andere Weise mitteilen, daß man an den Anderen denkt
und ihn liebt. Der Liebestöter ist Signal dafür, daß man den
Anderen zwar schrecklich toll findet, man aber, um der gemeinsamen Ewigkeit willen, eine Auszeit braucht. Man laufe
dann in unerotischer Wäsche herum oder lese selbstverfaßte
Gedichte vor, wie dieses: Die Gurke ist unsterblich / Auf tiefem Meeresgrund / Nur manchmal gluckst sie zärtlich / wenn
andre Gurke tut sich kund / Oh möge unsre Liebe ewig / Eine
Gurke sein / Im All-Ozean geborgen / Ein türmend, spritzend
Quell / Von Sonnenschein und Regen.
Und danach gibt’s wieder Rilke.
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20
der
geburtstag
Daß früher ja nun auch nicht alles schlecht gewesen sei, sagt
der Vater, das solle ich nur nicht denken.
Daß ich das nicht denken würde, sage ich.
Denke das nur nicht, wiederholt der Vater noch einmal. Und
daß er deswegen noch lange kein Kommunist sei, sagt er
noch. Das denkt ihr doch immer! Nur weil man sagt, daß früher eben nicht alles schlecht gewesen sei. Und bei der Stasi
sei er schon gar nicht gewesen. Himmel bewahre …! Ja, in
der Kampfgruppe sei er schon gewesen, ja. Aber da waren
doch alle drin, da konnte man gar nichts machen. Unsereiner
sowieso nicht! Ein viel zu kleines Licht wäre er da gewesen.
Aber heutzutage getraue man sich schon gar nicht mehr zu
sagen, daß nicht alles schlecht gewesen sei. Da würde man
gleich in einen Topf geworfen mit denen, sagt der Vater.
Bei dem Wort »denen« nickt der Vater Richtung Fenster, als
stünde hinter der Gardine jemand. Auch ich schaue instinktiv
in diese Richtung.
Ich will sagen, daß es durchaus Leute gab, die nicht in der
Kampfgruppe waren. Doch ich sage es nicht und spiele unter
dem Tisch mit meinen Zehen.
Der Vater streicht derweil das Tischtuch glatt. Immer wieder
fährt seine Hand über eine Liegefalte. Doch die Falte widersteht dem Druck. Jedes Mal, wenn die Hand die Stelle wieder
verläßt, erscheint sie erneut. Ich lehne mich etwas zufriedener im Stuhl zurück und verschränke meine Arme.
Nun laß doch den Jungen, sagt die Mutter, die gerade ins
Zimmer kommt. Ich erschrecke ein wenig, weil sie so leise
geht. Schon immer war es mir ein Rätsel, wie man so leise
gehen kann, denke ich. Sie hält mir ein Tablett mit gefüllter
Schweinelende unter die Nase. Hier, sagt sie, schau mal! Die
hab ich nur für dich gekauft. Die magst du doch immer. Und
Spargel ist auch dabei. Früher hat man für so etwas stundenlang anstehen müssen, und Spargel gab es sowieso nicht,
sagt die Mutter noch. Aber zum Glück seien diese Zeiten ja
vorbei! Ich schaue auf die Spargelstangen, die wie abgetrennte Finger zwischen der Schweinelende liegen.
Verhungert sei man deswegen auch nicht, sagt der Vater und
schenkt sich einen zweiten Schnaps ein. Ich halte wortlos
die Hand über mein leeres Glas, die Flasche steht schräg darüber. Wir schauen uns einen Moment zu lange in die Augen.
Dann stellt er die Flasche ab, direkt auf die Falte im Tischtuch. Heute esse man sowieso zu viel Fleisch, sagt der Vater
und trinkt den Schnaps in einem Zug leer. Aber das müsse er
mir ja nicht sagen, schließlich sei ich ja ein Studierter. Die
wüßten sowieso immer alles ganz genau. Doch davon gäbe
es heute auch zu viele. Das wäre wie mit dem Fleisch. Er frage
sich überhaupt schon lange, wer noch arbeiten solle, sagt
der Vater, wenn Hinz und Kunz studieren würden. Wenn es
nach ihm gehen würde, wäre es wieder wie früher. Notendurchschnitt und basta, ohne Hintertür! Und vorher drei
Jahre zur Armee. Das habe noch keinem geschadet.
Ich muß lachen. Was denn daran so lustig sei, will der
Vater wissen. Ich kenne tatsächlich einen Kuntz, sage ich
und grinse noch mehr. Der Vater findet das gar nicht witzig
und sagt es auch.
Wie denn die Fahrt gewesen sei, fragt die Mutter. Wie immer,
sage ich, lang eben und die Züge überfüllt. Aber nun bist
du ja da, sagt die Mutter. Ja, sage ich, nun sei ich ja da.
Schön, sagt sie und ich nicke ein paar Mal zuviel, als müßte
diese Bestätigung noch sein. Die Mutter legt Servietten und
Besteck neben die Teller. Nicht daß du denkst, wir würden
immer so tafeln, sagt der Vater und richtet sein Besteck noch
einmal akkurat zum Teller aus. Eine Ausnahme sei das heute.
Er habe ja noch versucht, der Mutter das auszureden. Aber
da rede er ja gegen eine Wand. Man müsse auch die einfachen Dinge zu schätzen wissen, und zu spät sei es obendrein.
Wozu gebe es sonst eine Uhr. Auch so eine Unsitte wäre das
heutzutage, man esse ja sogar im Gehen.
Ja, pflichtet die Mutter dem Vater bei, das ist wirklich nicht
schön. Als sie den Wein in die Gläser gießt, zittert sie ein
wenig. Jedes Mal, wenn der Flaschenhals das Glas berührt,
klirrt es leise. Ob sie ihn denn vergiften wolle, sagt der
Vater, sie wisse doch, daß er von Wein immer Sodbrennen
bekomme. Sie habe gedacht, nur heute, sagt die Mutter.
Zur Feier des …
Text von
Bilder von
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Text Andreas Gelbhaar
Bilder von Stephan Kühne
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Sodbrennen bleibe Sodbrennen, das richte sich nicht nach
Geburtstagen, sagt der Vater. Unter die Erde bringe sie ihn
schon noch früh genug! Er schiebt sein Glas beiseite, dabei
schwappt es etwas über. Gierig saugt das Tischtuch die Flüssigkeit auf, als habe es nur darauf gewartet.
Ich esse kein Fleisch mehr, schon drei Jahre, sage ich mehr
in den Raum hinein und unterbreche das Spiel mit meinen
Zehen. Dann schiebe ich die Schnapsflasche von der Falte im
Tischtuch, die sich sofort wieder nach oben wölbt. Der Vater
schaut kurz auf.
Das wäre ja noch schöner, sagt die Mutter, ein junger Mann
und kein Fleisch essen, und außerdem die lange Fahrt, ich
müsse doch Hunger haben. Sie legt mir ein Stück gefüllte
Schweinelende auf den Teller und lacht dabei ein bißchen,
als wäre es lustig. Ich warte auf den Spruch »damit du groß
und stark wirst«. Doch keiner sagt etwas, wir essen schweigend. Ich rühre das Fleisch nicht an. Als ich fertig bin, wische ich mir umständlich mit der Serviette Speichel und kleine Reste zerfaserten Spargels aus den Mundwinkeln. Dann
lege ich die benutzte Serviette über das Fleisch. Die Mutter
tut so, als hätte sie es nicht gesehen und räumt das Geschirr
ab. Draußen wird sie das Fleisch wieder in den Topf zurückgeben, denke ich. Morgen wird dann der Vater meine Reste
essen. Das freut mich still.
Erst wenn man selbst dafür arbeiten müsse, wisse man das
alles zu schätzen, sagt der Vater zu seinem Schnapsglas und
schüttelt mehrmals energisch den Kopf. Deswegen stünden
ja an jeder Ecke heutzutage Altkleidercontainer. Immer weg
damit, sagt der Vater und wirft ein imaginäres Kleidungsstück in einen imaginären Container. Wir hatten früher nur
eine Jacke für den Winter, das hat auch gereicht. Vielleicht
noch eine für den Übergang, ja, vielleicht … Er habe schon
mit dreizehn Jahren anfangen müssen zu arbeiten. Mit dreizehn …! Zu meinem besseren Verständnis zeichnet der Vater
mit seinem Zeigefinger eine große dreizehn in die Luft. Jetzt
verkrampfe ich meine Zehen.
Aus der Küche höre ich, wie Wasser in das Spülbecken läuft.
Noch einmal schüttelt der energische Vater seinen Kopf.
Dann schaltet er den Fernseher ein und setzt sich in den
Sessel. Mit dem Bein angelt er einen Hocker heran, um seine
Füße darauf zu legen. Die Fernbedienung hält er wie eine
Pistole. Ein Tierfilm über Elefanten wird gezeigt. Sie ziehen
schwere Baumstämme durch einen Dschungel. Doch der Vater verliert schnell die Lust. Er schaltet den Fernseher wieder aus und geht nach oben. Wenn es nach mir ginge, sagt
der Vater noch in der Tür, würden Geburtstage sowieso nicht
mehr gefeiert.
Ich stehe auf und halte mich am Tisch fest. Elefanten essen
auch kein Fleisch, schreie ich ihm nach, und in die Kampfgruppe wurde man auch nicht gezwungen. Oben fällt hart
eine Tür ins Schloß.
Dann gehe ich zur Mutter in die Küche. Sie steht am Fenster und starrt hinaus, als wäre das ein Trost.
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agro-ökoconsulting
Ich wache auf und versuche mich daran zu erinnern, wie dieser fremde Mann in mein Zimmer gekommen ist. Der Mann
trägt eine braune Anzughose und ein hellblaues Hemd mit
hochgeschlagenem Kragen. Er sitzt vor meinem Laptop und
starrt auf den Bildschirm. Ich stelle mich hinter ihn und erkenne das YouTube-Logo auf dem Monitor. Der fremde Mann
und ich schauen einen Clip, in dem ein anderer Mann mit
hochgeschlagenem Hemdkragen ganz langsam vormacht,
wie man sich eine Krawatte bindet. Das Video hat 3.864.750
Clicks.
Der fremde Mann in meinem Zimmer hat seinen Schlips fertig gebunden, der Knoten sieht etwas mickriger aus als im
Video, aber es geht noch. Der Mann sagt: „Wenn du dich beeilst, kann ich dich im Auto mitnehmen.“
Eigentlich habe ich keine Lust mich zu beeilen, aber dann
bin ich doch gespannt, wohin mich der fremde Mann mitnehmen will und ziehe mich an. Der Mann und ich steigen ins
Auto fahren fünfzig Meter, halten an, kaufen teuren Kaffee
in Pappbechern, fahren wieder fünfzig Meter und stehen im
Stau. „Vielleicht solltest du im Büro anrufen und sagen, daß
es etwas später wird“, sagt der Mann zu mir und trinkt einen
Schluck Kaffee. Ich greife in meine Handtasche und finde
ein Handy in dem tatsächlich die Nummer „Ich Büro“ eingespeichert ist.
„Ich bin’s“, sage ich zu einer Frau am Telefon, die sich erst
mit ihrem eigenen und dann mit einem Firmennamen meldet. Ich überlege, da – Agro-Öko-Consulting ein ziemlich bekloppter Name für ein Unternehmen ist. Die Frau am anderen
Ende des Telefon sagt: „Du steckst also wieder mal im Stau.“
Zwanzig Minuten später stehe ich vor einem Bürohaus, fahre
in die vierte Etage und suche an den Türschildern im Gang
nach meinem Namen. Ich setze mich in mein Büro, schalte
den Computer ein und überlege, was eine Firma, die AgroÖko-Consulting heißt, so machen könnte. Plötzlich kommt
ein Mann herein, der seinem ausgeleierten Pullover nach, un
möglich mein Chef sein kann und setzt sich an den Schreibtisch gegenüber. Er löst einen beeindruckend voluminösen
Teebeutel aus einer Haltevorrichtung auf seiner Tasse. »Na«,
sagt er. „Na“, sagte ich. Dann fummelt er an seinem Tischkalender herum.
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Text von Franziska Wilhelm
Bilder von Mareike Lerche
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„S’is unglaublich“, sagt er. „Was?“ frage ich so neutral wie
möglich. „Wie die Zeit vergeht“, sagt der Mann mir gegenüber. „Manchmal hat man das Gefühl, es blitzt zweimal und
dann ist schon wieder Dienstag.“ Ich nicke, weil ich denke,
daß es das Beste ist. „Schau mal“, sagt der Mann und schiebt
mir eine Zeitung rüber, die wie eine Geo aussieht, aber keine
Geo ist. Ich lese: »Das Gehirn einer Schnecke verarbeitet in
einer Sekunde gerade mal vier Bilder – alle 200 Millisekunden eines. Das ermöglicht Schnecken, das Wachstum von
Pflanzen als Bewegung wahrzunehmen.«
»Irre, was?« sagt der Mann mit dem voluminösen Teebeutel.
»Stell dir vor, du als Schnecke. Du kriechst so ahnungslos
vor dich hin und da schießt so – Wusch! – aus dem Nichts
heraus das Gras neben dir in die Höhe. Wusch! Ein anderes
Büschel. Wusch! Noch eins. Ningelningelningel! – ein kleiner
Rankenfarn.« Er lacht.
Ich frage mich erneut und diesmal sehr ernsthaft, was eine
Firma, die Agro-Öko-Consulting heißt, eigentlich so macht.
Währenddessen läßt der Mann am Schreibtisch gegenüber
Kornblumen, Kamille und Klatschmohn sprießen. Weil er
dabei so einen Lärm macht, höre ich mein Handy erst viel
zu spät. Ein Mädchen im Teenager-Alter spricht mir auf die
Mailbox. Sie fragt, ob sie heute abend bei einer Freundin
übernachten darf.
Ich mutmaße, ich habe Kinder. Ich krame mein Portemonnaie aus der Tasche hervor, finde die Lasche, in der immer
die Paßfotos stecken, und tatsächlich: Es sind zwei. Sie sind
ein bißchen verpickelt, aber ganz ansehnlich.
Ich verbringe den ganzen Tag in meinem Büro, indem ich Tee
aus riesigen Teebeuteln trinke und mir Spots auf YouTube anschaue, in denen ganz, ganz langsam erklärt wird, wie man
Hühnersuppe kocht, Streubomben baut, Tintenstrahldrucker
repariert und Tampons einführt. Ich denke, es gibt nichts,
was es nicht gibt auf der Welt, und dann blitzt es zweimal,
und es ist Dienstag.
Ich stehe vor einem Reihenhäuschen und meine Tochter
steigt aus dem dunkelblauen Kombi, der in der Einfahrt
parkt. Sie hat ihr kleines Akne-Problem überwunden und ist
jetzt ungefähr vierzig Jahre alt. Sie sagt: »Jetzt geht’s los,
Mutter«, und trägt meinen Koffer zum Wagen. Wir fahren zu
einem geschmackvoll eingerichteten Altenheim, das sehr
schön gelegen ist, genau zwischen Stadtpark und Friedhof.
Während meine Tochter meinen Koffer nach oben trägt und
die Formalien klärt, laufe ich ein paar Schritte in Richtung
Park. Ich setze mich auf eine sehr niedrige Bank. Sie ist so
niedrig, daß ich denke: »Mensch, das dauert ja ewig, bis
mein Arsch die Planken berührt«, dann sitze ich und um
mich herum sprießen Schachtelhalme nach oben. Ich höre
genau hin. Es macht gar nicht »Wusch!« denke ich, es ist
eher ein »Zsssssip!«.
»Zsssssip! Zsssssip! Zsssssip!« wächst es um mich herum, hinauf in den Himmel. Ich lehne mich auf meiner Bank zurück
und denke, daß es so nicht weitergehen kann. Eine Schnecke
kommt vorbei, sie wünscht mir eine schöne Restwoche. Ich
nicke und beschließe, bei Agro-Öko-Consulting zu kündigen.
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überlandleitung.
Text von Peter Neumann
Bilder von Carsten Lincke
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verabredet
waren wir nicht
bist
aber du
nicht gekommen
ich hatte gehofft
du fändest mich
auf einer Bank
nicht mal dein Schatten
hat sich über mich gebeugt
die Landschaft
wollte nicht beschrieben werden
jetzt aber
fange ich an die sich abzeichnenden Äste
von der Dunkelheit zu lösen
das mir vorschwebt von einem Treppen
verabredet
bist
kein herbst bringt lederjacken so gelb dass
ein telefongespräch abreißt die überlandleitung verfolg ich
die schwarze linie dahinter der himmel wartet
auf neuigkeiten weißen einbrüchen nachzujagen
wo sie brachliegen in den feldern um jüterbog in
einem verdammten hinterhof ecke prenzlauer allee
zu suchen hätte ich nie damit begonnen ich hätte
nie etwas vermisst dass ein weizenfeld einsamkeit ist ein rascheln
das nie aufhört selbst auf dem bahnsteig stiegen wir
aus demselben zug ohne es zu wissen wir würden
einander verfehlen.
für ein Gedicht
mit dir
waren wir nicht aber du
nicht gekommen
Text von Peter Neumann
Bilder von Carsten Lincke
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greizer park
zum lufttanz
versammelte
Dammweg ragt
ein Silberahorn, dies
ist eine besondere Form: schmallippig
und tief eingeschnitten die Blätter hier
ist die Landschaft, wo
die Bluse dazu.
Lass uns ströpern gehen die Lindenallee entlang der Weißen
Elster, die Karpfenmast der Binsenteiche, Ölweiden
silbrigschilfigen Überzugs in die g e s t a f f e l t e Landschaft
so tun als ob die Hand darüber fahren könnte, wie
über deinen Namen
zwischen den Kiefern im Pinetum,
dein Name, an dem ich
Morgen für Morgen die Wäsche aufhing,
bis sie ganz verstreut
in den Wiesen lag.
An Sonntagen liegt die Heinestraße unbewegt wie ein Kalenderbild. Die ansonsten sich immerfort drehenden Reifen
stehen dicht an Bordsteine gedrängt, unter blank geputzten
Metallflächen still. An Sonntagen steht Jannes in meiner
Küche und kocht grünen Tee. Wie du das aushältst die Woche
über, sagt er, mir wäre es zu laut hier.
An Sonntagen liegt alles in Schichten: Heute über Morgen,
Lebensmittel nach Ladenschluss, Jalousien vor Schaufensterglas, Schwarz auf Weiß – Graffiti-Unterschriften übermütiger Jugendlicher. Du trittst auf der Stelle, sagt Jannes. Ich
sitze, antworte ich.
An Montagen kommt einer im Blaumann mit Farbrolle und
Eimer und streicht die Fassaden. Typisch deutsch, finde ich.
Ist doch super, sagt Jannes. Gegen sieben rollen die Reifen,
fahren Leute zu ihrer Arbeit. An Montagen muss es eine Richtung geben, sagt Jannes, damit die Füße nicht nur vor sich
hin treten, X-Beine, O-Beine, die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor das rechte. Neun Uhr dreißig
bin ich bestellt. Ich gehe die Treppen hinab und die Straße
hinauf. Wände stehen dicht beieinander: Lücken zwischen
Regenrinne des einen und Dachansatz des anderen Hauses
geben Himmelspalten frei und den Blick auf gleitende Vögel.
Einzelne, Paare, zum Lufttanz Versammelte – ein Stimmenkonzert, als wurde Frieden beschlossen im letzten Traum.
Ich warte auf eine Straßenbahn, steige ein. Leute schieben
sich auf Sitze, tragen Taschen auf Schössen, umklammern
Griffe, werfen sich wissende Blicke zu, hier wird keiner gefragt. Das ist mir zu viel, alle atmen, alle riechen, alle haben
Geschichten, aber so, mit der Bahn, geht es schneller voran.
Gegenüber ein Junge, der ist vielleicht vier und hält Finger
vor seine Augen, schiebt sie auseinander, blinzelt durch
Lücken. Bin ich weg, sagt er, lacht und baumelt die Beine
abwechselnd unter den Plastiksitz und wieder hervor, das
rechte, das linke, bin ich weg. Pssst, macht eine Frau Mitte
vierzig mit Krause und hebt den rechten Zeigefinger, bis er
ihre Lippen kreuzt. Ich schließe die Augen. Sieben Stationen, das ist mir zu viel, aber so geht es schnell voran.
Mit mir steigt ein Mann im schwarzen Cordanzug aus. Seine
Hose steht auf Hochwasser, der Stoff des Jacketts ist an den
Ellbogen ausgedünnt. Auch die Krause kommt mit und zieht
das Kind wie einen Koffer hinter sich her. Im Gleichschritt
bewegen wir uns auf den Glaskollos zu – eine seltsame Gruppe. Agentur steht geschrieben auf den Schildern. Die Schilder stehen rechts und links vom Platz, als könnte man hier
vom Weg abkommen, sich verirren; als wäre es weniger amtlich mit dem neuen Namen. Das helle Licht macht mir Angst.
Alles ist gläsern: Schilder, Türen, Blicke. Wir gehen die
Gänge entlang, bleiben stehen im letzten Zimmer, ziehen
Zahlen: erst die Frau, dann ich, dann der Mann. Alter geht
vor und das Kind soll nicht noch länger warten. 208. Aus
dem Lautsprecher eine Frauenstimme, durch die Leitung völlig verzogen, krächzt sie: hunnertehnunachtzsch. Ich beginne, die Leute im Raum zu zählen.
Die Tür geht auf, der Kapitän kommt rein. Ich nicke ihm zu,
ein Reflex. Jannes sagt immer: Guck mal, der Spinner!, wenn
er mich abholt und wir zu ihm fahren, die Zschochersche
runter. Guck mal, der Spinner!, wenn wir am Karl-HeineKanal spazieren gehen, oder beim Dönermann am Lindenauer Markt sitzen. Sein Revier, sagt Jannes, hier wohnen nur
Spinner. Wie du es es aushältst hier, ist mir ein Rätsel. – Mir
aber nicht, antworte ich, ich fühle mich wohl hier. Ich mag
meine Wohnung.
Meine Wohnung ist nicht besonders schön und nicht besonders groß – sie ist nicht besonders. Nur, dass die Dusche in
der Küche ist und das Klo auf halber Treppe. Jannes mag
meine Wohnung nicht. Meistens sind wir bei ihm. Wenn ich
einen Job bekomme, werde ich mir eine neue Wohnung suchen, habe ich versprochen. Oder wir ziehen zusammen, hat
er geantwortet.
Der Kapitän setzt sich auf den Platz in der anderen Stuhlreihe, mir genau gegenüber. Er ist nicht irgendein Spinner,
sondern er ist der mit der marineblauen Mütze und dem
weißen großen Megaphon. Das ist ihm an den Mund gewachsen, sagt Jannes immer, weil er ununterbrochen hinein
brüllt. Jetzt liegt es auf seinem Schoß und er hält den Griff
umklammert mit beiden Händen. Seine Finger sind gilbig,
die Nägel haben schwarze Ränder. Um seinen Hals hängt
ein grauer Schal. Der Mann stinkt nach Schweiß, es ist Mitte Mai. Seine dunkelblaue Jacke wirft Wellen, die Stoffhose
hat Löcher, Haare wuchern heraus. Die Fahne des Kapitäns
reicht bis hier herüber. Er setzt die Flasche an den Mund,
31
Text von Katrin Marie Merten
Bilder von Andrea Kaufmann
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trinkt in großen Schlucken und stellt sie hinab, schiebt sie
mit dem linken Fuß hinter das rechte Stuhlbein.
Der Kapitän zwinkert. Rechts neben mir sitzt ein Mann Ende
zwanzig mit markanter schwarzer Brille im weißen Anzug
und blättert in einer Broschüre. Er riecht nach Adidas Sport,
das habe ich Jannes letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt,
weil er etwas Nützliches haben wollte. Ich glaube, er mag es
nicht, jedenfalls riecht er nie so. Links neben mir sitzt der
Junge aus der Bahn und hat seinen Kopf auf dem Oberschenkel der Krausen abgelegt. Der Kapitän zwinkert wieder. Er
hebt sein Megaphon in Höhe seines Mundes.
Worauf wartet ihr?, grölt er plötzlich. Dass wir dran sind,
murmelt die Krause genervt. Der Brillenmann blättert, räuspert sich. Auf Jobs für Akademiker, denke ich. Liebe Frau
Winter! Ausgezeichnet, ihre neue Bewerbungsmappe. EinserAbi, Erfahrungen in der Gastronomie, im Verwaltungssektor,
zweijährige wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität,
das beste Diplom des Jahrgangs, ausgezeichnet. Tja, liebe
Frau Winter, es tut uns leid, leider können wir Ihnen zur Zeit
nichts anbieten. Sie wissen ja: es ist schwierig mit Akademikern.
Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän durch
sein Megaphon und legt es sofort auf seinem Schoß ab. Das
Kind öffnet kurz die Augen, schließt sie wieder, die Krause
schüttelt den Kopf. Der Gang zum Wartezimmer ist weit und
breit, ständig Schritte, geht einer, kommt einer. Der Kapitän
bleibt sitzen, zwinkert wieder. Auf der Leuchtanzeige Nummer 199. Ich rücke hin und her auf dem Stuhl, im Anflug
ein Schwindel, dann stößt mir Saures vom Magen hinauf,
das Frühstück. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des
Tages, sagt Jannes. Er frühstückt immer sechs Uhr.
Der Mensch braucht eine Aufgabe!, grölt der Kapitän und
zielt mit dem Megaphon genau auf mich. Die denken bestimmt, ich kenne den. Ich nehme mir auch eine Broschüre,
blättere sie auf, lese Seitenzahlen. Zahlen sind einfach. Eine
Aufgabe, ein Ergebnis, klare Sache: richtig oder falsch. Der
Mensch braucht eine Aufgabe! Ich hebe die Broschüre vor
mein Gesicht. Existenzgründer-Seminar. Vielleicht würde das
helfen. Ob sie hier irgendwem helfen können? Akademikern
wohl nicht. 201 auf der Tafel.
Euch stehen alle Türen offen!, grölt der Kapitän. Oh mein
Gott, sagt die Krausefrau. Der Kapitän schwenkt sein Megaphon, zielt genau auf sie: Mein Gott hat keinen Namen!,
grölt der Kapitän. Meiner auch nicht, stelle ich fest, eigentlich wollte ich das nur denken. Das ist ja unerhört! Das ist
ja unerhört!, sagt die Krause und legt die rechte Hand auf
das Ohr ihres Kindes. Kommt denn hier mal wer, kommt denn
hier nicht mal wer, ruft sie, und fuchtelt mit der anderen
Hand herum. Der Brillenmann steht auf, legt die Broschüre
auf den Stapel zurück, zieht sich das Jackett gerade und geht
rechts aus der Tür, zur Toilette. Die Krause faltet die Hände.
Früher habe ich auch gebetet. Abends im Bett das Vaterunser
hoch und runter. Ich weiß nicht, ob das geholfen hat, oder
wobei.
Mein Gott hat keinen Namen!, grölt der Kapitän und lacht
schallend. Wie soll der auch heißen? Klaus-Erhart? Buddha?
Die Krause schüttelt ihre Locken und verzieht das Gesicht.
Was denkt die denn? Dass der liebe Gott einen langen weißen Bart hat und klein gekrümmt auf knochige Äste gestützt
in den Glockentürmen der Kirchen sitzt, in allen gleichzeitig, und dort durch Spalten zwischen Brettern kontrolliert,
wer von uns zur Sonntagspredigt auf der Bank sitzt. Und die
Nicht-Anwesenden sitzen hier, oder wie? Und so was erzählt
sie dem Kind, oder was?
Euch stehen alle Türen offen!, grölt der Kapitän, das Kind
macht die Augen auf. So ein Quatsch!, ruft die Krause, Unerhört! Ich fange an zu lachen. Das ist wie Kabarett, mit
Karten und Nummern, freier Platzwahl aber ohne Eintritt.
Aus dem Kabarett könnte ich gehen.
Euch stehen alle Türen offen!, grölt er noch einmal. Dann
stehe ich auf.
Der Kapitän steht auch auf. Weiter, mein Kind!, grölt er,
klatscht in die Hände, sein Megaphon fällt auf den Boden,
der Knall schallt durch den Raum, schallt hinaus auf den
Gang, das Kind beginnt zu brüllen. Ich drehe mich um und
laufe los, schaue mir über die Schulter, die Krause schaut mir
nach und die anderen auch. Die denken bestimmt, ich bin
mit dem verwandt.
Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän. Vielleicht auf etwas,
das sich anfühlt, wie Erwachsensein. Ich renne den Gang
entlang. Wie uns die Krausen es erklärt haben, als wir Kinder
waren. Gut in der Schule, ein guter Abschluss, ein guter Job,
eine gute Familie, zu Weihnachten Schnee und ein Baum.
Bunte Kugeln. Geschenke. Logisch. Geradeaus. Folgen und
Folgefolgen. Keine Lücken im Tag. Keine Lücken im Wohnzimmer, dort, wo der Baum stehen würde, wenn es einen
gäbe. Jannes hat immer einen Baum, aber ich mag keine
Bäume in der Wohnung, ich mag Weihnachten nicht.
Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän durch
die Eingangshalle, nicht mal zu Weihnachten, denke ich, das
ist Erwachsenenleben. Alle Autos fahren in die Richtung,
die ihr Blinker angibt. Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän.
Ich warte darauf, dass ein grünes Ampelmännchen auf einer
schwarzen Fläche erscheint, dann laufe ich los. Du läufst an-
strengend schnell, sagt Jannes immer. Ich finde es anstrengend, langsamer zu laufen. Aber der Kapitän hält Schritt und
mit beiden Händen sein Megaphon umklammert. Man darf
nicht fortlaufen, grölt er, das Megaphon fiepst. Ich bleibe
stehen, drehe mich um. Ich laufe gar nicht fort, schreie ich
zurück. Dann drehe ich mich wieder um und laufe weiter. Der
Kapitän mir hinterher. Immerhin ist er jetzt still. Vor meinem
Hauseingang halte ich an und drehe mich wieder herum.
Ausgeschlossen, ihn mit rauf zu nehmen, nach Hause. Nach
Hause, das klingt nach mehr als zwei Räumen hinter einer
Tür, in deren Schloss der Schlüssel in meiner Tasche passt,
und einem Klo halbe Treppe mit Extraschlüssel. Ausgeschlossen! Meine ganze Wohnung würde nach Schnaps stinken. Der
könnte mich ausrauben. Vergewaltigen. Umbringen.
Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, sagt der Kapitän
außer Atem, sein Megaphon baumelt am Ende seines rechten
Armes. Jannes würde mich für verrückt erklären. Ich weiß
nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich keinen Job habe,
noch immer keinen, dass ich einfach gegangen bin. Vielleicht
hätten sie diesmal was gehabt. Liebe Frau Winter, ich freue
mich, ihnen mitteilen zu können, dass... – ja, was? Neben
der Toilettentür steht ein auseinander klaffender Karton von
Müllermilch, darin Leergut. Der Kapitän legt seine Flasche
dazu. Ich schließe die Tür auf, ziehe den Reißverschluss an
meinen Stiefeln nach unten, der Kapitän bindet seine Schuhe auf, abgewetzte löchrige Turnschuhe, und stellt sie neben
die Tür.
An Montagen muss es eine Richtung geben, sage ich, eine
Richtung, die man den eigenen Füßen verordnen kann, wenn
sie selbst keine finden, vor sich hin treten, X-Beine, O-Beine,
die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor
das rechte. Der Kapitän zwinkert. Tee, sage ich und gehe in
die Küche, setze einen Topf in die Dusche, drehe das Wasser
auf. Tee ist immer gut.
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Text von Udo Tiffert
Bilder von Anna-Maria Kokott
34
frauke und
hans im glück
Frauke war mit ihren beiden Töchtern in eine Großstadt
gezogen. Ihr Mann hatte auf Montage in Süddeutschland
eine noch aufregendere Frau kennengelernt, mit der er inspirierende Radtouren am Ufer des Bodensees unternahm.
Es hatte Frauke sehr überrascht, daß ihr Mann das Adjektiv
»inspirierend« benutzte.
Von da an war ihr Mann nicht mehr alle 14 Tage zur Familie
gekommen, sondern alle sechs Wochen. Sie bat den Mann,
es gänzlich zu lassen. Der Mann sandte per SMS ein knappes
„Okay“.
Frauke trat aus ihrem gemeinsam gebauten Haus, ging einige Schritte, um es mit Abstand zu betrachten. Dann rief sie
ihren Bruder, den Makler an. Ein Haus, direkt am FlämingSkate verkaufte sich leicht. Ihre Töchter warfen, als das Wort
»Berlin!« fiel, alle Bedenken in den tiefsten Brunnen des
Dorfes.
Bruder hatte mit Kungelpartnern in Berlin eine 3Raum-Wohnung in Treptow aufgetan. Drei Frauen, drei Zimmer, wobei
die jüngere, zwar 18 Jahre alt, immer noch kleine Plüschtierchen an die Schulmappe band.
Frauke lernte in Onlineforen Männer kennen. Obwohl 90 Prozent der eingehenden Meldungen gräßliche Aufdringlichkeiten von betrunkenen Ausgewachsenen, kindischen Jugendlichen oder einer Mischung von beiden waren, traf sie sich
mit einem, der Dummheit und Trophäensammeln entweder
gut verbarg oder vielleicht … Zeit, dem Leben ein Stück entgegen zu gehen.
Sie verließ ihre Töchter für diesen Abend in einem dunkelblauen, knielangen Rock, trug ihr Haar offen. Bereits mehrere Männer hatten ihr gesagt, daß sie das offene Haar völlig
verändere: Eine attraktive, gestrenge Lehrerin übergösse
sich mit noch mehr Weiblichkeit, exponentiell geradezu.
Ein Café, in dem leise Eros Ramazotti lief. Nickname „Reiner
Maria“ hieß in Wirklichkeit Robert. Sie redeten 20 Minuten
miteinander. Frauke konnte sich des Eindrucks nicht mehr
erwehren, daß er darin einige Übung besaß. Sie ging auf die
Toilette, band vor dem Spiegel ihr Haar zusammen. An den
Tisch zurückgekehrt und in Ruhe Platz genommen, sagte sie:
„Das war sehr interessant, Robert. Vielleicht beschreiben Sie
mir das ganze nun noch einmal mit ihren eigenen Worten?“
Noch während sich Robert erhob, begann sein Ohrstecker zu
rosten. Er drehte sich weg, lief federnd auf den Ausgang des
Cafés zu und sagte zur Tür: „Scheiß Emanze, blöde Lesbe!“
Kein Problem, dachte Frauke auf dem Heimweg. Ihr Mann
und die Schickse haben an ihrem Bodensee bald ausgeradelt
und dann kommt er zurück. Dann steht er von Reue begossen
in der Tür und sagt: „Frauke, ich war ein Idiot!“
Lange kann es nicht mehr dauern. Kein Grund, sich bis dahin
mit Roberts abzugeben.
Frauke begegnete Hans im Glück im Treppenhaus. Hans trug
die Latzhose einer Kabel-und Antennenfirma am Leib, pfiffige Gutmütigkeit im Blick.
„Haben Sie kurz Zeit?“ sprach Frauke ihn an, „ich möchte
eine DVD ansehen, aber … geht nicht.“ Hans zog im Flur
seine Turnschuhe aus, ging ins ihm angewiesene Zimmer,
überprüfte die Kabellage. Danach sah es aus, als fehlten nun
zwei, drei Kabel, aber alles funktionierte!
„Toll, toll“, sagte Frauke, „was macht das?“
„Diese Radierung hier ist sehr schön“, sagte Hans, zeigte auf
einen Rahmen an der Wand, hatte seine Arbeit vergessen,
„machen Sie so etwas selbst?“
Text von Udo Tiffert
Bilder von
35
der beschluß
des königs
Text von Till Bender
Bilder von Jeannine Mahrholz
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„Nein, habe ich der Künstlerin abgekauft.“ „Ach so. Ja, auch
wenn’s viel Geld war, ist es das wert.“ Frauke staunte nicht
schlecht, was Kabel-und Antennenmonteure in Berlin so auf
dem Kerbholz haben.
„Also, was bekommen Sie?“
„Mama, wir haben kein Brot mehr!“ rief die ältere Tochter
aus der Küche. Mama schaute in die Küche, betrachtete diesen Teil ihrer Nachkommen, entschied sich nach einer langen
Sekunde für: „Geh welches kaufen, dann haben wir wieder
Brot.“ Hans hatte in der Zeit ihren vom Kopf in die Küche
gedrehten, entblößten Hals gesehen, dunkles, vereinzeltes
Haar am Blusenkragen.
„Ein Kaffee wäre nicht schlecht“, sagte er. Frauke nahm ihn
in den Blick, die Tochter in Gedanken. „Ich mache einen.“
„Ich muß los“, sagte Hans, „noch ein Auftrag in der Buschallee“, hielt ihr einen weißen Zettel und Stift hin. Frauke nahm
beides, notierte ihre Telefonnummer, „Oh, ein Date!“ sagte
sie dabei belustigt, gab ihm Zettel und Stift zurück.
„Es wird ein sehr gutes Datum“, sagte Hans leise mit traurigen Augen, die einen geraden Blick hielten. Dann beugte er
sich zu seinen Schuhen, zog sie an, ging.
Kehrte zurück, fragte in den Türspalt: „Wie heißt Du?“
„Frauke.“
„Komischer Name.“
„Und Du?“
„Hans.“
„Hans – is okay.“
Vorfreude schloß die Tür. Vorfreude hüpfte Stufen hinab.
Hans rief an, sie trafen sich im selben Café, nahmen an
einem anderen Tisch Platz. Hans erzählte von einem Gutachten, das besagte, daß Amerikaner während ihres Lebens
durchschnittlich an 13 verschiedenen Wohnorten in acht Berufen arbeiten und daß dies auf ihn ebenfalls, so ungefähr,
zuträfe.
Frauke berichtete vom weniger aufregenden Leben im
Flämingdorf, und daß sie dieses Leben gerne weitergeführt
hätte, wäre dem Vater ihrer Töchter nicht etwas anderes eingefallen.
„Du hast zwei Töchter?“
„Die in der Küche war die ältere …“
„Wir werden uns immer viel zu erzählen haben“, sagte Hans,
lehnte sich zurück. Da ziehen sich die Männer zurück, das
wußte Frauke, seine Fröhlichkeit war nur Ablenkung. Na gut,
ich hab auf einen Robert verzichtet. Ohne Hans kann ich
auch.
Zurückgelehnt sagte Hans: „Ich wollte eigentlich an jedem
Ort, an dem ich war, auch immer bleiben … naja, wurde aber
nichts.“
Sie gingen bis an Fraukes Haustür. Sie trennten sich mit einer flüchtigen, hölzernen Umarmung. „Gerne wieder“, sagte
Hans. „Finde ich auch“, sagte Frauke, fragte sich nachher
nicht, ob das zu viel oder zu wenig gesagt war?
Drei Abende später, anderes Café am See oder Kanal, sagte
sie ihm, daß eine Tochter bei einer Freundin schlafe, die andere auf Klassenfahrt sei.
Da hielten sie sich nicht an der Tür auf. Erklommen die Treppe. Küßten sich lange beim oder nach dem Jackenanhängen,
küßten später im Liegen weiter, zogen einander aus. Spürten außer Sehnsucht und verstandesfreier Lust auch Fremdes zwischen sich.
Nach tiefem Schlaf trieben sie es erst morgens.
Fünf Wochen später fragte Frauke in die Dunkelheit: „Wann
wirst Du weiterreisen, Reisender?“ Hans fragte: „Wann wirst
Du aufhören, auf die Rückkehr des Vaters Deiner Töchter zu
warten?“ Die Stille leerte sich, fror am Laken. Die Stille füllte
sich wieder. „Wenn wir es beschließen“, sagte Frauke.
Die allein in Frage kommende literarische Form für eine
Geschichte über Liebestöter ist das Märchen: In Wirklichkeit
ist es auch in den schwärzesten Tagen der Geschichte keinem
solitären Finstermann und keinem lebensfeindlichen bürokratischen System je gelungen, die Liebe zu töten. Aber im
Märchen kannst du das natürlich machen.
Jock Waffelbäcker: Erinnerungen
or langer, langer Zeit, da herrschte in einem
fernen Land ein König, der war der glücklichste
Mann auf Gottes Erde. Seine Untertanen waren
treu und fleißig, seine Soldaten waren tapfer, seine Generäle
klug, und noch klüger waren seine Minister und Räte. Sein
Reich war gesegnet mit hohen Wäldern, fruchtbaren Äckern,
fischreichen Seen und Flüssen, und unter den Bergen hinter
den Äckern und Wäldern ruhten kostbare Erze. Das Wenige,
was sein Reich nicht hervorbrachte, erwarb er durch friedlichen Handel mit den Nachbarkönigreichen – seine Minister
und Räte waren so geschickt im Aushandeln von Verträgen,
daß sich der König auf die Tapferkeit seiner Soldaten und
auf die Klugheit seiner Generäle nur selten verlassen mußte.
Aber all das waren bloß gedeihliche Umstände, nichts als
Beigaben, die das Glück des Königs wohl schmückten, aber
nicht ausmachten. Das Glück des Königs, das ihm Tag für Tag
aufs Neue wurde, das Glück seines Lebens, das war seine Königin. Und das ganze Volk nahm daran Anteil, und alle freuten sich seit Jahr und Tag am Glück des Königs.
Der Schmied sagte: „Sie sind wie Hammer und Amboß“, und
der Böttcher sagte: „Sie sind wie Dauben und Faßreifen“,
und der alte Torfstecher sagte: „Sie gehören zusammen wie
Blatt und Stiel meines Spatens, und so hat es seine gute
Ordnung.“ Der Lehrer aber erklärte den Kindern: „Unseren
König und unsere Königin, die hat der liebe Gott füreinander
gemacht.“ Und so war es auch dem König und der Königin:
Sie liebten einander von Herzen und waren eins.
Den König hatte man, als er ein Knabe war, das Musizieren
gelehrt, und wenn er abends die Laute schlug, rührte das die
Königin, und sie erfand eine Melodie zu seinen Harmonien.
Was für den König die Musik, war der Königin die Malerei,
und es verging keine Woche, ohne daß irgendein hingebungs- und hoffnungsvoller Künstler ihr ein prächtiges Ge-
mälde als Geschenk übersandt hätte, um ihr eine Freude zu
machen und um sich sagen zu können: „Sieh an, sieh an,
meine Mühen beginnen doch Früchte zu tragen – die Königin
selbst besitzt nun eines meiner Bilder.“
Der König verstand nichts davon, aber er wurde nicht müde,
seiner Gemahlin zu lauschen, wenn sie ihm von all dem erzählte, was sie auf und in und hinter den Bildern sah, und
er verwunderte sich sehr, denn er sah meistens nichts von
alledem. Und er war sicher, daß die schönsten Bilder der
Welt die waren, die seine Königin im Schloßgarten malte.
Er erzählte ihr seine lustigen Anekdoten, die stimmten sie
fröhlich, sie trug ihm leise ihre Verse vor, die stimmten ihn
nachdenklich.
Nach dieser Weise verbrachten sie ihre Tage und so – ihre
Nächte. Von Zeit zu Zeit aber ritt der König ganz für sich in
die hohen Wälder zur Jagd, und dann ritt die Königin ganz
für sich durch die Felder und Auen. Sie hatten die Wahrheit
des Wortes erkannt: „Es ist nicht gut, daß der Mensch nie
allein sei.“
In der ersten Augustwoche war es wieder Zeit für das große Turnier und die Kirmes, und wie jedes Jahr strömten
die Menschen von nah und fern in Scharen zusammen, vor
dem Schlosse ihres Königs drei Tage und drei Nächte lang zu
feiern.
Oh, was war das für ein buntes Treiben! Händler boten in
ihren Zelten und von ihren Wagen herab allerhand Gerätschaften, Schmuck, und Kleider feil, andere Naschwerk und
Spielzeug für die Kinder. Gaukler, Musikanten und Wundertäter ohne Zahl suchten jeder auf seine Weise, ihr Publikum zu
verführen, und die Leute schauten und staunten und kauften und ließen sich verführen.
Und der König und die Königin schritten durch die Menge,
und wo sie vorüberkamen, verneigten sich die Menschen,
und der König und die Königin winkten ihnen freundlich zu,
wie es seine Ordnung hatte.
Da geschah es, daß der König hörte, wie eine Frau zu ihrem
Mann sagte: „Mann, laß uns doch zu jenem Bauern dort gehen, der Kirschen verkauft. Du weißt, wie gern ich Kirschen
habe.“ Und der Mann antwortete: „Was soll das, Frau? Du
weißt, Kirschen sind mir abscheulich – sie sind zu rot und zu
süß. Oder zu sauer. Laß uns lieber dorthin gehen: Da werfen die Männer Eisen auf einen Stock. Ich will ihnen zeigen,
wie geschickt ich bin.“ Drauf die Frau: „Was soll das, Mann?
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Immer willst du allen zeigen, wie geschickt du bist, und das,
was du dabei hauptsächlich zeigst, ist, wie sehr du es zeigen
willst.“
Und beide gingen nirgendwohin und machten harte Gesichter.
Ein Stück weiter hörte der König eine andere Frau zu ihrem
Mann sagen: „Schau, hier wird mit Würfeln gespielt, und wem
sie glücklich fallen, der kann ein Ferkel gewinnen. Laß uns ein
Hazardspiel wagen.“ Drauf der Mann mit gestrenger Miene:
„Eine Schande wär’s! Wir haben wenig und dürfen das Wenige
nicht aufs Spiel setzen in der vagen Hoffnung auf einen Gewinn. Wir werden stattdessen Kirschen kaufen für das Geld.“
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Nach ein paar Schritten hörte der König einen Mann, der zu
seiner Frau sagte: „Laß uns in dieses Zelt gehen: Darin sitzt
eine Frau, die kann in ihren Karten das Schicksal der Menschen lesen. Ich will doch einmal wissen, was die Zukunft für
uns bereithält.“ Die Frau schüttelte bestimmt den Kopf: „Ich
will’s nicht wissen. Wenn’s was Arges ist, was soll ich mich
schon jetzt darüber grämen. Ist’s aber was Gutes, so will ich
nicht die Zeit bis dahin mir Warten vertun. Und überhaupt
wäre es mir lieber, du wünschtest dir weniger, daß dir jemand zeigt, was wird, und zeigtest häufiger, was du kannst.“
Der König aber wurde sehr traurig und war ganz still drei
Tage lang, und er versank so tief in Gedanken, daß er das
Spektakel der Reiterspiele kaum bemerkte.
Am Morgen des vierten Tages rief er all seine Minister und
Räte zusammen und sprach: „Ich habe mich eines schweren
Vergehens schuldig gemacht. Ich habe mich so sehr um das
Wohl des Reiches gekümmert, daß ich darüber versäumte,
auch auf das Wohl der Menschen zu schauen. Das darf ein
König nicht versäumen, und so will ich es wiedergutmachen.
Es gibt kein größeres Glück für einen Mann, als eine gute
Frau zu haben, das größte Glück für eine Frau ist ein guter
Mann, und großes Unglück wartet auf jene Paare, bei denen
eins nicht recht zum anderen paßt. Ich will nun aber dafür
Sorge tragen, daß es bald nur noch glückliche Paare gibt.“
„Unser König“, riefen die Minister und Räte, „das käme einem Wunder gleich. Sagt uns doch, wie Ihr so etwas bewirken wollt!“
wünschten den König zu seinem hellsichtigen Entwurfe, und
noch zur selben Stunde machten sie sich daran, ihn auszuarbeiten und in die Tat umzusetzen.
Bald ritten die königlichen Boten durchs Land und nahmen
alles gewissenhaft auf, was die Menschen waren und wen
sie sich wünschten. Hier und da trafen sie einen Mann, der
sich einen Mann zum Manne wünschte, oder eine Frau, die
eine Frau zur Frau wollte, und da fragten die Boten bei den
Ministern und Räten nach, was sie in solchen Fällen tun
sollten. Die Minister und Räte fragten den König. Der König
bedachte sich kurz und antwortete: „Das ergibt sich aus der
Sache selbst.“ Und bevor das Jahr um war, waren die ersten
glücklichen Paare getraut. Das Volk pries seinen König, und
dem König und der Königin war es eine Freude.
ch will Boten aussenden durchs ganze Land, in jedes
Dorf, die sollen jeden jungen Mann und jede junge
Frau in meinem Reich aufsuchen, und alle sollen sich
erklären im Großen wie im Kleinen: wer sie seien und
wen sie sich wünschten. Und die Boten sollen alles
gewissenhaft aufnehmen und sammeln, und alles
soll in großen Büchern zusammengetragen werden.
Und wenn dann eine Frau, die gerne Kirschen ißt, einen bescheidenen Mann sucht, können wir ihr in den Büchern einen
bescheiden Mann finden, der eine Frau sucht, die gerne Kirschen ißt. So soll es geschehen, daß mein Volk so glücklich
werde, wie sein König und seine Königin es sind.“
Eine gewisse Zeit lang bemerkte niemand die Veränderung,
die nun im Lande vor sich ging. Es war Winter, und so war
es nicht verwunderlich, daß den Leuten die Kälte unter die
Haut kroch, und man schob das auf den eisigen Wind, der
von den Bergen im Norden herabwehte.
Ein Wort war plötzlich in aller Munde, das vorher kaum jemand gekannt hatte: „Partner“ hieß es und klang anfangs
noch ein wenig nach Kaufmannssprache; Eheleute oder
Paare waren jetzt Ehe- oder Beziehungspartner. Das Wort
traf die Sache ganz gut: Die Partner teilten Interessen und
verfolgten gemeinsame Ziele. Man hatte einen Partner, weil
man etwas zu bieten hatte. Man hatte ihn für das, was man
zu bieten hatte. Das war jetzt Liebe – Ware und Währung
zugleich. Es war ein Elend.
Der König verließ sein Schloß nur noch selten. Die vielen
reibungslos funktionierenden Partnerschaften im Land verstand er nicht. Sein Reich war ihm fremd geworden.
Und die ganze Sache wäre gewiß schlimm ausgegangen,
wenn nicht nach sieben Jahren drei Wanderer vor dem Tor
des Schlosses gestanden und Einlaß begehrt hätten: eine
rußige Köhlerin, ein alter einbeiniger Soldat und ein verstummter Sänger. Die haben das Land gerettet.
Die Minister und Räte staunten und verwunderten sich ob
der Kühnheit des Plans, und sie applaudierten und beglück-
Und wer’s nicht glauben will, der soll sich ein anderes Ende
ausdenken.
40
welten
Jenny ist immer allein. Besonders am Montagmorgen. Denn
da kommen fünf lange Tage, an denen Thomas nicht bei
ihr ist. Vielleicht ist er ja krank und bleibt zu Hause? Doch
Thomas geht ganz früh in die Firma. Er sagt: „Ich denke an
Dich, vergiß das nicht.“ Ein letzter vertrauter Blick, dann
schließt die Tür hinter ihm und ihr bleibt Leon. Gott, wenn
sie ihn nicht hätte, was würde sie mit sich anfangen? Schokoladenüberzogene Clusters aus dem zweiten Hängeschrank,
erste Reihe links, gleich neben dem Zucker. Milch aus
dem Kühlschrank: Sie muß
frisch sein. Ein Löffel. Eine
Schale. Ein Stuhl. Auf dem
Küchentisch liegt eine Einverständniserklärung, unterschrieben von Thomas. Ach
so. Sie vergaß: Leon fährt
mit dem Kindergarten in den
Zoo. Sie beißt in einen Apfel, legt ihn aber gleich in
den Mülleimer. Es schmeckt
bitter. Thomas ist fort, und
das macht ihr Angst. „Und,
freust Du Dich schon auf den
Ausflug?“ „Gibt es dort auch
Tiger, Mami?“ „Bestimmt.“
„Ich möchte auch einen Tiger.“ „Aber der ist doch viel
zu groß für die Wohnung.“
„Dann aber einen Hund …
oder einen sprechenden Papagei!“ „Mal sehen, vielleicht
holen wir uns eine Katze. Katzen sind kleine Tiger.“ „Echt?“
„Hm.“ Leon löffelt die letzten milchgetränkten Teigkrümel
aus der Schale. Er mag Tiger. Es ist ihr Sohn, ihr Kind, sie
liebt ihn! „Möchtest Du noch was?“ fragt Jenny und zeigt
mit beiden Händen auf die Schale. Leon schüttelt den Kopf;
um seine Lippen clustert und milcht es. Jenny nimmt die
Schale und stellt sie ins Spülbecken. Aufwaschen! Nachher.
Und keine Ausreden! Die Milch kommt zurück in den kalten
Kühlschrank, die Clusters in den zweiten Hängschrank, erste
Reihe links, gleich neben den Zucker. Dann muß Leon los.
Er freut sich.
Es muß ihr gelingen zu lächeln. Wenigstens kurz. Sie zieht
ihm den khakifarbenen Anorak an, nicht den blauen. Denn
Text von Ronny Ritze
Bilder von Marlen Mahrle
Blau für kaltes und stürmisches Wetter, Khaki für mittelmäßige Temperaturen. Heute ist mittel. „Deshalb heißen Katzen auch Stubentiger.“ „Echt?“ „Hm.“ Die Uhr zeigt viertel
neun. Handy dabei? Zigaretten? Wohnungsschlüssel? Sie öffnet die Tür und schiebt den eingepackten Leon in den Flur.
Auf dem Weg nach unten ist es wirklich mittel heute, Thomas hat recht gehabt. „Ich male Dir mal einen Tiger“, schallt
es durch das Treppenhaus. „Ach, verdammt! Warte.“ Jenny
hastet die Stufen wieder nach
oben, zurück durch die Tür, in
die Küche und schnappt sich
die Einverständniserklärung.
Leon steht noch unten. Gott!
„Hab nur was vergessen.“ „Ich
weiß, Mami.“ Es sind zehn
Minuten bis zum Kindergarten: Durch den kleinen Park
mit dem breiten Ahorn, über
die Kreuzung mit der Ampel
und dem chinesischen Imbiß
gegenüber, rechts in die Seitenstraße mit dem sanierten
Flachbau, in dem sich der Kindergarten befindet. Leon mag
nicht an ihrer Hand laufen.
Sie kommen am Ahorn vorbei. „Paß auf! Die Autos!“ Er
nimmt doch lieber ihre Hand.
Der Chinese hat heute schon
früh geöffnet und steht grinsend hinter seiner Theke, auf
der die mäßige Speisekarte
mit den asiatischen Ornamenten abgebildet ist. Aber das ist
so was von egal! „Und denk dran! Nicht wieder so schmutzig
machen!“ „Ach, Mami.“ Ab nach rechts. Flaches Haus. Grau.
Sonnenblumen im Fenster. Leon wieder aus dem Anorak pellen. Er mag es nicht, wenn sie das tut, rennt sofort zu seinen
Freunden. „Er will nicht mehr, daß man ihm hilft“, sagt die
Betreuerin lächelnd und reicht Jenny die Hand. „Er ist so ein
aufgeweckter Junge!“ Gott, ist die Frau belastend. So eine
Schreckschraube! „Hm.“ Sie übereicht die Erklärung und
geht. Es ist kühler geworden.
...
Der Chinese sieht eigentlich immer fröhlich aus. Was, wenn
Leon nicht wiederkommt? Oder auf dem Weg zum Zoo etwas
41
passiert? Der Chinese sieht
aus, wie ein schwarzes Ungeheuer hinter flammenden
Drachen. Die Ampel zeigt
Rot. Verdammt. Die Autos
donnern vorüber und ziehen
grauen Dunst nach. Es sind
elende sechs Stunden, bis
sie Leon holen kann. Von
allen Seiten vibriert die erwachende Stadt, hämmert
die Eintönigkeit auf sie ein.
Dazu knallt grelles Sonnenlicht auf den grauen Bordstein und das ekelhafte Ozon dringt
in die Nase. Bitte, werde grün … na endlich. Sie beschleunigt den Schritt und rennt fast durch den Park. Der Baum
steht wie ein verlorenes Kind auf dem blaßgrünen Teppich.
Unbedingt Thomas anrufen, wenigstens eine Minute mit
ihm reden. Wieder in die Wohnung. Sie schließt die Tür,
lehnt sich mit dem Rücken an sie an und starrt nach oben.
Sachen ausziehen oder doch lieber anlassen? Was kann man
um diese Uhrzeit denn schon anfangen? Chatten vielleicht?
Dann ist sie wenigstens virtuell nicht allein. Es ist still, der
Flur kalt und verlassen. Nein. Sie dreht um, reißt die Tür auf
und läuft nach unten. Erst einmal eine Zigarette. Nach links
und ein wenig spazieren, oder nach rechts zur Haltestelle?
Sie fährt mit dem Bus. Nichts wirkt beruhigender. Hauptsache sie bekommt keinen Anfall. Sie hatte noch nie einen
Anfall im Schutz der Öffentlichkeit. Doch irgendwann ist
immer das erste Mal. Es geht. Sie wird ruhiger. Die anderen
Fahrgäste schauen sie gelegentlich an. Das kann doch nicht
wahr sein! Jetzt muß sie in die Linie Blau steigen. Um zwölf
gibt’s bei Mutter Mittag. Punkt Zwölf, wie schon seit sieben
Jahren. Jenny nimmt den Fahrstuhl zur Zweiraumwohnung
im fünften Stock. Bleib still, sag nichts! Mutter steht in der
Küche. Mutter sitzt am Stubentisch. Hering und Kartoffeln.
„Geht’s, Schatz?“ „Hm.“ „Sicher?“ „Laß mich.“ Mutter versucht, freundlich auszusehen. Sie wird es gleich noch einmal
versuchen, wenn sie Jenny an dem häßlichen Kupferstich
im Flur vorbei zurück zur Tür begleitet. Das Bild zweier
Holzfäller. Es stammt aus dem Erzgebirge. Der Mann, der
Mutter geschlagen hat, den Jenny mochte und vor dem
sie Angst hatte, wenn es Nacht wurde, ist lange fort. Sein
Kupferstich ist aber noch da. „Melde dich heute abend!
Ja, Schatz?“ „Mutter!“ Die alte Frau lehnt im Türrahmen,
ihre Augen müde vor
Kummer. „Und lieben Gruß
an Thomas.“ „Wie immer.“
Jenny geht zur Brücke. Es
ist noch kühler geworden.
Außerdem hat der Wind
zugenommen. Sie bleibt in
der Mitte der Brücke stehen
und schaut mit verschränkten Armen in die Tiefe.
Unten treibt ein Kahn auf
dem dunklen, sinnlosen
Rinnsal unter der Überführung hindurch. Der schwarze Rumpf schiebt kleine Wellen vor sich her. Dann ist nur noch das Ende des Bootes zu
sehen, schließlich gar nichts mehr. Bis runter sind es
vielleicht dreißig Meter. Der Wind haucht ihr lieblos um die
Nase. Allein. Allein. Sie drängt sich als schmerzliche
Bewußtheit auf, die Angst vorm Verlassenwerden. Was
hat sie jetzt schon wieder falsch gemacht? „Wenn du
denkst, es geht nicht mehr …“ unterbricht eine vertraute Stimme in ihrem Rücken. Früher war Marika anders. Sie kennt sie schon seit der Schule. Beide hatten sich um einen Jungen gestritten, dann wurden
sie beste Freundinnen, gingen zusammen das erste Mal
in die Disko, tranken und feierten das erste Mal, machten
zusammen den Führerschein. Schließlich hatte Jenny ihr
alles erzählt, alles, was sie bis dahin verschweigen mußte.
„Kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, ergänzt Jenny und
dreht sich um. Ihre Haare spielen im Wind. „Was machst
du denn hier?“ Marika streichelt sie am Arm und legt den
Kopf zu Seite. „Hey, komm.“ Jenny weicht zurück. „Nein.“
Jenny starrt Marika wütend an. „Was machst du hier?“
„Du weißt doch …“ Jenny verdreht die Augen. Warum muß
Marika ihr immer folgen? Sie kann sie irgendwie nicht
mehr ausstehen. Gerade in den Momenten, wenn sie Jenny
daran erinnert, daß sie krank ist. Daß sie ständig Angst hat
und sich verloren fühlt. Daß der Arzt gesagt hat, sie könne
kein normales Leben mehr führen. Immer dann ist Marika
so fremd wie nie. „Komm. Wir gehen Leon holen und dann
nach Hause.“ Jenny ist immer allein, seit sieben Jahren
schon, seit Borderline wie ein unliebsamer Freund in ihr
Leben trat. Jetzt senkt sie den tränengefüllten Blick auf
ihre Füße herab. Marika legt einen Arm um ihre Schulter.
Sie laufen schweigend zurück. Morgen geht es weiter.
…, als die milch
42
Kurz nachdem die Postfrau geklingelt hatte, stürzte die
Milch um und rann an den Tischbeinen zu Boden. Großmutter ballte ihre rechte Hand, die auf dem Rockschoß ruhte,
mit Entschlossenheit zur Faust, so daß die Haut unter ihrem
goldenen Ring hervorquoll. Vater nahm, während sie von
Mutters letztem Durst sprach, ungeduldig vom Hackfleisch
und bestrich damit eine Scheibe Brot. Er begann zu kauen,
noch ehe wir saßen. Seine linke Hand lag beim Essen reglos
auf dem bunten Wachstischtuch. Unser Haus war das vorletzte im Ort. Hinter dem Gartenzaun begannen die Felder.
Dort, wo sich oben auf dem Hügel die Winde kreuzten, stand
eine alte Bockwindmühle. In der Nacht, bevor die Milch umfiel, fuhr ein Sturm hinein und stieß sie um. Mein Bruder
und ich kletterten am nächsten Morgen über den Mühlstein
und die zerbrochenen Holzflügel. Plötzlich gab eines der
morschen Bretter nach und Jakob brach ein. Als er den Fuß
aus dem Loch zog, blieb sein Schuh darin stecken und er
mußte auf einem Bein nach Hause hüpfen. Seine purpurrote
Socke sah aus wie die Pfote eines verletzten Fuchses, der
sich aus einer Falle befreit hatte. Daheim sagte mein Bruder:
Nele ist schuld. Vater gab mir eine Ohrfeige und Großmutter
schimpfte: Ihr gehört ins Kinderheim.
Das heiße Seifenwasser im Eimer hatte ich kalt werden lassen. Später hörte ich, wie Großmutter mit dem Scheuerlappen hinter der Tür wischte und schwer atmete. Sie hatte lange nach mir gerufen.
Auf dem Weg ins Haus faßte Vater mit Daumen und Zeigefinger das einzelne lange Haar, das mir auf der rechten Wange
wuchs, und versuchte, es mit einem Ruck auszureißen. Ich
hatte vergessen, es mit der Hand vor ihm zu verbergen. Es ist
hartnäckig, sagte er. Später, als ich vor dem kleinen Spiegel
im Badezimmer stand und es mit einer Pinzette ausrupfte,
spürte ich noch immer seine rauen Finger auf meinem Gesicht. Die spätherbstliche Kälte hatte sie aufplatzen lassen
und unter den Nägeln lagen schmale, schwarze Halbmonde.
Die Briefträgerin kam leise wie der erste Schnee. Da sie als
einzige im Ort ein Telefon hatte, war sie immer die erste, die
von Todesfällen erfuhr. Als sie sich aufmachte, uns heimzusuchen, ging ein Raunen durchs Dorf. Verstohlene Gesichter
unter Kopftüchern wandten sich den Höfen zu und fahrige
Hände wühlten in Schubfächern nach vergilbten Beileidskarten. Als es klingelte, hörte bei uns das Kauen und Schlucken auf. Vater sprang auf und stieß an den Tisch. Dabei
fiel die Milch um. Kurz bevor die weiße Lache die Tischkante
erreichte, sperrte mein Bruder den Rachen auf und sog sie
schlürfend ein. Ein Teil rann an seinen Mundwinkeln vorbei
und tropfte auf den Boden.
Nun mied sie mein Zimmer und schluckte ihre Bitterkeit herunter. Ich stülpte mir ein Kissen über den Kopf, hielt die
Luft an und wartete, bis sie fertig war. Als ich sah, wie sie
den Eimer im Hof ausleerte, begann ich wieder zu atmen.
Das Blut pulsierte in meinen Schläfen. Ich kauerte mich auf
den Boden und versuchte, mich auf das Muster des Teppichs
zu konzentrieren, bis alle Geräusche von draußen verebbten.
Als die matte Sonne hinter dem gegenüberliegenden Hausdach verschwand, fror ich.
Nach dem Mittagessen lasen wir das letzte Fallobst auf. Es
roch vergoren im feuchten Gras. Vater rief mehrmals den
Namen meines Bruders, dessen Fenster zum Obstgarten hin
lag. Obwohl Jakob kurze Zeit später unter den Bäumen auftauchte, verstummte Vater nicht. Es schien, als schleuderte
er seinen Zorn jemandem am Horizont entgegen, der ihn unentwegt beleidigte. Meine Augen tränten vom kalten Wind
und ich konnte in der Ferne niemanden erkennen. Ein Apfel
fiel herunter und traf mich mit einem dumpfen Schlag am
Rücken. Ich fingerte ohne aufzusehen weiter im Gras. Meine
Hände wurden klamm. Später, als ich warmes Wasser darüber
laufen ließ, tobten Nadeln über sie hinweg.
Nachdem Vater die Postfrau mit einem stummen Nicken verabschiedet hatte, sagte er: Jetzt verfallen wir. Von Mutter,
die nun unter einem weißen Tuch in einem kühlen Raum lag,
schwieg er. Ich malte mir aus, wie die Mülleimer überquellen und das schmutzige Geschirr sich in die Höhe türmen
würde. Großmutter stöhnte, während sie mit der Hand ihren
Mund bedeckt hielt. Ich warf mich auf den Boden und wälzte
mich greinend herum. Vater fand mein Verhalten kindisch.
Als ich aufstand, war mein Haar ganz mit Brotkrumen und
Milch verklebt.
Später versuchte ich mich zu erinnern, ob es ein Zeichen gegeben hatte. Einen Wink, noch bevor es klingelte, Vater an
den Tisch stieß und die Milch umfiel. Doch ich hatte kein
Stechen in der Brust und keine nahende Ohnmacht gespürt.
Nur den ziependen Schmerz, als Vater mir das peinliche Haar
auszureißen versucht hatte. Das war am späten Nachmittag
gewesen.
Die Tasse, auf die Mutter im Krankenhaus mit den Augen gedeutet hatte, erwähnte Großmutter erst, nachdem sich am
nächsten Morgen unsere Blicke wieder an einander gewöhnt
hatten. Mutter sei bereits sehr schwach gewesen und hät-
43
44
Text von Kathrin Franke
Bilder von Anke Manske
te großen Durst verspürt, sagte sie. In der Kammer, in die
man sie geschoben hatte, gab es keine Fenster. Daß es dort
dunkel war, wenn man die Tür schloß, verbaten wir uns zu
denken. Vater sprach stattdessen von den Tieren: Wenn ein
Löwe ein junges Zebra reißt, dann steht das Muttertier nur
kurze Zeit unter Schock. Bereits nach wenigen Minuten hat
es den Tod vergessen und grast wieder. Die Tiere sind klüger
als die Menschen, erklärte uns Vater. Sie trauern nicht, sondern leben einfach weiter.
Mutters Fingerkuppen waren von feinen, bräunlichen Hautritzen durchzogen, die das Messer beim Obstschälen und
Gemüseputzen eingraviert hatte. Manchmal schabte sie mit
einem Teelöffel das Fruchtfleisch aus den Kammern einer
halbierten Pampelmuse und steckte es meinem Bruder und
mir abwechselnd in die aufgesperrten Münder. Das Metall
schlug leicht an unsere Zähne, während Mutter leise seufzte,
weil die Säure der Frucht die frischen Wunden an ihren Händen ätzte. Neben der kleinen, tiefblauen Mundwasserflasche
im Badschrank stand immer eine Blechdose mit GlycerinHandcreme. Mit dem rechten Zeigefinger rührte Mutter jeden Abend einen Stamm Kefirpilze durch ein Plastiksieb und
fing die dickliche Flüssigkeit mit einem Metalltopf auf. Dann
spülte sie die weißlichen Knöllchen mit kaltem Wasser ab,
schüttete sie zurück ins Glas und goß frische Milch darauf.
Als wir die Pilze ins Klo kippten, sagte Großmutter, sie hätten Mutters Organe zerfressen.
Sie sieht besser aus als beim letzten Mal und das ist tröstlich,
flüsterte Vater. Mutter lag im Sarg hinter einer Glasscheibe
und wurde von lilafarbenem Neonlicht angeleuchtet. Großmutter hatte den Bestatter angewiesen, man solle die weiße Spitzendecke im Sarg mit Usambaraveilchen schmücken.
Ich versuchte, unter den Blüten Mutters Hände zu erkennen.
Sie waren gefaltet. Jemand beschwerte sich über die gläserne Trennwand, die eine Distanz zwischen der Toten und
den Hinterbliebenen erzeugte. Der Bestatter entschuldigte
sich höflich und meinte, er müsse die Hygienevorschriften
einhalten. Ich war insgeheim froh über die Scheibe, weil
ich mich vor dem toten Körper fürchtete. Nach einer halben
Stunde raunte der Pfarrer: Bitte nehmen Sie jetzt Abschied.
Ich wußte nicht, wie man von einer Toten geht und schloß
die Augen. Jakob stieß mich in die Seite und zischte, ich
solle nicht so heilig tun. Als wir aus der Leichenhalle traten,
schneite es. Wir stapften eine Weile ziellos auf dem Friedhof
umher. Dann fuhren wir nach Hause.
45
Als Mutters Sachen begannen, muffig zu riechen, eröffnete
Vater den Kampf gegen Schimmel und Milben. Er versuchte,
unseren Verfall aufzuhalten, indem er ihre Kleider aus den
Schränken nahm und in blaue Mülltüten stopfte. Ich machte mich der Fledderei schuldig, weil ich die Säcke heimlich
öffnete und einige Sachen anprobierte. Sie hingen schlaff
an mir herunter. Dann legte ich mir die opulenten Perlenund Holzketten um, mit denen Mutter die halbmondförmige
Narbe an ihrem Hals verdeckt hatte.
Ich fand Fotografien, auf denen Mutter jung und rebellisch
aussah. Auf einem Bild stützte sie sich zupackend auf den
Stiel eines Spatens. Sie trug ein T-Shirt, auf dem ein halb geöffneter, breiter Mund prangte. An ihrem herausfordernden
Blick erkannte ich, daß Vater sie fotografiert hatte. Zu ihrem
Polterabend hatten die Leute aus dem Dorf altes Geschirr,
Kloschüsseln und Waschbecken auf das Pflaster im Hof geworfen. Ein Foto zeigte, wie Mutter vor umherspritzenden
Scherbensplittern zurückwich. Das war schon die Zeit, als
ihre Lippen schmaler wurden und ihr Blick nach innen ging.
Sie begann, ihre Gesichtshaut mit fetthaltiger Lotion zu
tränken. Unter den fast transparenten Wangen schimmerten
haarfeine Äderchen. Einige davon waren geplatzt und bildeten blaue Verwirbelungen auf der Haut.
Tante Martha bemerkte anerkennend, Mutter hätte bis zum
Schluß auf sich geachtet. Ihre korrekt gezupften Augenbrauen im Krankenhaus belegten das. Von den Augen selbst
schwieg sie. Ihre Ungestilltheit lag im schmalen Bereich
zwischen den dunklen Augenringen und den Pupillen verborgen. Manchmal schienen ihre Augäpfel hinter einem feuchten Schleier davonzuschwimmen.
Auf einem späteren Foto blickte Mutter verschämt und mit
einem müden Lächeln zu Boden. Vater knipste sie beim Kartoffelschälen mit Kittelschürze und einer roten Plastikschüssel auf dem Schoß.
Bevor sie auf Bildern den Kopf zu senken begann, schrieb sie
ihm Briefe, wenn er fort war. Darin berichtete sie, daß die
Schrankwand fürs Wohnzimmer eingetroffen war. Die Farbe
hatte sie nach eigenem Ermessen ausgewählt, sie würde ihm
aber sicher gefallen. Sie informierte darüber, daß Jakob der
dritte Zahn wuchs und Großvater 100 junge Hühner gekauft
hatte. Sie selbst hätte begonnen, die Gurken sauer einzulegen. Auch die Johannisbeeren wären bald fällig. Manchmal,
so schrieb Mutter, fühlte sie eine große Müdigkeit, obwohl es
keinen Grund zur Klage gäbe, denn da waren zwei gesunde
Kinder, ein großes Haus und ein prächtiger Garten.
Neun Monate später, als die Milch längst verschüttet war,
drehte Großmutter sich verächtlich um und reiste ohne Gruß
ab. Vater hatte uns mitgeteilt, daß er eine Freundin gefunden hätte, die uns eine gute Mutter sein wollte. Ich schaute
Großmutter so lange durch die beschlagenen Fensterschreiben nach, bis Vaters Stiefel geräuschvoll auf dem unteren
Treppenabsatz schabten. Nachdem er gegen das Geländer
getreten hatte, um die Erdklumpen von seinen Sohlen zu
lösen, schob er den Dreck ins Rosenbeet neben der Tür. Dünger, wie er sagte.
Dann wischte Bärbel die Spuren von der Treppe. Da sie sich
vor Bakterien und Mikroben fürchtete, trug sie gelbe Gummihandschuhe. Es gelang mir nicht, in ihren Händen zu lesen.
46
der taxifahrermeinhof-komplex
Er stand nun schon seit einer geschlagenen Stunde an dieser gottverfluchten Halte. Es war ein schleppendes Vorrücken gewesen, bis er endlich der erste Wagen in der Reihe
leuchtender Taxifackeln war. Und nun stand er in der Pole
Position. Die täglich dünner werdende Tageszeitung hatte er
schon vor der Mittagspause durchgelesen. Der vorhersehbare
Krimi, den ihm seine Freundin zugesteckt hatte, langweilte
ihn zunehmend, und so stand er in der Dunkelheit des Savignyplatzes, im Hintergrund lief leise eine schwere RockBallade aus dem Radio. Er nickte ein. „Fahren Sie … fahren
Sie mich bitte schnell …“ Er schreckte innerlich zusammen,
öffnete trotzdem sanft seine müden Augen und hörte die
letzten Silben des zusammenhanglosen Satzes nicht mehr.
War das eine Frage oder eine Ansage? Er drehte sich kurz
um, blickte in eine gesichtslose Gestalt und lies sich von
seiner Spontaneität hinreißen. „Ulrike-Meinhof-Gedächtnisparty oder wat?!“ Er spielte auf ihre perückenartige, glatte,
exakt geschnittene Ponyfrisur an und daß sie nachts eine
dunkle, eckige 70er-Jahre-Sonnenbrille trug. Sie quittierte
seinen scharfsinnigen Wortwitz mit einem verständnislosen
Gesichtsausdruck, den er im Rückspiegel und unter ihrer
Maske aus Brille, Perücke und Lippenstift nur erahnen konnte. „Fahren Sie bitte los.“ Gequält leise und doch bestimmt
klang es nach vorne. Doch eine Ansage.
Er startete den Motor, der Wagen schüttelte sich kurz und
rollte auf die rote Ampel direkt vor der Halte zu. Er schaltete das Taxameter ein und drehte das Radio leiser, fast lautlos. „Wo darf’s denn hingehen, Gnädigste?“ „Nun fahren Sie
doch, biegen Sie rechts ab.“ „Ahm … die Ampel …“ Er zeigte
auf das warnend leuchtende Rot. Sie unterbrach ihn, diesmal
klang es etwas wirsch. „Biegen Sie schon ab!“
Noch immer etwas schlaftrunken checkte er links die Fahrbahn, weit und breit kein Fahrzeug, also bog er langsam um
die Ecke in die Kantstraße ein. „Wo müssen Se denn hin?“
Stille. Er überzeugte sich nochmals im Rückspiegel, ob er
auch wirklich einen Fahrgast auf der Rückbank hatte.
Die Maskierte blickte sich gerade hastig nach hinten um,
dann nach rechts. Plötzlich, halb flüsternd, halb inbrünstig
flehend, erreichte ihn ihre zittrige Stimme. „Fahren Sie einfach, einfach fahren, bitte, fahren Sie!“ „Gnädigste, meene
Arbeit besteht darin zu fahren … für Jeld, an eenen Ort Ihrer
Wahl, den Se kennen und mir mitteilen sollten. Sie ham doch
Jeld, oder? Und ’n Ziel ham Se ooch?!“ „Ss, sie verstehen
nicht … ich muß doch nur hier weg – fahren Sie mich weg.“
Er wunderte sich über nichts mehr, hatte schon zu viel erlebt
in seiner kurzen Karriere als Taxifahrer. Er beschleunigte.
„So jeht dit nich, Fräulein. Sagen Se mir doch wenigstens,
in welchem Bezirk ihr jeheimes RAF-Klassentreffen stattfindet.“ Regungslos nahm sie seinen Kommentar zur Kenntnis.
Nach einer Weile fügte sie leblos an: „Ich muß zu meinem
Anwalt.“ „… dacht ick mir schon“, murmelte er und spürte
ein wenig aufkommendes Vertrauen zwischen ihm und seiner Kundin. „Dieser Anwalt von Ihnen, hat der ne Adresse?“
Sie schien schon wieder versunken zu sein in einer unendlich scheinenden Schleife aus sich umdrehen, umsehen und
hektisch wieder zurückschwenken. „Biegen Sie hier links
ab!“ Oh Ulrike, du dominant-mysteriöse Nachtgestalt. „Kaiser Friedrich-Straße, mmh. Am Stutti stand ick vorhin ooch
schon. Scheißjeschäft heute. Die Russen sind wohl alle noch
im Puff, da guck ick frühestens um dreie wieder vorbei.“ Er
blickte nochmals in den Rückspiegel und sah, wie sie in einer Plastiktüte kramte, die er erst jetzt wahrnahm. Sie wirkt
verwirrt, dachte er. Verwirrt, erschöpft, gehetzt. Kraß, die
Alte wirkt wie ein gejagtes Tier auf Beruhigungsmitteln. Er
setzte nochmals an: „Wenn Se mir sagen würden, wohin …“
Sie fing an zu reden, aber nicht mit ihm. „Thomas, hier ist
Josefina …“
Doch keene Ulrike, bestimmt ein Codename, wer heißt schon
Josefina. „… entschuldige die Störung, aber ich … ich brauche Deine Hilfe.“ Die Person am anderen Ende der Leitung
sprach lange mit ihr. Sie wirkte aufgeregt, rutschte auf ihrem
Sitz hin und her und blickte sich immer noch unentwegt um.
„Danke Thomas, ich, ich …“ Thommy schien sie zu unterbrechen und sie legte ein „Ja, dann bis gleich“ nach. „So, dieser
Anwalt, wo hat der denn seine Mitternachtskanzlei?“ „Schöneberg“, kam es abwesend von hinten. Na wenigstens mal ne
Antwort. „Schöneberg. Da ham wa aber jetze ’n janz schönen
Umweg jemacht, wa! Ick fahr jetze übem Fehrbelliner zurück.
Welche Straße denn?“
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Sie fingerte in ihrer Tüte, holte etwas Kabelartiges hervor, warf es wieder zurück. Er
mußte sich wieder auf die Fahrbahn konzentrieren, hörte aber wie sie den automatischen Fensterheber bedienen wollte,
erst klickend, dann darauf einhämmernd.
„Kindersicherung, Gnädigste. Broochen Se
frische Luft? Jeht es Ihnen nich gut?“ Sie fuchtelte mit der
Plastiktüte in der Hand herum. „Ich muß das hier loswerden.
Fahren Sie an einen Mülleimer! Die, die dürfen nicht wissen,
wo wir hinfahren!“
Bingo! Die Alte ist nicht nur auf Drogen, die denkt auch
noch, daß wir verfolgt werden. Er mußte schmunzeln. Jetzt
wollte er seine Theorie überprüfen. „Dit kann ick nich machen.“ Er pausierte. „Die dunkle Limousine hinter uns, sehen
Se die? Die folgt uns schon seit jut zehn Minuten. Ick wollt
Se nich beunruhigen. Wir sollten jetzt nicht anhalten.“ „Fahren Sie schneller, mein Gott, fahren Sie rechts, schnell.“ „Zu
Befehl.“ Jetzt war er geistig wieder voll da. Action! Er riß das
Lenkrad im letzten Moment um und bretterte die Konstanzer
runter. „Scheiße! Die sind immer noch da. Wir hängen se uff
der Autobahn ab.“ Er gab Vollgas, ratterte über die gerade
rot gewordene Ampel. Er kannte die Schaltung hier genau.
Wenn er jetzt auf 90 beschleunigte, kriegt er die nächste
noch und kann dann auf der Stadtautobahn mit gut 130
Richtung Steglitz pesen. Was ihn noch mehr anmachte als
das steigende Tachometer, war der steigende Fahrpreis. Von
Steglitz zurück nach Schöneberg sind’s noch mal gut sieben
Euro. Dann hat sich das Warten also ausgezahlt. Sie riß ihn
aus seinem gedanklichen Hoch. „Wir müssen das hier loswerden, sonst finden die uns immer wieder.“
Blanchierter Rattenkot! Mir soll’s recht sein, wenn die uns
noch durch ganz Berlin jagen. „Reißen Se sich zusammen
und denken Se doch mal nach. Die Wichser ham sicherlich
meen Kennzeichen notiert. Die ham bestimmt Kumpels in
der janzen Stadt, die just in diesem Moment nach meenem
Taxi suchen, mit oder ohne Peilsender. Scheiße, die sollen
ruhig wissen, wo wa sind. Wir stellen denen ne Falle.“ Er
phantasierte sich selbst in Rage, raste dabei durch den Autobahntunnel. „Ick ruf jetze die Zentrale mit nem jeheimen
Funkspruch. Dann sind wir uff’m Radar.“ Er nahm sein Mikro,
ohne den Sprechknopf zu drükken, und brüllte: „Wagen 3642
an BEROLINA, 3642 an BE-RO-LI-NA.“ Um dem ganzen noch
mehr Effekt zu geben, versicherte er ihr: „Ick schalte jetzt
auf Kanal 3. Alle Fahrer, die sich gerade auf diesem Kanal
aufhalten, wetzen schon ihre Messer und Macheten aus Langeweile. Verdammter Fötus, die polieren schon ihre ScheißKnarren. In Null Komma Nix haben ihre Freunde da hinten
ein Mordsproblem mit halb Berlin. Taxifahrer ham noch echte Solidarität untereinander, wissen Se.“ Er brüllte wieder
in das abgeschaltete Mikro: „Kollege hat ein F-2-7. Schildhomstraße, aus Wilmersdorf kommend. Yalla! Wagen 3642,
F-2-7, Kollegen aller Rassen und Schwanzlängen, F-2-7!!“
Er mußte sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Die Alte
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gggab
Text von Konstantin Winter
Bilder von Caroline Marquardt
is ja schon kreidebleich in ihrem von haus aus schon käsigen Yoko-Ono-Gesicht. „Fahren Sie mich sofort zur MartinLuther-Straße. Martin-Luther 24a.“ Mit seinem vorherigen
Schätzwert von sieben Euro hatte er sich doch etwas übernommen. Egal, die Alte ist verrückt, er hatte eine gute Fahrt,
geldtechnisch gesehen, und seinen Spaß hatte er auch noch
gehabt. Er fuhr auf dem kürzesten Weg Richtung Rathaus
Schöneberg. Sie telefonierte abermals mit ihrem Anwalt. Wer
zum Teufel würde die Spinnerin als Klientin annehmen und
welcher Anwalt arbeitet sonntagnachts? Er erinnerte sich
daran, kürzlich „Fear and Loathing in Las Vegas“ mit seiner
Freundin gesehen zu haben und relativierte seine Meinung
über Anwälte. Vielleicht ist ihr Anwalt ein verdrogter Alienjäger, der in der Martin-Luther-Straße Motto-Swingerparties
schmeißt. Geil, da lade ick mich einfach gleich selbst mit
ein. Das Telefongespräch war wenig aufschlußreich gewesen,
seine Action-Stimmung war wirren Nachwehen seines abendlichen Haschisch-Tums gewichen, den er sich in seiner Pause
zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr gerne mal gönnte, und überhaupt waren sie gleich am Ziel angekommen.
Er hoffte jetzt nur noch auf ein ordentliches Trinkgeld, zusätzlich zu den schon guten 22,50 Euro. „Da, da steht er
schon!“ Josefina Yoko Meinhof war aufgeregt, sie freute sich
fast schon, die korpulente Gestalt am Hauseingang lehnen
zu sehen. „Ahm, dit is nich die vierundzwanzig. Die vierundzwanzig is uff der anderen Straßenseite.“
Sie reagierte mal wieder nicht auf seine Aussage. „Hier nehmen Sie.“ Sie hielt ihm einen braunen Schein hin und öffnete die Tür. Korrekt! Er griff nach dem Schein, etwas zu hastig.
In diesem Moment wurde die Frau aus dem Auto gerissen.
Es ging so schnell, daß er, als er den Schein weggesteckt
und sich umgedreht hatte, die Frau nicht mehr klar erkennen konnte, nur noch Umrisse von Gestalten. „Hey! HEY!“
Er drückte die Fahrertür auf, rannte bei laufendem Motor um
den Wagen herum. Keine Menschenseele weit und breit. Er
blickte auf die andere Straßenseite. Im gelblich schimmernden Hauseingang war niemand mehr zu sehen. Er wollte die
Türe hinten rechts, die immer noch offen stand, zuschlagen.
Da sah er die blaue Plastiktüte auf dem Rücksitz liegen. Ihm
lief es eiskalt den Rücken runter.
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flight club
Wer mit dem Auto an einem sonnigen Nachmittag über eine
Landstraße fährt, der muß meistens wenigstens einmal
scharf bremsen. Entweder stürzt sich ein Vogel, ein frecher
Spatz, keck aus dem Gebüsch am Straßenrand vor den Wagen. Oder ein solches Tier sitzt pfiffig auf der Straße, beobachtet das Auto und fliegt trotzdem nicht weg.
Wer aber zu Beginn eines solchen Nachmittags, so gegen
dreizehn Uhr, einmal anhalten und aussteigen würde, der
würde hören, wie sie sich beraten, gegenseitig auf die Spitze treiben, anfeuern, beleidigen, zujubeln, freuen, lachen,
brüllen. Wer einmal anhalten würde, der würde die Vögel
verstehen lernen. Der würde merken: Es ist wieder soweit.
Es geht wieder los, die Nachricht frißt sich durch die Büsche und Bäume wie brüllendes Feuer. Und alles flattert
durcheinander. Jeder ruft aufgeregt und das Zwitschern wird
ohrenbetäubend. Alle sammeln sie sich. Alle wollen sie ihre
Sucht befriedigen. Jeder will ein Auto für seinen Flug. Und
der Autofahrer, der angehalten hat, der würde spätestens
jetzt bemerken: Der Flight Club geht wieder los.
Regel 1 im Flight Club: Rede nicht darüber.
Regel 2: Rede nicht darüber! Trotzdem tut es jeder. Wer einmal dabei war, einmal das Adrenalin gespürt hat, das den
Körper beim Flight durchrauscht, überschwemmt, wie ein
Tsunami ertränkt, der wird süchtig nach dem Scheiß.
Regel 3 im Flight Club lautet: Keine Schnäbel, keine Krallen.
Regel 4 heißt: Ein Flight dauert so lange, wie er dauern muß.
Und die letzte Regel im Flight Club: Wer neu ist im Flight
Club, muß fliegen.
Es ist ein sonniger Samstagnachmittag. Die Landstraße liegt
wie eine verdauende Schlange zwischen den Feldern. Links
und rechts Bäume am Straßenrand. Büsche. Verstecken …
Und überall, verborgen, heimlich, aber ohrenbetäubend
laut: Wir. Der Flight Club. Begeistert, mit aufgerissenen Augen, kratzigen, sich überschlagenden Stimmen, schlagenden
Flügeln, aufgeregt. Unruhig. Fast platzend vor Erwartung.
Es hat angefangen mit Heiner und mir, Maiko. Wir waren die
ersten.
Angefüllt mit Langeweile und gärenden Äpfeln saßen wir in
diesem Busch und plötzlich sagte Heiner zu mir: „Ich will,
daß du mich stößt, so hart du nur kannst“. Und ich so:
„Was?“ Und er, jedes Wort wie Kaugummi gedehnt: „Maiko,
ich will, daß du mich stößt, so hart du nur kannst“.
Also habe ich weit mit dem Flügel ausgeholt und ihm
Text von Johannes Lange
Bilder von
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Text von Johannes Lange
Bilder von Christin Müller
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heftig auf den Rücken geschlagen. Er stürzte vom Ast, breitete seine Flügel und versuchte, sich zu fangen. Er trudelte
auf die Straße, und erst jetzt bemerkte ich das Auto, nicht
mehr weit, zu nah, zu schnell.
Ich bekam es mit der Angst. Dachte, wenn Heiner überfahren
wird, sei ich daran schuld, und überlegte mir Ausreden. Aber
Heiner fing sich kurz vor dem Boden, schlug mit den Flügeln,
drehte und stieg knapp vor dem Wagen in die Höhe. Aber er
stieg nicht weiter, als er direkt vor dem Kühlergrill war. Der
Fahrer bremste scharf. Es quietschte. Qualm stieg auf. Das
war’s. Jetzt ist er tot. Jetzt muß ich mich rechtfertigen.
Trotzdem schrie ich: „Los, Heiner, zieh an! Zieh!“
Und Heiner blieb immer knapp vor dem schlitternden Auto,
flog schließlich zurück zu mir. Er war blaß und naß vom
Angstschweiß. Aus großen Augen sah er mich an. Schwer
atmend. Irgendwie glücklich.
„Scheiße, das war geil!“
Ich war sprachlos.
„Stoß mich noch mal!“
Die Lust blitzte aus seinen Augen. In seinen Worten lag ein
Ton, der brüllte: „Ich will leben!“. Und seine zerzausten Federn riefen: „Ich will nicht ohne Narben sterben!“
„Nein, erst ich“, rief ich mit pochendem Herzen, „stoß du
mich zuerst!“
Und Heiner stieß mich vor das nächste Auto.
Ich stürzte, breitete die Flügel und steuerte vor die Kühlerhaube. Hörte den Motor. Wartete auf das Quietschen.
Spürte, wie eine Kraft in meinen Kopf schoß, alles in Zeitlupe, und ich flog und hörte das Auto und wagte nicht, mich
umzusehen. Ich wartete nur auf das Quietschen und dachte,
daß ich jeden Moment tot bin, und fand es unglaublich geil
und wartete auf das Quietschen.
Aber es quietschte nicht. Ich hörte Heiner wie durch eine
Betonwand: „Hau ab, Maiko, der bremst nicht!“ Der Fahrer
fuhr einfach weiter. Scherte sich nicht um mich. Ich sah mich
zerquetscht am Kühlergrill kleben. Sah mich zerschmettert
auf der Straße. Wartete immer noch auf das Quietschen und
spürte schon den Luftsog am Bürzel. Ich sah mich schon ins
Getriebe des Autos geraten, als ich abdrehte.
Ich konnte kaum auf dem Ast stehen. Meine Knie waren aus
Gummi und mein Gehirn voll mit Adrenalin. Ich hatte dem
Tod ins Auge gepickt und mich aus dem Staub gemacht,
dachte ich. Sah Heiner an. Lachte. Sah Heiner lachen. Dem
Tod ins Auge gepickt, dem ollen Schnitter.
gerufen: „Hier, ich will als nächster sterben“, und als der Tod
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dann kam, da haben wir einfach so getan, als hätten wir gar
nichts gesagt.
Heiner und ich faßten uns an den Schultern und tanzten in
dem Busch. Wir lachten über unseren Wagemut, die Autofahrer, die vertriebene Langeweile. Wir lachten, weil wir vor
Angst heulen wollten, aber nicht konnten. Und wir riefen immer wieder, daß das so geil, so hart, so porno gewesen sei.
So entstand der Flight Club. Und der Flight Club wächst. Heiner und ich, wir können schon längst nicht mehr überblicken, wo es überall Flight Clubs gibt.
Die Anfänger üben an Radfahrern oder Fußgängern. Die ganz
harten, die sich selbst auf unserer Landstraße noch langweilen, fliegen ihre Flights an den Autobahnen. Obwohl es gegen die Regeln ist, erzählt es jeder weiter. Wer in den Süden
fliegt, der zeigt es dort unten den anderen. Ich habe von
Straußen, Emus gehört, die es schaffen, vor Kleinwagen her
zu rennen. Einer von denen im Autobahn-Flight-Club hat mir
von Pinguinen erzählt, die es bei Hundeschlitten tun.
Es soll Enten geben, die dem Jäger absichtlich vor die Flinte
fliegen, um zu sehen, ob sie ausweichen können. Hühner,
die absichtlich ein Loch in den Maschendraht hacken, damit
der Fuchs ins Gehege kann und sie vor ihm fliehen müssen.
Wir hier, an unserer kleinen Landstraße, an der alles angefangen hat, wir wandeln es inzwischen ab. Wir setzen uns
manchmal zu dritt oder so auf die Straße und wer dann als
letzter vor einem anbrausenden Auto wegfliegt, der wird bejubelt. Die anderen werden ausgelacht.
Es geht nicht darum, die Autofahrer zu ärgern. Es geht nicht
darum, den Verkehr lahmzulegen. Es geht darum, etwas
Aufregendes zu erleben, nachdem wir aus unseren schicken
Vogelhäusern gekommen sind, ein Bad in der schicken Vogeltränke genommen haben und satt sind vom Körnerring.
Weil uns langweilig ist, deswegen machen wir den Flight
Club.
Und heute, an diesem Samstag, an dem die Straße wie die
verdauende Schlange da liegt, sind wir über hundert. Es ist
ohrenbetäubend. Heiner will bald eine Grenze einführen. Die
Quelle:
Johannes Lange, Wettrüsten mit Eierflip –
Erzählungen, Edition Muschelkalk Bd. 33,
Weimar, 2010.
Mit freundlicher Genehmigung des
Wartburg Verlags, Weimar.
ersten fünfzig dürfen bleiben, die anderen müssen einen
neuen Flight Club aufmachen.
Viele der Anwesenden habe ich noch nie gesehen. Grünschnäbel vom Radweg. Ich sehe in die neuen Gesichter und
sehe Angst und Zweifel. Das erste Auto heute. Sie alle reden
wild durcheinander.
Und plötzlich ein Dröhnen. Die Äste zittern. Es brummt in
unserer Brust und schiebt sich langsam in den Kopf.
Ein Motorrad!
Jeder ruft es zugleich.
Ein Freiwilliger ist schnell gefunden, einer von den neuen.
Er zittert und die Furcht gräbt eine schauerliche Grimasse in
sein Gesicht. Aber ich stoße ihn und er fliegt los. Kreuzt die
Straße knapp vor dem Kopf des Fahrers. Traut sich nicht, vor
ihm her zu fliegen. Fliegt nur zwanzig Zentimeter vor dem
schwarzen Helm vorbei. Kackt vor Schreck.
Wir lachen ihn tüchtig aus, zumal die Scheiße dem Fahrer
gegen das Visier geklatscht ist und sich im Fahrtwind zerteilt. Wir sehen auf den neuen, der am Straßenrand hockt
und schwer atmet. Wir lachen und jubeln. Für einen ersten
Flight war das recht gut. Einige fliegen zu ihm und schlagen
ihm kumpelhaft auf die Schulter. Andere unterhalten sich
aufgekratzt über den Flight eben.
Heiner und ich stehen etwas abseits und sondieren die Neuen. Beobachten abgebrüht die Straße. Warten auf einen Van.
Oder einen LKW.
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unscheinbar
Gedankenverloren starre ich auf das schmutzverkrustete
Ding da in meinen Händen. Nehme nur unbewußt das unablässige Tropfen des Wasserhahns neben mir wahr, ebenso
wie das grelle gelbe Licht, daß es mir fast unmöglich macht,
irgendwelche Einzelheiten erkennen zu können. Tanzende
Schattenflecken tummeln sich unter mir auf dem Boden – ich
werfe einen Blick nach schräg-links zur Lichtquelle – es sind
lediglich die schwarzen Motten, die um diese Zeit immer um
das verstaubte Lampenglas herumschwirren.
Mit Fingerkuppen, die immer noch klamm und taub sind von
der Kälte draußen, befreie ich die Glocke in meiner linken
Hand von nasser Erde, Lehm und wenigen zerfetzten Herbstblätterresten. Dunkler, schwerer Rost splittert vom leicht
rauen Blech ab; bei näherer Betrachtung kann man noch
letzte Spuren einer bläulich-grauen Färbung erkennen. Ich
versuche, sie anzuschlagen, finde aber keinen Klöppel, er
muß wohl schon vor einigen Monaten verlorengegangen
sein. Genaugenommen ist es gar keine wirkliche Glocke, es
ist ein klägliches, jämmerliches Ding, das, fast vergraben
unter bräunlichem Lehm und den Überbleibseln eines nassen
Herbstes, einfach am Straßenrand gelegen hatte. An einer
Nebenstraße, vermutlich achtlos fallengelassen. Vielleicht
habe ich sie deswegen aufgehoben. Weil sie so offensichtlich
nur ein einfaches, bloßes, unvollkommenes Ding ist, ein verkommenes Subjekt, das von ebenso vielen Leuten ignoriert
wie mißbilligt wird. Vielleicht aber tat sie mir nur einfach
leid, wie sie da so allein und verlassen und einsam im Dreck
auf dem schlammigen Gehweg lag.
Mit zittrigen Händen schiebe ich
die Glocke in meine rechte Jackentasche; dort bekommt sie
wenigstens Gesellschaft von der
Schale einer halben Haselnuß
und einer eingetrockneten Hagebuttenfrucht, die Überreste eines
Weidenkätzchens habe ich leider
im vergangenen Sommer verloren.
Unsicheren Schrittes erhebe ich
mich und verlasse, halb wankend,
halb gehend, die öffentliche Toilette einer Raststätte; eine schwere,
tropfende Straße erwartet mich,
deren asphaltierten Boden ich zuvor schon entlanggewandert war.
Vielleicht, so überlege ich, während mich hin und wieder das Autolicht eines vorbeifahrenden Fahrzeuges im Rücken streift, vielleicht
wollen diese Dinge, die ich einsammele, gar nicht gefunden werden.
Wollen vielleicht mißachtet und ignoriert werden, dort im Schlamm,
im Regen. Dann denke ich an mich
selbst, während ich schaudernd ob
der Kälte die Kapuze meiner Jacke
etwas höher ziehe. Will ich denn ge
Text von Beatrice Frank
Bilder von Julia Roth
funden werden? Ich gehe weiter, setze stur Fuß vor Fuß, bis
mein Körper sich an den monotonen Laufrhythmus gewöhnt
hat und automatisch funktioniert. Um längere Strecken zu
bewältigen, und im Prinzip geht es um nichts anderes hier:
um Strecken und Etappen und Abschnitte, ist ein solcher Mechanismus unerläßlich. Damit komme ich klar; es ist leicht,
einen äußerlichen Schein von Stereotypie und Gelassenheit
vorzutäuschen, oder doch zumindest physisch umzusetzen,
meine Gedanken kann ich leider nicht abstellen, so sehr ich
es auch versuchen mag.
Ich weiß nicht, was Vorbeiziehende – und alle sind Vorbeiziehende in meinen Augen – wohl sehen, wenn sie mich anblicken: die Sachen, die schon zu oft getragen wurden, um
jemals sauber zu erscheinen, die stoische, desinteressierte
Miene, die zu wenige Male durch ein Lächeln erhellt wurde,
die dunklen, leeren Augen, die zu viel erblickt haben, um
ausdrucksstark zu erscheinen. Ich lese Mißtrauen in ihren
Augen, Argwohn, Mitleid, viel zu selten aufrichtige Anteilnahme, doch meistens übergehe ich Blicke jeglicher Art, ziehe vielleicht die Kapuze hoch und wende mich ab; nein, ich
glaube nicht, daß ich gefunden werden will.
Umgeben von Kälte, Nacht und dem beginnenden Winter frage ich mich, wie mein Leben aussähe, würde ich den Blick
eines Passanten erwidert haben; mit meiner kaum benutzten kratzigen Stimme alle Barrieren hinter mir lassend, die
ich mir mühsam aufgebaut habe. Vermutlich nicht anders als
sonst auch. Würde ich aufhören, nachts mit klammen Fingern eisige Erde oder Schnee von Dingen abzukratzen, die
sonst niemand braucht, bis meine zerkratzten Hände so
taub sind, daß ich die klirrende Kälte nicht mehr verspüre?
Würde ich nicht mehr in verwahrlosten Raststätten nach jeder Lichtquelle sehen, um nach Motten zu suchen, die den
Winter überlebt haben könnten? Die düstere Straße unter
mir will mir keine Antwort geben, ebensowenig, wie es eine
gefundene Glocke, eine Nußschale oder eine Hagebutte jemals könnten; doch vielleicht muß ich es nicht laut hören,
um die Antwort zu wissen. Das durchdringende Geräusch einer Autohupe erklingt hinter mir, ich bin wohl unbewußt zu
weit nach links abgeschweift. Trottenden Schrittes begebe
ich mich wieder zu meinen Platz am Straßenrand, mehr ist
es doch gar nicht, was ich will. Das und vielleicht ab und an
eines der kleinen, unvollkommenen Dinge, die ich aufheben
und sicher in meiner Tasche verstauen kann.
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Text von Michael Friedrich
Bilder von Christina Peter
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sand
sagen will ich
und wenn der regen dann
auf unsere burg sprang
wie waren wir traurig und
schlecht zu sprechen auf die
wolken und vielleicht
ganz kurz verstimmt
und dann hat irgendwer plötzlich die uhren gefüttert
mit unserer welt
mit unseren burgen
der klang der fanfaren und die fahnen als sie losziehn
aus meiner welt
aus meinen burgen
und erst diese wolken
darin waren wir geschickt
darin: einreden von ausreden
bis zur perfektion vor allem sätze
wie: das können wir auch später noch
oder: selbst die raben auf dem heimflug
oder: morgen werden wir jünger sein
im großen: hätten wir doch nicht
leuchten die buchstaben heller
sagen will ich: wir haben.
und dann: vorhang.
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ein
waidgerechter
tod
Text von Georg Maltzen
Bilder von Janette Schäpe
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Seit ich denken konnte, war immer Lärm da. Immer ein
vorbeifahrendes Auto, pöbelnde Leute, schreiende Kinder,
Sirenen. Aber der Lärm war es nicht, den ich vermißte.
Zuerst war ich sehr unglücklich über die Entscheidung meiner Eltern, von Berlin in den Thüringer Wald zu ziehen, aber
als Kind ist man in der Verteidigung begrenzt. Die Luft stank
modrig. Kein Mensch mehr weit und breit, nur unser einsam
stehendes Haus. Wenn man alles Aufregende und Interessante raus nimmt, bleibt eben nur noch eine schöne Landschaft.
Ich wäre wahrscheinlich Amok gelaufen, wäre mir nicht Herr
Fuchs über den Weg gelaufen.
Ich lernte ihn kennen, als ich wieder einmal Gott spielte.
An jenem Tag wog ich mich in scheinbarer Abgeschiedenheit und hockte über einem Ameisenhaufen, um ErkunderAmeisen mit einem Lolli vom Hain weg zu locken und mit
einem von meinem Vater gestohlenen Feuerzeug einzeln zu
verbrennen. Mein glucksendes Lachen muß mich verraten
haben, denn plötzlich stand er hinter mir – Herr Fuchs. Ohne
ein Wort nahm er das Feuerzeug aus meiner Hand, ohrfeigte mich, steckte das Feuerzeug ein, würdigte mich keines
weiteren Blickes, spuckte seinen Kautabak an den Wegrand,
machte kehrt und verschwand, so rasch, wie er erschienen
war. Ich schlich ihm nach, weil ich mein Feuerzeug wiederhaben wollte, versteckte mich dabei hinter Bäumen und versuchte möglichst leise, seinem Weg in den Wald zu folgen.
Ich konnte nicht herausfinden, was alles in seinem dichten,
grauen Bart geschah. Die Feder an seinem Jagdhut wippte im Tempo seines Ganges. Er trug eine beige Cordhose zu
einem olivgrünen Cordparka und unverständlicherweise ein
auffälliges, rotes Tuch um seinen Hals. In meine Beobachtung vertieft, bemerkte ich nicht, wie ich ein paar Vögel aufschreckte, blitzartig war er in Alarmbereitschaft und sagte:
„Zeig Dich!“
Mir blieb nichts anderes übrig, als aus meinem Versteck hervorzukommen. „Geben Sie mir mein Feuerzeug wieder.“
Er verzog verächtlich die Mundwinkel. „Nein.“
In der Stadt hatte ich es schon mit viel beängstigende-
ren Leuten zu tun, doch obwohl er ein Gewehr hatte, fuhr
ich, meinem natürlichen Ungehorsam folgend, fort, ihn zu
löchern.
„Warum tragen Sie überhaupt ein rotes Tuch, kann man damit überhaupt unerkannt jagen?“
Im Umdrehen und Weggehen erwiderte er:
„Wegen der Chancengleichheit.“
Ich ließ mich nicht abschütteln.
„Sind Sie Jäger?“
Er tat so, als hätte er mich nicht gehört, machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. „Haben Sie heute schon etwas
gefangen? Wie lange leben Sie schon hier draußen? Darf ich
mit Ihrem Gewehr schießen? Nehmen Sie mich mit?“ Er wurde langsam gereizt, hielt inne, um mich zurechtzuweisen.
„Warum sollte ich?“
„Immerhin konnte ich Ihnen ein gutes Stück nachgehen,
ohne daß es Ihnen aufgefallen ist.“ Kurz überlegte er und
schob seinen Kautabak von der rechten in die linke Seite
seines Mundes. „Sei morgen wieder an der Lichtung, um
sechs Uhr morgens.“
Von da an nahm mich Herr Fuchs mit auf seine Jagdtouren.
Entgegen der üblichen Jagdpraxis jagte er nur allein. Er folgte auch keinen festen Routen, vielmehr folgte er bestimmten
Tieren, nicht immer, um sie zu erlegen, sondern häufig nur,
um sie zu studieren, sie kennenzulernen, wie er es nannte. Sein Wissen über den Wald schien, wie der Wald selbst,
in jede Richtung endlos. Der Wuchs einer bestimmten Sorte
Pflanze gab ihm Hinweise, aufgeplatztes Holz legte für ihn
verborgene Kenntnisse frei.
Einmal graste ein Reh, das Herr Fuchs schon ausgiebig beobachtet hatte, in unmittelbarer Nähe von uns. Er beschloß, es
zu töten, und blickte sehr ernst in meine Richtung, um mich
zu warnen und mir mitzuteilen, was bevorstünde. Lautlos
legte er sein Gewehr an, entsicherte und schoß dem Tier in
den Hals. In diesem Moment blieb dem Wald schlagartig für
einige Sekunden jedes Geräusch fern, wie bei einem Schock.
Wir traten an das Tier heran, es keuchte durch den aufgeplatzten Hals, die Augen verdrehten sich und die Hinterbeine
strampelten ins Leere flüchtend auf der Suche nach einem
festen Untergrund. Herr Fuchs sah mich an und erklärte mir,
während er sein Gewehr mit einer neuen Patrone füllte, daß
eine Jagd dann waidgerecht sei, wenn das Wild am wenigsten leide. Ein weiterer Schuß tötete das Reh. In der darauf
folgenden Nacht träumte ich, ich sei ein Sperling, der wild
umherirrte, auf der Suche nach Futter, dann einen Wurm
fing, der jedoch aus dem Schnabel rutschte und von einer
Ammer aufgelesen wurde. Wie ich hinterher flog, es aber
nicht schaffte, die Ammer einzuholen, wie mein Herz raste.
Und ich rastlos Ausschau nach Feinden, nach Beute hielt.
Beim nächsten Treck im Gehölz erzählte ich Herrn Fuchs von
diesem Traum, worauf er trocken erwiderte: „Ein Teil von dir
weiß also noch, wie es war.“
Herr Fuchs wollte, daß ich lernte, mit dem Gewehr umzugehen, falls eine Situation von mir verlangte, uns zu retten. Meine Eltern haßten ihn. Besonders mein Vater. Wilde
Gerüchte schwirrten um Herrn Fuchs und mein Vater wurde
nicht müde, das zu wiederholen, was die Einheimischen von
dem Waldläufer dachten. Er würde im Wald leben, gar kein
Zuhause haben, seine Jagdlizenz nicht verlängern, obwohl
sie abgelaufen sei, wildern und das Ökosystem gefährden.
In meinen Augen war er der Wald. Doch er hielt nicht viel
von meiner Meinung, schließlich waren wir seiner Ansicht
nach die Fremden in der Natur. Gegen den Willen meines
Vaters setzte ich die Ausflüge fort, sammelte Pilze, lernte
Vogelgesänge auswendig und mich des Nachts im Wald zu
orientieren.
Bei einer Gelegenheit erspähten wir ein Wildschwein. Es war
sehr alt, und wäre es nicht anders gekommen, hätte sich der
Wald selbst in Kürze von ihm entledigt, doch Herr Fuchs beschloß ein anderes Ende. Er gab mir das Gewehr und erinnerte mich an die Übungen, die wir gemacht hatten. So und
nicht anders. Ich zitterte. Geräuschlos zog er seinen Cordparka aus und legte ihn mir über die Schultern. Ich legte
an und zielte auf den Kopf des Keilers. Zögerlich fragte ich:
„Und was ist, wenn es so denkt wie ich?“
„Diesen Fehler haben die Tiere nie gemacht.“
Wir banden die Hufe des Wildes zusammen und schleiften
es zu mir nach Hause, während mein Lehrmeister mir davon erzählte, wie er als junger Mann sein erstes Reh durch
Ausdauerjagd erlegte – dem Tier so lange hinterherlaufen,
bis es nicht mehr konnte und zusammenbrach. Seiner Meinung nach sei das die Grundform allen Jagens. Ein gerechter
Kampf. Er empfände das Gewehr als eine Abkehr von dieser
alten Form und trüge das rote Tuch, seit er die neue Technik
benutze, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich war
trotzdem stolz über die Jagd und meinen Erfolg. Als meine
Mutter das Tier am Rand unseres Waldstücks zusammen mit
Herrn Fuchs und mir entdeckte, schrie sie hysterisch und
rief meinen Vater. Mir wurde verboten, weiterhin mit Herrn
Fuchs auf Jagd zu gehen und ein Gewehr zu tragen. Dieser
akzeptierte das Urteil meiner Eltern zwar, spuckte aber beim
Weggehen verächtlich seinen Tabak an den Rand unseres
Grundstücks.
Kaum, daß eine Woche vergangen war, mußten wir auch
schon wieder weiter in die nächste Stadt ziehen. Ich fragte
nicht einmal mehr, in welche, da ich es unlängst schon als
einen unvermeidlichen Bestandteil meines Daseins akzeptiert hatte.
Ich habe Herrn Fuchs nie wieder gesehen. Im vergangenen
Winter ist er gestorben. Ich trauere um ihn, wie um einen
Vater oder so etwas Ähnliches. Entenjungen folgen instinktiv eher einem grellbunten Stock mit der richtigen Form, als
ihren eigenen Artgenossen. Und vielleicht folgte ich einfach
auch nur einem derartigen Wunsch.
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heute lernen wir,
tschüß zu sagen
Text von Stefan Petermann
Bilder von Elke Schmidt
nimmt sie einem Jungen das Stöckchen aus der Hand, mit
dem er die Katze angiggelt. „Die Miez soll springen“, sagt er
und bricht in Tränen aus, weil er kein Stöckchen mehr hat.
Heute ist die Katze gestorben. Vom Baum ist sie gefallen.
Eigentlich können Katzen das ja gut. Auf Bäume klettern.
Und fallen. Aber von wegen sieben Leben und immer auf
den Pfoten landen. Diesmal nicht. Vielleicht hat ein Vogel
sie aufgeschreckt. Oder ein Kind hat von unten geschrien.
Jetzt stehen die Kinder um die tote Katze herum. Sie sagen: „Liebe Miez“, und: „Steh auf Miez“, und: „Was ist denn
mit der Miez?“ Eines der Mädchen drängt die anderen Kinder energisch zurück und sagt, daß die Miez schlafen will
und alle Kinder ruhig sein sollen. Sie legt die Finger an die
Lippen und pssst die anderen Kinder an. Iffi muß währenddessen einen Streit am Sandkasten schlichten. Ein Mädchen
hat einen Jungen an den Haaren gezogen und der Junge hat
daraufhin einen Eimer Sand über sie gekippt. Beide weinen,
und weil sie weinen, weinen andere Kinder mit. Wer nicht
am Sandkasten ist und weint, ist bei der Katze und schaut.
Bis Iffi das mitbekommt, vergehen einige Minuten. Schnell
Iffi bringt die Kinder ins Haus und erklärt ihnen, was mit
der Katze passiert ist. „Die ist jetzt im Katzenhimmel“, sagt
Iffi und die Kinder schauen durch das Fenster hinaus in den
Himmel und fragen, warum die Katze jetzt fliegen kann, und
sagen, daß sie auch fliegen möchten und dort sein wollen,
wo die Katze ist. Iffi erklärt, daß die Katze fest schläft und
niemand sie jemals wieder aufwecken kann. „Aber morgen
doch“, fragt das Mädchen mit dem Sand in den Haaren, weil
es sich niemals nicht vorstellen kann. Später gibt es Essen
und danach wird geschlafen. Doch kein Kind schläft, alle
flüstern über die Katze, und die, die nicht flüstern, haben
Angst, so fest wie die Katze einzuschlafen. Also zeichnet Iffi
am Nachmittag an die Tafel. Sie malt eine Frau mit kurzen,
schwarzen Haaren. Das ist sie selbst und die Kinder erkennen
Iffi sofort. „Und wo sind wir?“, fragen sie und Iffi zeichnet
die Kinder auf die Tafel. Sie fassen sich alle an den Händen
und laufen durch eine Wiese. „Was für eine Wiese?“ fragen
die Kinder und Iffi malt Blumen in die Wiese und die Kinder fragen: „Was sind das für Blumen?“ und Iffi malt gelbe
Kringel um die Blüten, und die Kinder fragen: „Warum Sonnenblumen?“ und Iffi meint, daß die Katze Sonnenblumen
mochte. Sie zeichnet Denkblasen, für jeden Kopf eine, auch
ihren. In jede Denkblase malt sie eine Katze hinein, genauso gescheckt, wie die Katze es war. Und über das Bild mit
Iffi und den Kindern in der Sonnenblumenwiese, die alle an
die Katze denken, schreibt Iffi: „Heute lernen wir, Tschüß zu
sagen.“
Am nächsten Tag stirbt Iffi. Sie steht mit dem Fahrrad auf
der Linksabbiegerspur auf der Kreuzung. Es ist früh am
Morgen. Vom Berg her kommt ein Lkw. Eigentlich sollte er an
der Ampel stoppen, doch weil die Bremsen nicht funktionieren, rollt er weiter und wird immer schneller. Rechts von Iffi
und hinter ihr warten Autos. Sie kann nur nach vorn ausweichen, aber da rast der Lkw auf sie zu. Überhaupt glaube ich,
daß viel zu wenig Zeit ist zwischen Gerade geschieht etwas
Furchtbares und Was mach’ ich jetzt? Für Was mach’ ich jetzt?
ist fast nie Zeit. Leon, der hinter dem Fahrrad im Anhänger
sitzt, ist nicht sofort tot. Sondern erst im Krankenhaus.
Ich weiß, was Sie jetzt denken, ich denke es ja auch. So muß
man vermutlich denken. Ich wüßte auch keine anderen Gedanken.
Theo sagt: „Das ist doch alles instant, alles aus zweiter Hand,
schon gefiltert und abstrahiert. Das hat doch nichts mit dem
zu tun, wie es mir wirklich geht.“
Da hat Theo recht. Immer geht was verloren von drinnen
nach draußen, und in unserem Fall mindestens dreimal so
viel. Wie sollte das auch anders sein? Wenn man dafür genau
die richtigen Worte finden könnte, die Worte, die alles auf
den Punkt bringen und genau das ausdrücken, was in einem
vorgeht, wäre das nicht grausam für alle, die nicht so fühlen?
Denn wenn sie diese Worte hören, dann wäre es ja unmöglich, sich nicht so zu fühlen. Oder in meinem Fall: Nichts
mehr zu fühlen.
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Wenn Theo was sagt, hören wir zu. Theo ist schon immer in
der Gruppe, es gibt niemanden, der die Gruppe ohne Theo
kennt. Deshalb hat sein Wort Gewicht. Auch wenn es manchmal keinen Sinn ergibt. Aber man muß nur ein paar Tage
warten, ganz geduldig, bis sich alles fügt. So wie man ewig
auf ein 3D-Bild schaut und wenn man glaubt, man wird nie
etwas erkennen, springt plötzlich ein Delphin auf einen zu,
ein Delphin oder ein Eisbär oder das Wahrzeichen einer großen Stadt.
Das war nicht immer so. Am Anfang wußte ich nicht, wie
ich mit Theo umgehen sollte. Hat geschimpft und alle runtergezogen und beim Büfett trotzdem nach den dicksten
Häppchen gegriffen. Fast wäre ich wegen ihm nicht weiter
zur Gruppe gekommen. Theo ist nicht gerade das, was man
ein leuchtendes Vorbild nennt. Dabei braucht man das dringend. Und es muß weder leuchten noch Vorbild sein. Aber
man braucht irgendetwas. Sonst dreht man frei. Man wird
ja sowieso schon fertiggemacht. Von den Umständen und
den Nächten sowieso. Mit Schlafen ist das erstmal vorbei.
Da bleiben nur Tabletten. Alle hier nehmen Tabletten, das
ist was, die hat ein Arzt verschrieben, weil jemand die hergestellt hat, und beim Herstellen muß sich jemand etwas
gedacht haben. Beim Herstellen der Tabletten geht es um
Hilfe, chemische Hilfe, wir nehmen alles, was wir kriegen
können, und weil das nicht viel ist, sind Tabletten schon mal
ein guter Anfang.
Ich glaube, daß ich mit meinem Glück das Glück von anderen
stehle. Was ich zuviel habe, muß ja von jemandem kommen.
Ich habe keinen Pakt geschlossen, würde jedoch gern die
Hälfte von meinem Glück hergeben, wenn jemand dadurch
die Hälfte von seinem Pech abgeben könnte. Das sagt sich
hinterher natürlich leicht. Überhaupt ist alles leicht, was ich
sage, es hat kein Gewicht außerhalb der Gruppe, außerhalb
der Gruppe ist alles, was ich sagen könnte, unangebracht,
deshalb habe ich mich entschieden, daß es nichts geben
darf, über das ich reden müßte. Ansonsten müßte ich explodieren. Nicht einmal Theo weiß davon. Glücklicherweise. Er
würde sonst richtig grantig werden. Er würde von den Phasen
reden, durch die jeder muß, und er würde mir vorwerfen,
ich würde noch in der ersten feststekken, der verdammten
ersten Phase, wie Theo sie nennt. Das muß nichts heißen,
er nennt auch die anderen Phasen verdammt. Aber er ahnt
ja nichts, er denkt, ich bin schon zwei Phasen weiter und
deshalb werde ich zuvorkommender behandelt. Innerhalb
der Gruppe.
Iffis Schwester hat mir die Geschichte von der Katze erzählt.
Die Schwester war die einzige, die mit mir gesprochen hat.
Nicht sofort, allerdings auf dem Flur des Gerichts. Da war ich
schon ein freier Mann, auch wenn niemand verstehen konnte, aus welchem Grund. Niemand hat mich angeschrien und
niemand hat die Fäuste geballt, niemand ist aufgesprungen
und hat mich verflucht. Sie waren nur so still, Iffis Mann und
Iffis Tochter und Iffis Eltern und Iffis Großeltern und Iffis
Tanten und Iffis Freunde und Iffis Arbeitskolleginnen und
Iffis Nachbarn. Die waren nur still, die Zeit über, ihre Blicke
habe ich in meinem Nacken gespürt. Aber das war ja nicht
mal das Schlimmste. Ich hätte mich ja selbst weggeschlossen, dafür hätte man keine Sachverständigen heranziehen
müssen. Die haben mich ja doch nur entlastet. Was kann ich
für die Bremsen? Ich hab sie doch getreten, ich hab doch geschrien: „Aus dem Weg“! Was heute bescheuert klingt, so wie
früher beim Rodeln: „Bahn frei!“ oder „Platz da!“ Was hätte
ich denn noch tun können, außer die Bremsen zu treten, die
nicht bremsen?
Manchmal ist zwischen Gerade geschieht etwas Furchtbares
und Was mach ich jetzt? genügend Zeit, um etwas zu machen. Und versuchen zu lenken und damit genau auf die
Linksabbiegerspur der Kreuzung zu lenken. Doch die Sachverständigen haben mich frei von aller Schuld gesprochen,
sie haben sogar behauptet, ich hätte verantwortungsvoll
gehandelt, weil auf der anderen Seite der Kreuzung eine
Schulklasse auf Grün wartete, und das wäre der direkte Weg
für den Lkw gewesen. Aber ich habe gelenkt und ich habe
verantwortungsvoll gehandelt und bin deshalb frei von jeder
Schuld. Deshalb waren alle so still. Ich weiß nicht, was alle
dachten, an der Stelle von Iffis Schwester hätte ich mich jedoch nicht angesprochen, ich hätte nicht die Geschichte von
der Katze erzählt. Vielleicht ist die Katze nur ausgedacht,
vielleicht wollte mich Iffis Schwester trösten.
„Trost“, sagt Theo, „Trost können wir von niemandem erwarten. Nur von uns selbst.“
Das sagt er den Leuten, die schon in Phase drei sind, also
Leuten wie mir. Und dann erzählt uns Theo seine Geschichte. Sie soll uns Mut machen, sie soll uns anleiten und Beispiel sein, aber ganz ehrlich, sie ist einfach deprimierend,
so wie die Geschichten von allen in der Gruppe deprimierend
sind. Was soll ich daraus lernen? Daß man am Ende zusammensitzt und sich eine furchtbare Sache nach der anderen
anhört, um später am Büfett nach Theo die zweitdicksten
Häppchen abzugreifen? Das kann’s doch nicht sein. Ich habe
Theo erzählt, daß ich vermutlich in Kürze aufs Amt gehe und
mich dort austragen lasse. Keine Kirchensteuer mehr. Nicht
aus finanziellen Gründen, füge ich hinzu für den Fall, daß er
nicht versteht. Doch Theo versteht.
„Laß bloß das aus dem Spiel“, faucht er mich an, und mit das
meint er nicht die finanziellen Gründe.
Wahrscheinlich hat er recht und wahrscheinlich werde ich
mich trotzdem austragen lassen. Das wäre immerhin die
erste aktive Handlung meinerseits. Vielleicht komme ich ja
so in Phase zwei. Die verdammte Phase zwei.
Heute hat sich im Bäckerladen ein kleiner Junge umgedreht
zu mir, gerade als ich gehen wollte. Er hat den Arm gehoben
und leise „Tschüß“ gesagt. Ich kenne ihn nicht und er kennt
mich nicht und trotzdem hat er „Tschüß“ gesagt. Ich bin vor
die Tür getreten, das Brot warm gegen meinen Bauch gedrückt und ich habe geweint, weil jemand „Tschüß“ gesagt
hat, ein kleiner Junge, er konnte in Leons Alter sein. Zuhause habe ich ein Bild gemalt und ich habe etwas über das Bild
geschrieben und bestimmt weiß jeder, was auf dem Bild zu
sehen ist und was in der Denkblase geschrieben steht.
Auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie das gelingen soll.
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spiegelbild
Der Wasserhahn tropft leise, während ich auf den weißen
Küchentisch starre. Tapp, tapp und das leise Klicken der Uhr.
Die Oberfläche des Tisches ist mit rötlichen, schlierenartigen Flecken überzogen, tief in der Holzmaserung eingekrochen, eingebohrt, angerichtet wie ein Gedeck. Durch die Tür
kommt das Hemd getappt, barfuß, ungewaschen. Das Hemd,
weil er nie etwas anderes anzieht. Nur das gelb verwaschene, ausgeleierte Hemd, das in besseren Zeiten einmal weiß
gewesen ist. So wie der Tisch.
Genauso weiß. Ohne Flecken, die
wie Krater aussehen, Krater auf
dem Mond, dunkel, tief, abstoßend.
Seine Stimme reißt mich aus den
Gedanken. Er drückt eine zitternde, verblaßte Hand auf meine,
die sich auf den roten Kratern
zusammengerollt hat, übt kaum
Druck aus, sucht meinen Blick.
Ich stehe langsam auf und entziehe mich seiner hilflos zuckenden Hand, meine Sicht fällt auf
den Wasserhahn, streift die Uhr,
wandert zögernd weiter zu seinem
formlosen Gesicht mit den schwarzen Höhlen und den pochenden
Adern an seinem Hals. Ich lächle
seinen Mund an, weil ich es nicht
wage, höher zu blicken und gehe
an ihm vorbei zur Tür. Ohne mich
umzuschauen, weiß ich, daß er
meinen Rücken anstiert, bis ich
sie hinter mir geschlossen habe.
Ich denke an die roten Krater, die
jetzt nicht mehr über den Tisch verlaufen, sondern über seinen Hals, und bewege mit einem Ruck meine schweren Füße.
Es ist gefährlich, zu weit zu gehen, also tue ich es nicht,
unterdrücke den übermächtigen Drang, einfach loszulaufen,
wegzurennen, nie wieder zurückzukehren, und denke stattdessen daran, daß meine Schuhsohlen ganz abgewetzt sind,
daß meine Finger einen alten löchrigen Stoffbeutel umklammern, daß die Leute mich ansehen, als würden sie mich dulden, nicht akzeptieren.
Ich komme an und bin geblendet von den grellbunten, neonfarbenen Auslagen, die Lagerschränke wachsen ins Uner-
Text von Adina Frank
Bilder von Alexandra Schulz
meßliche, beugen sich vor, stoßen an die Decke, deren Putz
wohl nicht allzu lange mehr hält. Und nein, ein Fehler, die
Decke des Kaufhauses ist klinisch weiß, steril, sicher. Es war
die Decke des Hemdes, an die ich dachte. Ein Stechen hinter
meiner Stirn, ich schließe die Augen. So etwas passiert öfter
hier, kein Grund zur Sorge, kein Grund zum Innehalten. Ein
Schritt nach links und ich bin da. Das Stechen wird stärker,
nimmt meine Sicht, blockiert mein Gehirn, glühendweiße
Blitze in meinem Kopf, breiten sich
aus, meine Hand wird taub, aber
nicht bewegungsunfähig. Ich ergreife wankend mehrere Flaschen,
unwirsch klirren sie aneinander,
das kalte Glas an meiner Haut
spüre ich kaum. Die verschwommene Straße vor dem Kaufhaus
beginnt sich aufzulösen, zu einer
wabernden Masse zu verwirbeln,
zu schemenhaften Formen zu verschmelzen – wie ich nach Hause
gekommen bin, weiß ich nicht
mehr, nur, daß ich gefallen bin,
denn meine Knie schmerzen und
meine Beine fühlen sich schwach
und zittrig an. Aber auch das ist
kein Grund zur Beunruhigung,
auch das bin ich längst gewohnt.
Ich trete ein, und nichts als der
Tisch begrüßt mich, mit seinen
weißen Holzbeinen und dem roten,
zerfurchten Antlitz. Ich verbeuge
mich belustigt – alles scheint so
lustig in diesem Moment –, grüße die zähneklackernde Uhr, den
tropfenden Wasserhahn, suche das Hemd, ohne es zu finden.
Ich weiß, daß er nur im Badezimmer sein kann, daß ich ihn
sehnsüchtig lächelnd vorfinden werde, so hilflos wie einen
alten Greis, an seinem eigenen Erbrochenen fast erstickt. Ich
öffne stockend die Tür und dann sehe ich ihn, in dem gelben,
ausgewaschenen Hemd, mit dem formlosen, aufgedunsenen
Gesicht, den schwarzen Höhlen und den roten Kratern auf
dem ausgezehrten Hals. Er lächelt, als er mich sieht und ich
hebe die Hand mit der Flasche, lächle zurück, lächle seinen
Mund an, nicht sein Gesicht, und proste ihm vergnügt zu.
Zurück im Bad bleibt nur die Reflexion des Spiegels.
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der panda in mir
Am anderen Ende der Leitung hängt Paul, mein Ex-Freund,
und Panda baumelt irgendwo zwischen uns in der Gegend
rum. Wie immer lutscht er an seinem überdimensional großen Lolly, der noch nicht mal ohne Komplikationen in den
Mund eines ausgewachsenen Menschen passen würde, doch
dieses gekringelt-geringelt, penetrant süße und vor allem
kindsgesicht-große Etwas verschwindet wie immer genießerisch-einfach in Pandas riesigem Maul. Seit geraumer Zeit
wohnt mein kopfeigener Bär in einer teletubbie-ähnlichen
Hügellandschaft, die sich irgendwo seicht zwischen meinen
beiden Gehirnhälften ausgebreitet hat. Dort fühlt er sich
sehr wohl. Ich finde, Bären, die unter Artenschutz stehen,
haben nichts in meinen Gedankengängen verloren – aber
Panda sieht das anders. Panda sieht überhaupt so einiges
anders, was auch gar nicht mal schlimm wäre, würde er nicht
mein Denken und damit mein Handeln in einem fort beeinflussen.
Mein Ex-Freund hat sich noch nie an Panda gestört und tut
es auch diesmal nicht. Direkt nach unserer Trennung ist er
nach Berlin gezogen, um mit irgendeiner z-prominenten
Sängerinnen-Schönheit aus Prenzlauerberg zusammenzuziehen, und jetzt säuselt er mir irgendetwas ins Ohr, von wegen
er sei zu Besuch in Leipzig, um seiner neuen Freundin die
Stadt zu zeigen, nur leider habe das gebuchte Hotel die Reservierung verschlampt und nun stünden sie gewissermaßen
auf der Straße.
Ob er und seine Freundin eventuell bei mir pennen könnten, fragt er. „Die, wegen der du mich damals …, also du
weißt schon, die Sängerin???“, frage ich zurück. „Ja, hm
…“, druckst er rum, „ja, genau die.“
Währenddessen tollt Panda auf seiner Wiese rum, und wie er
da so von Hügel zu Hügel hüpft, an seinem Lolly lutscht und
Purzelbäume schlägt, finde ich ihn fast schon ein bißchen
niedlich.
Plötzlich tut sich irgendwo in meinen Gehirnwindungen
ein Wäldchen auf, in das zwei Wege führen, der eine, von
Panda aus gesehen der linke, ist gut ausgebaut, ja, fast dekadent mit Marmorplatten gepflastert und wird von herrschaftlichen Bäumen gesäumt, auf einem Wegweiser, Marke
Ebenholz, steht dick und fett geschrieben: „Glückseligkeit“,
„blühende Gesundheit“ und „ewiges Leben“. Der andere Weg
auf der rechten Seite gleicht eher einem Trampelpfad, einem
sumpfigen Etwas, das wahrscheinlich noch nicht mal im ent-
ferntesten die Bezeichnung Weg verdient hätte, und irgendwo zwischen blattlosem Geäst zu versinken droht. Auf einem halb verrotteten Stück Holz, seines Zeichens wohl auch
ehemaliger Wegweiser, kann man mit viel Mühe und noch
mehr Phantasie die Worte: „Pech“, „Ewige Verdammnis“ und
„Freifahrt Richtung Hölle“ entziffern. Woraufhin mich mein
Ex-Freund räuspernd in die Wirklichkeit zurück holt: „Jana,
bist du noch da? Sag mal schnell, ich ruf von Handy an – ist
teuer“.
„Freifahrt klingt prima“ antwortet Panda an meiner Stelle, schleckt noch mal kurz an seinem Riesen-Lutscher und
WUMMMS, rein in den Wald. Ich wußte gar nicht, daß Panda
lesen kann.
„Jaja, kommt ruhig vorbei, könnt’ einfach in meinem Bett
pennen, kein Problem, ich schlaf dann auf der Luftmatratze“, sage ich zu Paul und frage mich, warum in aller Herrgotts Namen Panda nicht einfach den linken Weg genommen
hat.
Der scheint sich jedoch auf seiner Freifahrt richtig wohl zu
fühlen, während ich mich damit beschäftige, die Luftmatratze aus dem Zwischenboden zu kramen, sie in einem selbstzerstörerischen Akt aufzupusten, der mir den letzten Atem
raubt, um danach noch schnell die Kußfotos von mir und
Paul zu entfernen, die nach wie vor an meiner Wand pinnen,
wobei mir eine Reißzwecke entwischt, die im hohen Bogen
zu Boden saust, nur um sich direkt in meiner Luftmatratze
… Zzzzzzzz- zischsssssssspfffft. Was soll’s. Panda scheint
inzwischen bemerkt zu haben, daß sich seine gewohnte
Teletubbie-Landschaft irgendwie verändert hat, nun ist er
leicht verwirrt, hat sich wohl verlaufen, doch anstatt einfach
umzudrehen, seinen enormen Fußstapfen zu folgen oder
sonst wie einen Rückweg zu suchen, verdreht er die Augen,
schleckt noch mal geräuschvoll an seinem Riesen-Lolly, um
sich schließlich auf den moosigen Boden plumpsen zu lassen und in lautes Schnarchen zu verfallen. Nicht mal die
hundertköpfige Affenherde, die plötzlich und aus unerklärlichen Gründen aus dem Nichts auftaucht und Panda nieder-
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Text von Jana Heinicke
Bilder von Vivian Syffus
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trampelt, kann mein Bärchen wecken. Als wäre das eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, haut die Hundertschaft wie wild
geworden auf ihre Jamben ein – Panda schnarcht weiter und
ich kriege irgendwie Kopfschmerzen und frage mich gerade
noch, was für Tiere wohl manche Politiker im Gehirngang zu
sitzen haben, als das Türklingeln mich einer rhetorischen
Antwort entbindet.
Schnell noch verstaue ich die Fotos in dieser kleinen Kiste
unter meinem Bett und hechte zur Tür. Zeit, um den überdimensional langen Wollpulli auszuziehen, den Paul immer so
furchtbar gefunden hat, bleibt keine.
Aber das spielt jetzt ja schon lange keine Rolle mehr, und wo
kämen wir denn da auch hin, schließlich führe ich seit einem
halben Jahr ein fast selbstbestimmtes Leben. Und Panda
mag den Pulli. Ist ja auch sein Gesicht vorne drauf.
Susann, diese Z-Promi-Tussi, mag den Pulli nicht, „der ist
aber überdimensional lang“, sagt sie, als ich die Tür öffne,
„danke, weiß ich, kommt rein“, antworte ich. Paul fällt mir
um den Hals. „Hey, schön Dich mal wiederzusehen, ist ja
echt schon ’ne Ewigkeit her!“ Nein, keine Ewigkeit, es sind
sogar schon fünf Monate, drei Wochen und vier Tage, denke
ich, aber irgendwie hat mein Ex-Freund immer schon einen
leichten Hang zur Untertreibung gehabt.
Da sich in meinem Kühlschrank nichts Eßbares mehr finden
läßt – seit geraumer Zeit ernähre ich mich nur noch von
Kaffe schwarz und Zigaretten – entscheiden sich die beiden,
direkt ins Bett zu gehen, sie hätten einen langen Tag hinter
sich gehabt, und in Leipzig kann man ja auch ach so viel unternehmen, gerade wenn man noch so frisch verliebt ist, wie
sie es nun mal sind – die beiden teilen sich auch meine Decke
und ich hole mir den muffigen Ost-Schlafsack von Oma aus
der Rumpelkammer.
Als ich zurück in mein Zimmer komme, sehe ich nur noch ein
Knäuel aus Armen und Beinen unter der Bettdecke hervorlugen, das sich, schon im Halbschlaf, irgendwelche Perversitäten in die Ohren säuselt, die anzuhören ich wenig Lust habe,
nur Ohropax habe ich leider auch keine, und so tröste ich
mich damit, daß Pandas regelmäßiges Schnarchen wenigstens die krönenden Details ein wenig übertönt.
Meine luftleere Luftmatratze entpuppt sich zudem als unerwartet unbequem, aber mich zu bewegen oder, gar noch
schlimmer, erneut aufzustehen, um nach Puffmaterial zu suchen, traue ich mich dann doch nicht, will die beiden auch
nicht aufwecken. Und so probiere ich im Laufe der Nacht
zahlreiche Einschlafmethoden aus, die ich vor einiger Zeit
in irgendeinem Kurs für Einschlafgestörte gelernt habe und
die sich allesamt als so nützlich und praktisch erweisen wie
Schlittschuhe im Hochsommer oder die schallisolierte Wand
zwischen meiner Wohnung und der meiner Nachbarin, die
jeden Abend so laut fernsieht, daß einem die Ohren wackeln,
oder mein Partnervertrag fürs Handy, den ich nun alleine
zahle, denn einen Partner habe ich ja nicht mehr, eben genauso nützlich wie … ein Panda im Kopf. Und auf einmal
werde ich wütend. Und ich verwünsche diesen zuckersüßen,
aber völlig deplazierten Bären hinter meiner Stirn, denke
darüber nach, ihm eine Horde fleischfressender Elefanten
auf den schwarz-weißen Pelz zu jagen, die ihn dann fürstlich verspeisen soll und seinen verdammten Lolly gleich mit.
Quasi zum Nachtisch, den Lolly.
Und so liege ich die ganze Nacht verbissen auf einer dünnen
Schicht Gummi und denke mir aus, wie ich noch einen kompletten Zoo durch mein Gehirn spazieren lassen könnte, so
lange, bis sich da, wo mal maigrüne Teletubbie-Landschaft
gewesen wäre, nur noch kahle Wüste auftäte und Panda endlich das Weite suchte.
In der Zwischenzeit ist vor meinem Fenster bereits die Sonne
aufgegangen, und während mein Gastpärchen in heiligenscheinigem Licht friedlich vor sich hin schlummert, vertage
ich meine Bärenmord-Pläne doch noch mal, um aufzustehen,
dem neuen Tag entgegenzulächeln und frische Brötchen zu
holen. Denn die beiden haben bestimmt ziemlichen Hunger
und auch noch einen weiten Heimweg vor sich.
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windmann geht
die stürme küssen
ich frag’ nicht mehr, wo kam er her, wo
ging er hin, und fragt mich heut’ irgendwer, was ich für’n vogel bin.
die luft ist raus, sagt windmann,
und dann steigt er in den wagen und
schrammt knapp an den bäumen vorbei, es gelingt ihm wie einem überflieger, wie einem, der die jahre im griff
hat, der jede kurve meistert und dafür
auch noch preise bekommt. windmann
nimmt die überholspur, aber er liegt
nachts sechs stunden wach und starrt
die decke an, weil er an eine frau denken muß, die er nie mehr wiedersehen
wird. windmann fährt ans meer und ich
fahre mit ihm, windmann baut sich ein
zelt am strand und danach wischt er
sich den schweiß von der stirn, windmann, den man aushalten muß auf seiner kleinen weltflucht.
im sommer fliegen die schwalben fort,
er lallt es und lacht wie ein bösewicht
in einem alten western. er ist kurz angekommen bei sich. zwei halbstarke
stehen sich gegenüber und der eine
von beiden zieht den colt. windmann
fehlt nur ein hut irgendwie. ich kann
ihn mir mit rabenschwarzem haar vorstellen und auch mit tiefrotem schottischen bart. du sollst nicht meinen
namen nennen, er schaut herüber, daß
ich es ihn fast sagen höre. windmann
läuft mit gebohnertem kopf unter seinem himmel, seine augen sind von
altrosa unterlaufen, aber sie bröckeln
zwischen den engen lidern. überhaupt
hat sein gesamtes gesicht etwas von
einer verlassenen landschaft im osten
europas: es weist grobe unebenheiten
auf wie ein heimatloses feld, in das der
frost einzog. mund und stirn sind unbeweglich, als wäre sein besitzer vor
langer zeit ausgewandert. ich kann die
Text von Kai Mertig
Bilder von Maria Zimmermann
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karpaten erkennen und auch den böhmischen wald. direkt
darunter am kinn kerbt sich eine breite narbe. don quijote
denke ich, nicht der osten. sie ist so lebensnah und ausgewachsen, daß ich erschrecke. sie paßt gar nicht hierher, sie
leuchtet wie eine ampel in der haut, als müsse man vor ihr
stehen bleiben, mitten im nichts.
in wahrheit sitzen wir jetzt irgendwo in italien. es ist schrecklich heiß hier und über uns ist himmel, sehr seltsamer blauer
himmel, und sehr viel davon. wir essen pizza in einer kleinen hütte am strand und der wind ist so nah, daß uns alles
abhanden geht. wenn morgen das finanzsystem zusammenbricht, dann laufe ich von bar zu bar und baue kartenhäuser,
bis die krise vorbei ist. ich weiß nicht, was er mir sagen will.
cowboysprache. er als einer, der alles in den sand gesetzt
hat und mit nassen taschen aufs meer blickt, reißt wieder
einen schlechten witz. windmann dieser komische kauz, der
jedesmal zaubern kann, wenn es sein muß, und der immer
ein bißchen blau ist, wenn er an den falschen stellen lacht.
frag nicht, woher er kommt. da ist windmann und dort, und
immer macht er ein kleines kunststück. mit einem male sitzt
er neben dir und du weißt nicht wie.
ich mache jetzt ein foto von ihm. mit der einen hand zückt
er sein telefon, als wolle er einen zaubertrick aufführen, mit
der anderen schiebt er sich ein stück pizza in den mund und
schmatzt. er versucht, die frau anzurufen, an die er immer
denken muß, sie sei schön, hatte er mir auf der fahrt erzählt, so blonde haare und geile beine und dazwischen gar
nicht schlecht, mit der könne man was anfangen. der cowboy braucht eine frau. ich trinke einen schluck. ich trinke
fanta, weil windmann beck’s trinkt und zwei pupillen in den
augen hat, die klein und gefährlich aussehen. er wartet, daß
am anderen ende jemand den hörer abnimmt, wartet auf die
geilen beine und die blonden haare und auf den mund, der
so schön italienisch sprechen kann. es klingelt, aber am anderen ende nimmt keiner ab. du sollst nicht meinen namen
nennen. windmann weiß nicht, wie ihm geschieht, er wird
rot, zittert am kinn und weint, springt auf und läßt mich
sitzen an einem ort, den wir beide nicht kennen.
dann, daß sich eine frau einfach auf seine schulter setzt.
und wenn es schief geht, dann schießt er sie eben auf den
mond. die rakete ist abgeschossen. die augen sind klein.
paradiesvögel fängt man nicht ein, windmann, sowas sieht
dir ähnlich. ich wünsche dir ein haus und eine hochzeit
und auf der feier danach den härtesten schnaps, den du
auftreiben kannst. jedenfalls kein campingzelt, keine leeren
blicke aufs meer, keine fanta aus der dose, und erst recht
keinen schlechten colt.
ich gehe zum zelt und warte auf ihn, aber keiner kommt,
don quijote greift gerade die windmühlen an. don quijote
hat viele geschichten: er liegt nachts im bett und starrt die
decke an, fliegt mit einem auto über die alpen und hofft
windmann, mir wird jedesmal schlecht von deinen abenteuern und ich will im süden keine pizza mehr essen. ich will
zuhause sitzen in unserem garten und limonade trinken, die
kalt ist. wenn du zurückkommst, fahren wir heim.
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danksagung
Texte mit freundlichen Genehmigung der Autoren
Dank an Alexander Platz und die „Heft“-Redaktion Erfurt
und an die Unversität Erfurt
Gestaltung: Lilly Tomec, Berlin
Druck:
Illustrationen © 2011
Universität Erfurt
Dekanat Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Fachgebiet Kunst
Dank an
das „heft“ Erfurt