Universität Erfurt Projektwoche Illustration illustrare Projektwoche Illustration Universität Erfurt Erziehungswissenschaftliche Fakultät Fachgebiet Kunst 4 Inhalt 6 Einleitung mit den Vorworten von Prof. Dagmar Demming und Dorothee Mahnkopf 5 40 welten Text von Ronny Ritze, Bilder von Marlen Mahrle 42 ..., als die milch Text von Kathrin Franke, Bilder von Anke Manske 8 blind date Text von Marcus Quent, Bilder von Katsiaryna Chasnakova 9 weit weg Text von Benjamin Damm, Bilder von Katsiaryna Chasnakova 10 die fremde frau Text von Christiane Berndt, Bilder von Theresia Dedek 12 ein sehr, sehr schönes mädchen Text von Dato Turashvili, Bilder von Johannes Gräbner 16 zeit für liebestöter Text von Helga Breitenschädel, Bilder von Katja Hoffmann 20 der geburtstag Text von Andreas Gelbhaar, Bilder von Stephan Kühne 24 agro-öko-consulting Text von Franziska Wilhelm, Bilder von Mareike Lerche 28 überlandleitung / verabredet / greizer park Text von Peter Neumann, Bilder von Carsten Linke 31 zum lufttanz versammelte Text von Katrin Marie Merten, Bilder von Andrea Kaufmann 46 der taxifahrer-meinhof-komplex Text von Konstantin Winter, Bilder von Caroline Marquardt 50 flight club Text von Johannes Lange, Bilder von Christin Müller 54 unscheinbar Text von Beatrice Frank, Bilder von Julia Roth 56 sand / sagen will ich Text von Michael Friedrich, Bilder von Christina Peter 58 ein waidgerechter tod Text von Georg Maltzen, Bilder von Janette Schäpe 60 heute lernen wir, tschüß zu sagen Text von Stefan Petermann, Bilder von Elke Schmidt 64 spiegelbild Text von Adina Frank, Bilder von Andrea Schulz 67 der panda in mir Text von Jana Heinicke, Bilder von Vivian Syffus 70 windmann geht die stürme küssen Text von Kai Mertig, Bilder von Maria Zimmermann 34 frauke und hans im glück Text von Udo Tiffert, Bilder von Anna-Maria Kokott 37 der beschluß des königs Text von Till Bender, Bilder von Jeannine Mahrholz 72 Danksagung, Impressum 6 einleitung Die Publikation „illustrare“ (lat: erleuchten, erklären, preisen) des Fachgebietes Kunst der Universität Erfurt geht aus einer Projektwoche hervor, die im Wintersemester 2010/11 unter der Leitung der Berliner Illustratorin Dorothee Mahnkopf (www.d-mahnkopf.de) stattfand. Für das Modul Projektwoche werden Gastkünstler und -künstlerinnen eingeladen, die das thematische Angebot des Fachgebietes Kunst erweitern und ergänzen. Konzept unserer Ausbildung ist, dass die Studierenden möglichst viele unterschiedliche Künstler und künstlerische Positionen kennen lernen, um das eigene künstlerische Vokabular zu erweitern und eine reflektierte Position zu entwickeln. In der Projetkwoche „Illustration“ haben sich die Studierenden des Bachelor Kunst erstmalig mit der Verbindung von Text und Bild in einem gestalterischen Prozess auseinander gesetzt. Dorothee Mahnkopf schreibt in der Ankündigung für diese Veranstaltung: „Die individuelle Handschrift des Illustrators spannt neben der oft komplexen sprachlichen Ebene ein zweites Netz, das einen Weg in die imaginäre Welt und über ihre Visualisierung des Kontextes Erklärung, Kommentar bis bewußte Verwirrung eröffnet.„ Die 21 Studierenden arbeiteten mit Texten von jungen Thüringer Autoren, die im Kultur- und Literaturmagazin heft (http://heft-online.de/index.php) publiziert wurden. Prof. Dagmar Demming Universität Erfurt Erziehungswissenschaftliche Fakultät Fachgebiet Kunst http://www.uni-erfurt.de/kunst/ 7 Am Anfang steht bei der illustrativen Arbeit das Wort, doch im nächsten Schritt sogleich das Bild im Kopf. Im Rahmen der gewählten Geschichte entspannt sich das Universum ihrer möglichen Inszenierungen. Der großen Brandbreite der Texte junger Thüringer Autoren entspricht das unterschiedlichste Spektrum ihrer illustrativen Umsetzung durch die Studenten. Ich danke für die engagierte Mitarbeit. Dorothee Mahnkopf Illustatorin, Berlin Text von Benjamin Damm Bilder von Katsiaryna Chasnakova 8 blind date Text von Marcus Quent Bilder von Katsiaryna Chasnakova ich zieh dir worte aus der kehle steck sie wieder rein mach den deckel zu stoß dich weg von mir lass dich frieren auf dem feld lass dich sterben in meiner welt in der alles zerfällt wo hast du das licht hingesteckt zieh den schlüssel dir aus deiner brust ich will zurück zu mir wenn ich dann zuhause bin schlag ich dir die tür vor der nase zu und schau dir lange noch durchs fenster nach weit weg Ein Selbstmordattentat in Bagdad 6 Tote, schlimm, aber weit weg Ein Anschlag in der Londoner Innenstadt 70 Verletzte auch sehr schlimm, aber auch weit weg und wenn der Zug, in dem ich sitze in die Luft fliegt ist das für Andere auch weit weg 9 10 die fremde frau Text von Christiane Berndt Bilder von Theresia Dedek Jeden Morgen um sechs Uhr verlasse ich das Haus. Wenn ich die Tür hinter mir schließe, ist es noch dunkel draußen. Da ich der Letzte bin, muss ich zusperren. Die Straße liegt verlassen und einsam vor mir. Wir haben ein altes Haus in einem kleinen Dorf. Bis zur Bushaltestelle muss ich nur ein paar Meter laufen. Wenn ich um die Kurve bin, sehe ich sie. Sie läuft ein paar Meter vor mir. Ihr blondes Haar scheint zu leuchten im Dunkeln. Es ist sehr hell und kraus und manchmal trägt sie es offen. Meist jedoch hat sie die Haare hochgesteckt. Ihre Schuhe sind viel zu hoch und sie klappert laut auf den einsamen Fußwegen. Ihre Sachen sind auffällig und aus einer anderen Zeit, als man die Hosen noch über dem Nabel zuknöpfte. Ihre Tasche besteht aus rotem Leder und sie trägt sie nicht, sondern sie hält sich daran fest. Jeden Morgen geht sie vor mir her. Bis zur Haltestelle an der Hauptstraße. Dann steigt sie in den Bus und setzt sich ganz vorn in die erste Reihe. Ohne sie anzusehen, setze ich mich in die letzte Reihe. An ihren Schritten kann ich erkennen, wie es ihr geht. Sie hat den Gang einer Frau, die Haltung bewahren will, aber schon längst den Boden verloren hat. Meist ist sie betrunken. Dann geht sie schneller und aufrechter. Ich sehe es trotzdem. Noch nie hat sie sich nach mir umgesehen, obwohl sie weiß, dass ich hinter ihr bin. Und ich halte den immer gleichen Abstand zu ihr. Plötzlich strauchelt sie und ich erschrecke. Sie versucht, sich zu fangen, doch es gelingt ihr nicht. Hilflos fällt sie, die Hände nach vorn gestreckt, doch ihr Kopf trifft den Bordstein. Ich laufe zu ihr und versuche, ihr aufzuhelfen. Starker Parfum-Duft soll den Geruch von Alkohol überlagern, doch die Mischung aus Beidem widert mich an. Panisch krallen sich ihre langen roten Nägel in meine Jacke, doch sie bekommt keinen Halt. Ich sehe eine Platzwunde an ihrer Stirn und wundere mich, wie schwer ein so dünner Mensch werden kann. Dann fasse ich mir ein Herz und packe richtig zu. Im nächsten Moment steht sie wieder auf beiden Füßen. Sie wischt sich den Dreck von der Hose, ohne das Blut zu bemerken, das ihr von der Stirn über die Wange läuft und ihren Pullover verschmutzt. „Ich muss zur Arbeit!“ sagt sie und schiebt mich beiseite. Ich halte sie fest. Verwundert sieht sie mich an. „Heute nicht, Mutter!“ sage ich mit fester Stimme. „Heute nicht!“ 11 12 ein sehr, sehr schönes mädchen Von Dato Turashvili Übersetzung Maka Blank Bilder von Johannes Gräbner Es gab da in einer kleinen europäischen Stadt ein Seminar über die Demokratie und über die Entwicklung der Demokratie. Ich bekam die Einladung und flog hin. Welches Seminar konnte wohl schon der Entwicklung unserer Demokratie helfen, aber ich tat es trotzdem. In Tbilissi, meiner Heimatstadt, war es schon kalt. Viel zu tun hatte ich dort nicht. Ich hätte bei Kerzenlicht an einem Projekt arbeiten sollen, doch das war mir keine angenehme Vorstellung. Also flog ich nach Europa. Im Flughafen wartete auf mich eine Frau mit Brille und mit einem Schild in der Hand. Darauf stand mein Name, auf Englisch und natürlich falsch. Ich lächelte sie an, zeigte mit dem Finger auf mich, daß ich es sei, und sie atmete auf. Wahrscheinlich war sie sicher, daß ich aus irgendeiner Republik der ehemaligen Sowjetunion nicht so einfach in die Mitte Europas reisen konnte. Wie sie mir dann selbst sagte, habe sie sich große Sorgen gemacht, am meisten darüber, daß ich unterwegs, beim Umsteigen, verloren gehen könne. „In der Natur geht nichts verloren“, beruhigte ich sie. Zwei Stunden später waren wir am Ziel. Die Veranstalter hatten das Seminar in einem Wald organisiert und das war eine gute Wahl – ein geschmackvoll eingerichtetes Schloß von einem Herzog oder Grafen aus dem Mittelalter. Gemessen an den Lebensumständen in meiner Heimat freute ich mich jetzt über den europäischen Komfort. Heißes Wasser begehrte ich besonders und so saß ich zehn Tage lang immer frisch gewaschen und gereinigt im Seminar. Die meisten Redner waren aus Amerika. Uns, den Leuten aus der ehemaligen Sowjetunion, erklärten sie sorgsam das Wesen und die Vorteile der Demokratie. Auch wenn die Barmherzigkeit der Demokratie mein Land momentan nicht weiterbringen konnte, würde mir der ausgezeichnete Whisky hier sehr gut tun, dachte ich. So trank ich jeden Abend eifrig die am Tresen erworbene märchenhafte Flüssigkeit und ließ meine Gedanken schweifen. Nachts las ich immer Bukowski, ich hatte nur dieses eine Buch dabei. Ich konnte Whisky und Bukowski nur schwer voneinander trennen, konsumierte beides in vollen Zügen. Am Seminar nahmen auch Russen teil, aber nur Männer, und das war wahrscheinlich eine gute Entscheidung, da in Rußland eher die Männer Wissen über die Demokratie nötig haben als die Frauen … Am elften Tag fuhren wir mit demselben Kleinbus wieder zurück in die kleine Stadt. Hier sollte ich eine Nacht in einem schönen Hotel bleiben, am nächsten Tag in die Hauptstadt fliegen und von da aus gleich weiter – in meine, der heiligen Maria gehörende Heimat. Bis zum Abend ging ich in den gepflasterten Gassen spazieren, kaufte noch ein paar Geschenke für meine Familie. Dann kehrte ich zum Hotel zurück. Mein Zimmer war gemütlich. Ich machte den Fernseher an, aber die Werbung nervte mich. Ohne Whisky hätte ich bestimmt nicht mehr einschlafen können, also ging ich nach unten. Es war eher ein Klub als eine Bar. Die Paare tanzten im Dunkeln. Ich setzte mich an einen freien Tisch. Alles war sehr schummrig beleuchtet. Der Kellner bemerkte mich schnell. Ich bestellte ein Glas doppelten Whisky, trank es, sobald es kam, und bestellte noch ein Glas, wieder einen Doppelten. Der Whisky war so gut, daß ich ihn wirklich nicht mit Eis nippen konnte, wie Bukowski es tat. Auch meinen Adern und meinem Gehirn tat das Tempo beim Trinken sehr gut. Ansonsten hatte ich es nicht besonders eilig, denn in meiner Nähe saß ein umwerfend schönes Mädchen und blickte mich unzweideutig an. Ich war müde und beschwippst, wenn auch nicht betrunken, aber ich erkannte doch, daß sie mich als potenziellen Kunden ansah. Es war dunkel, aber ihre schönen Gesichtszüge konnte ich trotzdem sehen. Ich hatte schon das dritte Glas getrunken, als sie aufstand und zu mir kam. Sie setzte sich neben mich, aber nicht rechts von mir, sondern lief einmal um den Tisch herum, auf die linke Seite. Daran erinnerte ich mich erst später, am Morgen, in diesem Moment aber bemerkte ich diese Kleinigkeit kaum. 13 14 15 Das vierte Mal bestellte ich Whisky, nun schon für uns beide. Sie trank langsam und wenig, ich – wieder kaukasisch. Ich fragte sie nach ihrem Namen, sie sagte ihn und lächelte mich an. Dann nach dem Preis und den sagte sie mir auch. Eine Stunde kostete nicht viel, aber es eilte mich auch nicht, so schnell zur Sache zu kommen. Mein Geld reichte für die ganze Nacht. Ich bot ihr an zu tanzen. Heute noch erinnere ich mich an den Geruch ihres Haares, spüre ihren Arm an meinem Hals und die zärtliche Berührung ihrer sanften Finger an meinem Nacken. Sie war wirklich sehr schön. Ein Travolta war ich sicher nicht, aber etwas anderes als Tanzen fiel mir nicht ein, um ihr ein wenig näher zu kommen, bevor wir im Bett landeten. Nebenbei trank ich noch ein Glas Whisky. Dann wollte ich auf einmal sehr, sehr reden, besser gesagt, mich mit ihr unterhalten, noch besser gesagt, ihr zuhören. Ich wollte alles über sie wissen, was sie mir erzählen und was ich selbst erkennen würde. Das siebte Glas war das letzte. Wir nahmen den Aufzug. Gleich, als wir das Zimmer betraten, gab ich ihr das Geld. Beschwert durch den Whisky bewegte ich mich sehr langsam und brauchte lange, um mich auszuziehen. Ich dachte nicht mehr an Sex, nur noch an das angenehme Schlafen, zusammen mit ihr. Ich wollte nur ihren nackten Körper unter der Decke spüren, wollte, daß sie mit dem Kopf an meiner Schulter zusammen mit mir einschlief. Etwas anderes wollte ich nicht. Wichtig war, daß ich nicht allein blieb, und dafür bezahlte ich. Sie war aber ehrlicher als ich und machte das, wofür sie das Geld schon genommen hatte. Der Whisky wirkte so stark, daß mich gleich, nachdem wir fertig waren, ein tiefer Schlaf erfaßte. Das einzige, woran ich mich später erinnerte, war ihre hauchdünne Haut … seltsam und angenehm … Am Morgen wurde ich schon früh wach. Die Gardinen waren offen und das ganze Zimmer war sonnendurchflutet. Ich hatte Kopfschmerzen, aber nicht so starke, wie erwartet, und das bedeutete, daß ich am Vorabend wirklich perfekten Whisky getrunken hatte. Ich beeilte mich nicht aufzustehen, weil ich entschieden hatte, ihr als ein besserer Freier den Vortritt ins Bad zu lassen. Sie war wirklich wundervoll anzusehen. Beim Aufstehen küßte ich sie auf die Wange und bedankte mich bei ihr. Sie stand auf und ein riesiger Stich ging durch mein Herz vor Schreck und Verblüffung – ihr fehlte der linke Arm. Ich weiß nicht mehr, wie ich zum Flughafen kam. Im Flugzeug bat ich um ein Medikament. Bis heute kann ich nicht verstehen, wie ich an jenem Abend nicht merken konnte, daß ihr der linke Arm fehlte, diesem wunderschönen Mädchen … 16 gggab zeit für liebestöter „Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen. Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte – zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.“ R. M. Rilke Die Liebe ist das größte aller Gefühle. Sie richtet sich auf das Höchste. Etwas jenseits des Himmels und aller Horizonte. Auf dich oder auf mich zum Beispiel. Liebe geht immer aufs Ganze. Wer liebt, dem erschließt sich im kleinsten Fussel die gesamte Weisheit des Weltalls. Ins Unendliche geht das Verlangen. Doch wie lange? Ewige Treue schwören wir dem Geliebten. Unsterblich sind wir verliebt. Liebe, richtige romantische Liebe, ist stärker als der Tod. Das Versprechen bei der Trauung: „bis daß der Tod euch scheidet“, ist glatt gelogen. Ehe und Ewigkeit haben dieselbe Wortherkunft, und man geht falsch in der Annahme, wenn man bei Ehe nur an eine Rechtsgrundlage der Liebe denkt, an Sitte und Gesetz. Seit der Romantik ist wieder zusammen, was zusammen gehört, Liebe und Ehe kein Widerspruch mehr, vielmehr hat sich die Liebe der Ehe bemächtigt und somit ihre letzten Fesseln gesprengt. Es ist wirklich schön, wenn Ehe und Liebe eins sind, doch manchmal ist die Liebe etwas detailblind. In vorromantischer Zeit wurde man verheiratet und fand die große Liebe woanders. Heimlich mußte man sich treffen, ständig schwebte man in Gefahr, entdeckt zu werden. Nichts ist erotischer als verbotene oder unmögliche Liebe. Wenn jedoch aus Liebe geheiratet wird, dann sind der Liebe keine Grenzen mehr gesetzt. Man muß Leidenschaft und ewige Dauer unter einen Hut bringen, und das kann nicht gut gehen. Wir stehen vor dem Paradox, daß die grenzenlose Liebe sich selbst aufhebt. Ganz deutlich muß die Autorin, ohne Angst und Schrecken verbreiten zu wollen, sagen: Wir stehen kurz vor einer Zeitenwende. Das Verschwinden der Liebe aus unserer Gesellschaft ist in bedrückende Nähe gerückt. Und weil das so schrecklich ist, wollen wir das verhindern. Der geneigte Leser wird folgenden „Plan von der Abschaffung des Endes der ewigen Liebe durch Liebestöter“ sehr einleuchtend finden.* Jeder und jede Liebende braucht von Zeit zu Zeit Liebestöter, die die Liebe in ihrer Unendlichkeit auf ein erträgliches Maß zuschneidern. Es tut der Unendlichkeit überhaupt nicht weh, sie in faßbare Häppchen zu unterteilen. Gleichzeitig kann man Endliches unendlich oft zerlegen. Eine Strecke hat unendlich viele Teilstrecken. Auf die Liebe bezogen heißt das: 17 18 Text von Bilder von Text von Helga Breitenschädel Bilder von Katja Hoffmann Ewige Liebe verträgt Einschnitte, die Zeiten für Liebestöter, und ein einzelner Abschnitt kann bei Bedarf ewig ausgedehnt werden. Darin kann dann zeitweise endloser Streit und Langeweile blühen. Das Universum zum Beispiel kann man sich kaum als ein unendliches vorstellen. Es muß doch einmal angefangen haben, muß doch eigentlich auch irgendwo und irgendwann aufhören. Ich geh mit dir bis zu den Sternen und weiter? Unendlichkeit ist für den menschlichen Geist nicht faßbar, und für den Körper nicht machbar. Dies gilt jedoch nur für die Vorstellung von Unendlichkeit. Die Vorstellung von Unendlichkeit verleitet uns manchmal dazu, sie zu glorifizieren. Und das ist gefährlich. Deswegen ist es wichtig für den Erhalt einer Liebesbeziehung, den Umgang mit Unendlichkeit praktisch zu üben und sich sinnlich mit ihr vertraut zu machen: Wir betrachten die Unendlichkeit, indem wir uns zwischen zwei parallele Spiegel stellen. Das ist auf den ersten Blick enttäuschend, man sieht keinesfalls ewig weit. Denn beim hin- und herspiegeln geht Licht verloren, und so verschwinden unsere Köpfe immer kleiner und immer dunkler am Horizont. Aber prinzipiell haben wir eine unendliche Folge von immer gleichen Köpfen vor uns. Das ist nicht schön, aber auch nicht erschrekkend. Ein anderes Beispiel ist Unsterblichkeit. Als Ideal für unsere Liebe kann uns die Seegurke dienen. Sie ist ein Lebewesen, das sich immer wieder selbst erneuern kann. Zusätzlich kann sie sich geschlechtlich fortpflanzen – wenn sie mag –, indem sie Eizellen oder Spermien ins Wasser ausstößt. Deswegen wird sie auch auf italienisch cazzo di mare, Schwanz der Meere, genannt. Wir sehen also die Banalität des Unendlichen im Alltag bzw. unter Wasser. Genauso enttäuscht ist man von unendlicher Liebe, wenn man sie erleben muß. Damit die ewige Liebe in einer Partnerschaft nun eben sich selbst nicht aufhebt, muß man ihr ab und zu einen kleinen Todesstoß verpassen. Für am besten geeignet halte ich Langeweile (erzeugt durch den Vortrag gurkiger Gedichte) und lange Unterhosen (ausgeleiert und ein bißchen angegammelt). Aber nur unter einer Voraussetzung: Beide Liebespartner müssen wissen, daß es sich um eine liebesrettende Maßnahme handelt. Das Problem der Romantiker war ihre Spinnerei. Sie schufen die romantische Liebe als Ideal, ohne sie vorher ausprobiert zu haben. Wir Liebenden der Postmoderne sind da weiter. Wir können nicht mehr ernsthaft sagen: Ich liebe dich. Denn das wurde einfach zu oft schon gesagt, und was in der Liebe gesagt wird, darf nur dem oder der Einzigen, dem oder der Geliebtesten aller Geliebten gelten. Man kann seine Liebeserklärung loswerden, indem man sagt: „Ich weiß, das Du weißt, das das, was ich jetzt sagen werde, schon hunderttausend mal gesagt worden ist (an dieser Stelle können auch berühmte Quellen genannt werden), aber ich sage es trotzdem, denn ich kann nicht anders: Ich liebe Dich.“ Man befindet sich auf gemeinsamer, leicht ironischer Ebene. Wenn man eine gemeinsame Wohnung bezogen hat, kann man nicht stets und ständig leidenschaftlich seufzen. Um das unmöglich ewig andauernde leidenschaftliche Verlangen nicht als Abwesenheit von Liebe zu verstehen, muß man auf andere Weise mitteilen, daß man an den Anderen denkt und ihn liebt. Der Liebestöter ist Signal dafür, daß man den Anderen zwar schrecklich toll findet, man aber, um der gemeinsamen Ewigkeit willen, eine Auszeit braucht. Man laufe dann in unerotischer Wäsche herum oder lese selbstverfaßte Gedichte vor, wie dieses: Die Gurke ist unsterblich / Auf tiefem Meeresgrund / Nur manchmal gluckst sie zärtlich / wenn andre Gurke tut sich kund / Oh möge unsre Liebe ewig / Eine Gurke sein / Im All-Ozean geborgen / Ein türmend, spritzend Quell / Von Sonnenschein und Regen. Und danach gibt’s wieder Rilke. 19 20 der geburtstag Daß früher ja nun auch nicht alles schlecht gewesen sei, sagt der Vater, das solle ich nur nicht denken. Daß ich das nicht denken würde, sage ich. Denke das nur nicht, wiederholt der Vater noch einmal. Und daß er deswegen noch lange kein Kommunist sei, sagt er noch. Das denkt ihr doch immer! Nur weil man sagt, daß früher eben nicht alles schlecht gewesen sei. Und bei der Stasi sei er schon gar nicht gewesen. Himmel bewahre …! Ja, in der Kampfgruppe sei er schon gewesen, ja. Aber da waren doch alle drin, da konnte man gar nichts machen. Unsereiner sowieso nicht! Ein viel zu kleines Licht wäre er da gewesen. Aber heutzutage getraue man sich schon gar nicht mehr zu sagen, daß nicht alles schlecht gewesen sei. Da würde man gleich in einen Topf geworfen mit denen, sagt der Vater. Bei dem Wort »denen« nickt der Vater Richtung Fenster, als stünde hinter der Gardine jemand. Auch ich schaue instinktiv in diese Richtung. Ich will sagen, daß es durchaus Leute gab, die nicht in der Kampfgruppe waren. Doch ich sage es nicht und spiele unter dem Tisch mit meinen Zehen. Der Vater streicht derweil das Tischtuch glatt. Immer wieder fährt seine Hand über eine Liegefalte. Doch die Falte widersteht dem Druck. Jedes Mal, wenn die Hand die Stelle wieder verläßt, erscheint sie erneut. Ich lehne mich etwas zufriedener im Stuhl zurück und verschränke meine Arme. Nun laß doch den Jungen, sagt die Mutter, die gerade ins Zimmer kommt. Ich erschrecke ein wenig, weil sie so leise geht. Schon immer war es mir ein Rätsel, wie man so leise gehen kann, denke ich. Sie hält mir ein Tablett mit gefüllter Schweinelende unter die Nase. Hier, sagt sie, schau mal! Die hab ich nur für dich gekauft. Die magst du doch immer. Und Spargel ist auch dabei. Früher hat man für so etwas stundenlang anstehen müssen, und Spargel gab es sowieso nicht, sagt die Mutter noch. Aber zum Glück seien diese Zeiten ja vorbei! Ich schaue auf die Spargelstangen, die wie abgetrennte Finger zwischen der Schweinelende liegen. Verhungert sei man deswegen auch nicht, sagt der Vater und schenkt sich einen zweiten Schnaps ein. Ich halte wortlos die Hand über mein leeres Glas, die Flasche steht schräg darüber. Wir schauen uns einen Moment zu lange in die Augen. Dann stellt er die Flasche ab, direkt auf die Falte im Tischtuch. Heute esse man sowieso zu viel Fleisch, sagt der Vater und trinkt den Schnaps in einem Zug leer. Aber das müsse er mir ja nicht sagen, schließlich sei ich ja ein Studierter. Die wüßten sowieso immer alles ganz genau. Doch davon gäbe es heute auch zu viele. Das wäre wie mit dem Fleisch. Er frage sich überhaupt schon lange, wer noch arbeiten solle, sagt der Vater, wenn Hinz und Kunz studieren würden. Wenn es nach ihm gehen würde, wäre es wieder wie früher. Notendurchschnitt und basta, ohne Hintertür! Und vorher drei Jahre zur Armee. Das habe noch keinem geschadet. Ich muß lachen. Was denn daran so lustig sei, will der Vater wissen. Ich kenne tatsächlich einen Kuntz, sage ich und grinse noch mehr. Der Vater findet das gar nicht witzig und sagt es auch. Wie denn die Fahrt gewesen sei, fragt die Mutter. Wie immer, sage ich, lang eben und die Züge überfüllt. Aber nun bist du ja da, sagt die Mutter. Ja, sage ich, nun sei ich ja da. Schön, sagt sie und ich nicke ein paar Mal zuviel, als müßte diese Bestätigung noch sein. Die Mutter legt Servietten und Besteck neben die Teller. Nicht daß du denkst, wir würden immer so tafeln, sagt der Vater und richtet sein Besteck noch einmal akkurat zum Teller aus. Eine Ausnahme sei das heute. Er habe ja noch versucht, der Mutter das auszureden. Aber da rede er ja gegen eine Wand. Man müsse auch die einfachen Dinge zu schätzen wissen, und zu spät sei es obendrein. Wozu gebe es sonst eine Uhr. Auch so eine Unsitte wäre das heutzutage, man esse ja sogar im Gehen. Ja, pflichtet die Mutter dem Vater bei, das ist wirklich nicht schön. Als sie den Wein in die Gläser gießt, zittert sie ein wenig. Jedes Mal, wenn der Flaschenhals das Glas berührt, klirrt es leise. Ob sie ihn denn vergiften wolle, sagt der Vater, sie wisse doch, daß er von Wein immer Sodbrennen bekomme. Sie habe gedacht, nur heute, sagt die Mutter. Zur Feier des … Text von Bilder von 21 22 Text Andreas Gelbhaar Bilder von Stephan Kühne 23 Sodbrennen bleibe Sodbrennen, das richte sich nicht nach Geburtstagen, sagt der Vater. Unter die Erde bringe sie ihn schon noch früh genug! Er schiebt sein Glas beiseite, dabei schwappt es etwas über. Gierig saugt das Tischtuch die Flüssigkeit auf, als habe es nur darauf gewartet. Ich esse kein Fleisch mehr, schon drei Jahre, sage ich mehr in den Raum hinein und unterbreche das Spiel mit meinen Zehen. Dann schiebe ich die Schnapsflasche von der Falte im Tischtuch, die sich sofort wieder nach oben wölbt. Der Vater schaut kurz auf. Das wäre ja noch schöner, sagt die Mutter, ein junger Mann und kein Fleisch essen, und außerdem die lange Fahrt, ich müsse doch Hunger haben. Sie legt mir ein Stück gefüllte Schweinelende auf den Teller und lacht dabei ein bißchen, als wäre es lustig. Ich warte auf den Spruch »damit du groß und stark wirst«. Doch keiner sagt etwas, wir essen schweigend. Ich rühre das Fleisch nicht an. Als ich fertig bin, wische ich mir umständlich mit der Serviette Speichel und kleine Reste zerfaserten Spargels aus den Mundwinkeln. Dann lege ich die benutzte Serviette über das Fleisch. Die Mutter tut so, als hätte sie es nicht gesehen und räumt das Geschirr ab. Draußen wird sie das Fleisch wieder in den Topf zurückgeben, denke ich. Morgen wird dann der Vater meine Reste essen. Das freut mich still. Erst wenn man selbst dafür arbeiten müsse, wisse man das alles zu schätzen, sagt der Vater zu seinem Schnapsglas und schüttelt mehrmals energisch den Kopf. Deswegen stünden ja an jeder Ecke heutzutage Altkleidercontainer. Immer weg damit, sagt der Vater und wirft ein imaginäres Kleidungsstück in einen imaginären Container. Wir hatten früher nur eine Jacke für den Winter, das hat auch gereicht. Vielleicht noch eine für den Übergang, ja, vielleicht … Er habe schon mit dreizehn Jahren anfangen müssen zu arbeiten. Mit dreizehn …! Zu meinem besseren Verständnis zeichnet der Vater mit seinem Zeigefinger eine große dreizehn in die Luft. Jetzt verkrampfe ich meine Zehen. Aus der Küche höre ich, wie Wasser in das Spülbecken läuft. Noch einmal schüttelt der energische Vater seinen Kopf. Dann schaltet er den Fernseher ein und setzt sich in den Sessel. Mit dem Bein angelt er einen Hocker heran, um seine Füße darauf zu legen. Die Fernbedienung hält er wie eine Pistole. Ein Tierfilm über Elefanten wird gezeigt. Sie ziehen schwere Baumstämme durch einen Dschungel. Doch der Vater verliert schnell die Lust. Er schaltet den Fernseher wieder aus und geht nach oben. Wenn es nach mir ginge, sagt der Vater noch in der Tür, würden Geburtstage sowieso nicht mehr gefeiert. Ich stehe auf und halte mich am Tisch fest. Elefanten essen auch kein Fleisch, schreie ich ihm nach, und in die Kampfgruppe wurde man auch nicht gezwungen. Oben fällt hart eine Tür ins Schloß. Dann gehe ich zur Mutter in die Küche. Sie steht am Fenster und starrt hinaus, als wäre das ein Trost. 24 agro-ökoconsulting Ich wache auf und versuche mich daran zu erinnern, wie dieser fremde Mann in mein Zimmer gekommen ist. Der Mann trägt eine braune Anzughose und ein hellblaues Hemd mit hochgeschlagenem Kragen. Er sitzt vor meinem Laptop und starrt auf den Bildschirm. Ich stelle mich hinter ihn und erkenne das YouTube-Logo auf dem Monitor. Der fremde Mann und ich schauen einen Clip, in dem ein anderer Mann mit hochgeschlagenem Hemdkragen ganz langsam vormacht, wie man sich eine Krawatte bindet. Das Video hat 3.864.750 Clicks. Der fremde Mann in meinem Zimmer hat seinen Schlips fertig gebunden, der Knoten sieht etwas mickriger aus als im Video, aber es geht noch. Der Mann sagt: „Wenn du dich beeilst, kann ich dich im Auto mitnehmen.“ Eigentlich habe ich keine Lust mich zu beeilen, aber dann bin ich doch gespannt, wohin mich der fremde Mann mitnehmen will und ziehe mich an. Der Mann und ich steigen ins Auto fahren fünfzig Meter, halten an, kaufen teuren Kaffee in Pappbechern, fahren wieder fünfzig Meter und stehen im Stau. „Vielleicht solltest du im Büro anrufen und sagen, daß es etwas später wird“, sagt der Mann zu mir und trinkt einen Schluck Kaffee. Ich greife in meine Handtasche und finde ein Handy in dem tatsächlich die Nummer „Ich Büro“ eingespeichert ist. „Ich bin’s“, sage ich zu einer Frau am Telefon, die sich erst mit ihrem eigenen und dann mit einem Firmennamen meldet. Ich überlege, da – Agro-Öko-Consulting ein ziemlich bekloppter Name für ein Unternehmen ist. Die Frau am anderen Ende des Telefon sagt: „Du steckst also wieder mal im Stau.“ Zwanzig Minuten später stehe ich vor einem Bürohaus, fahre in die vierte Etage und suche an den Türschildern im Gang nach meinem Namen. Ich setze mich in mein Büro, schalte den Computer ein und überlege, was eine Firma, die AgroÖko-Consulting heißt, so machen könnte. Plötzlich kommt ein Mann herein, der seinem ausgeleierten Pullover nach, un möglich mein Chef sein kann und setzt sich an den Schreibtisch gegenüber. Er löst einen beeindruckend voluminösen Teebeutel aus einer Haltevorrichtung auf seiner Tasse. »Na«, sagt er. „Na“, sagte ich. Dann fummelt er an seinem Tischkalender herum. 25 Text von Franziska Wilhelm Bilder von Mareike Lerche 26 „S’is unglaublich“, sagt er. „Was?“ frage ich so neutral wie möglich. „Wie die Zeit vergeht“, sagt der Mann mir gegenüber. „Manchmal hat man das Gefühl, es blitzt zweimal und dann ist schon wieder Dienstag.“ Ich nicke, weil ich denke, daß es das Beste ist. „Schau mal“, sagt der Mann und schiebt mir eine Zeitung rüber, die wie eine Geo aussieht, aber keine Geo ist. Ich lese: »Das Gehirn einer Schnecke verarbeitet in einer Sekunde gerade mal vier Bilder – alle 200 Millisekunden eines. Das ermöglicht Schnecken, das Wachstum von Pflanzen als Bewegung wahrzunehmen.« »Irre, was?« sagt der Mann mit dem voluminösen Teebeutel. »Stell dir vor, du als Schnecke. Du kriechst so ahnungslos vor dich hin und da schießt so – Wusch! – aus dem Nichts heraus das Gras neben dir in die Höhe. Wusch! Ein anderes Büschel. Wusch! Noch eins. Ningelningelningel! – ein kleiner Rankenfarn.« Er lacht. Ich frage mich erneut und diesmal sehr ernsthaft, was eine Firma, die Agro-Öko-Consulting heißt, eigentlich so macht. Währenddessen läßt der Mann am Schreibtisch gegenüber Kornblumen, Kamille und Klatschmohn sprießen. Weil er dabei so einen Lärm macht, höre ich mein Handy erst viel zu spät. Ein Mädchen im Teenager-Alter spricht mir auf die Mailbox. Sie fragt, ob sie heute abend bei einer Freundin übernachten darf. Ich mutmaße, ich habe Kinder. Ich krame mein Portemonnaie aus der Tasche hervor, finde die Lasche, in der immer die Paßfotos stecken, und tatsächlich: Es sind zwei. Sie sind ein bißchen verpickelt, aber ganz ansehnlich. Ich verbringe den ganzen Tag in meinem Büro, indem ich Tee aus riesigen Teebeuteln trinke und mir Spots auf YouTube anschaue, in denen ganz, ganz langsam erklärt wird, wie man Hühnersuppe kocht, Streubomben baut, Tintenstrahldrucker repariert und Tampons einführt. Ich denke, es gibt nichts, was es nicht gibt auf der Welt, und dann blitzt es zweimal, und es ist Dienstag. Ich stehe vor einem Reihenhäuschen und meine Tochter steigt aus dem dunkelblauen Kombi, der in der Einfahrt parkt. Sie hat ihr kleines Akne-Problem überwunden und ist jetzt ungefähr vierzig Jahre alt. Sie sagt: »Jetzt geht’s los, Mutter«, und trägt meinen Koffer zum Wagen. Wir fahren zu einem geschmackvoll eingerichteten Altenheim, das sehr schön gelegen ist, genau zwischen Stadtpark und Friedhof. Während meine Tochter meinen Koffer nach oben trägt und die Formalien klärt, laufe ich ein paar Schritte in Richtung Park. Ich setze mich auf eine sehr niedrige Bank. Sie ist so niedrig, daß ich denke: »Mensch, das dauert ja ewig, bis mein Arsch die Planken berührt«, dann sitze ich und um mich herum sprießen Schachtelhalme nach oben. Ich höre genau hin. Es macht gar nicht »Wusch!« denke ich, es ist eher ein »Zsssssip!«. »Zsssssip! Zsssssip! Zsssssip!« wächst es um mich herum, hinauf in den Himmel. Ich lehne mich auf meiner Bank zurück und denke, daß es so nicht weitergehen kann. Eine Schnecke kommt vorbei, sie wünscht mir eine schöne Restwoche. Ich nicke und beschließe, bei Agro-Öko-Consulting zu kündigen. 27 28 überlandleitung. Text von Peter Neumann Bilder von Carsten Lincke 29 verabredet waren wir nicht bist aber du nicht gekommen ich hatte gehofft du fändest mich auf einer Bank nicht mal dein Schatten hat sich über mich gebeugt die Landschaft wollte nicht beschrieben werden jetzt aber fange ich an die sich abzeichnenden Äste von der Dunkelheit zu lösen das mir vorschwebt von einem Treppen verabredet bist kein herbst bringt lederjacken so gelb dass ein telefongespräch abreißt die überlandleitung verfolg ich die schwarze linie dahinter der himmel wartet auf neuigkeiten weißen einbrüchen nachzujagen wo sie brachliegen in den feldern um jüterbog in einem verdammten hinterhof ecke prenzlauer allee zu suchen hätte ich nie damit begonnen ich hätte nie etwas vermisst dass ein weizenfeld einsamkeit ist ein rascheln das nie aufhört selbst auf dem bahnsteig stiegen wir aus demselben zug ohne es zu wissen wir würden einander verfehlen. für ein Gedicht mit dir waren wir nicht aber du nicht gekommen Text von Peter Neumann Bilder von Carsten Lincke 30 greizer park zum lufttanz versammelte Dammweg ragt ein Silberahorn, dies ist eine besondere Form: schmallippig und tief eingeschnitten die Blätter hier ist die Landschaft, wo die Bluse dazu. Lass uns ströpern gehen die Lindenallee entlang der Weißen Elster, die Karpfenmast der Binsenteiche, Ölweiden silbrigschilfigen Überzugs in die g e s t a f f e l t e Landschaft so tun als ob die Hand darüber fahren könnte, wie über deinen Namen zwischen den Kiefern im Pinetum, dein Name, an dem ich Morgen für Morgen die Wäsche aufhing, bis sie ganz verstreut in den Wiesen lag. An Sonntagen liegt die Heinestraße unbewegt wie ein Kalenderbild. Die ansonsten sich immerfort drehenden Reifen stehen dicht an Bordsteine gedrängt, unter blank geputzten Metallflächen still. An Sonntagen steht Jannes in meiner Küche und kocht grünen Tee. Wie du das aushältst die Woche über, sagt er, mir wäre es zu laut hier. An Sonntagen liegt alles in Schichten: Heute über Morgen, Lebensmittel nach Ladenschluss, Jalousien vor Schaufensterglas, Schwarz auf Weiß – Graffiti-Unterschriften übermütiger Jugendlicher. Du trittst auf der Stelle, sagt Jannes. Ich sitze, antworte ich. An Montagen kommt einer im Blaumann mit Farbrolle und Eimer und streicht die Fassaden. Typisch deutsch, finde ich. Ist doch super, sagt Jannes. Gegen sieben rollen die Reifen, fahren Leute zu ihrer Arbeit. An Montagen muss es eine Richtung geben, sagt Jannes, damit die Füße nicht nur vor sich hin treten, X-Beine, O-Beine, die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor das rechte. Neun Uhr dreißig bin ich bestellt. Ich gehe die Treppen hinab und die Straße hinauf. Wände stehen dicht beieinander: Lücken zwischen Regenrinne des einen und Dachansatz des anderen Hauses geben Himmelspalten frei und den Blick auf gleitende Vögel. Einzelne, Paare, zum Lufttanz Versammelte – ein Stimmenkonzert, als wurde Frieden beschlossen im letzten Traum. Ich warte auf eine Straßenbahn, steige ein. Leute schieben sich auf Sitze, tragen Taschen auf Schössen, umklammern Griffe, werfen sich wissende Blicke zu, hier wird keiner gefragt. Das ist mir zu viel, alle atmen, alle riechen, alle haben Geschichten, aber so, mit der Bahn, geht es schneller voran. Gegenüber ein Junge, der ist vielleicht vier und hält Finger vor seine Augen, schiebt sie auseinander, blinzelt durch Lücken. Bin ich weg, sagt er, lacht und baumelt die Beine abwechselnd unter den Plastiksitz und wieder hervor, das rechte, das linke, bin ich weg. Pssst, macht eine Frau Mitte vierzig mit Krause und hebt den rechten Zeigefinger, bis er ihre Lippen kreuzt. Ich schließe die Augen. Sieben Stationen, das ist mir zu viel, aber so geht es schnell voran. Mit mir steigt ein Mann im schwarzen Cordanzug aus. Seine Hose steht auf Hochwasser, der Stoff des Jacketts ist an den Ellbogen ausgedünnt. Auch die Krause kommt mit und zieht das Kind wie einen Koffer hinter sich her. Im Gleichschritt bewegen wir uns auf den Glaskollos zu – eine seltsame Gruppe. Agentur steht geschrieben auf den Schildern. Die Schilder stehen rechts und links vom Platz, als könnte man hier vom Weg abkommen, sich verirren; als wäre es weniger amtlich mit dem neuen Namen. Das helle Licht macht mir Angst. Alles ist gläsern: Schilder, Türen, Blicke. Wir gehen die Gänge entlang, bleiben stehen im letzten Zimmer, ziehen Zahlen: erst die Frau, dann ich, dann der Mann. Alter geht vor und das Kind soll nicht noch länger warten. 208. Aus dem Lautsprecher eine Frauenstimme, durch die Leitung völlig verzogen, krächzt sie: hunnertehnunachtzsch. Ich beginne, die Leute im Raum zu zählen. Die Tür geht auf, der Kapitän kommt rein. Ich nicke ihm zu, ein Reflex. Jannes sagt immer: Guck mal, der Spinner!, wenn er mich abholt und wir zu ihm fahren, die Zschochersche runter. Guck mal, der Spinner!, wenn wir am Karl-HeineKanal spazieren gehen, oder beim Dönermann am Lindenauer Markt sitzen. Sein Revier, sagt Jannes, hier wohnen nur Spinner. Wie du es es aushältst hier, ist mir ein Rätsel. – Mir aber nicht, antworte ich, ich fühle mich wohl hier. Ich mag meine Wohnung. Meine Wohnung ist nicht besonders schön und nicht besonders groß – sie ist nicht besonders. Nur, dass die Dusche in der Küche ist und das Klo auf halber Treppe. Jannes mag meine Wohnung nicht. Meistens sind wir bei ihm. Wenn ich einen Job bekomme, werde ich mir eine neue Wohnung suchen, habe ich versprochen. Oder wir ziehen zusammen, hat er geantwortet. Der Kapitän setzt sich auf den Platz in der anderen Stuhlreihe, mir genau gegenüber. Er ist nicht irgendein Spinner, sondern er ist der mit der marineblauen Mütze und dem weißen großen Megaphon. Das ist ihm an den Mund gewachsen, sagt Jannes immer, weil er ununterbrochen hinein brüllt. Jetzt liegt es auf seinem Schoß und er hält den Griff umklammert mit beiden Händen. Seine Finger sind gilbig, die Nägel haben schwarze Ränder. Um seinen Hals hängt ein grauer Schal. Der Mann stinkt nach Schweiß, es ist Mitte Mai. Seine dunkelblaue Jacke wirft Wellen, die Stoffhose hat Löcher, Haare wuchern heraus. Die Fahne des Kapitäns reicht bis hier herüber. Er setzt die Flasche an den Mund, 31 Text von Katrin Marie Merten Bilder von Andrea Kaufmann 32 trinkt in großen Schlucken und stellt sie hinab, schiebt sie mit dem linken Fuß hinter das rechte Stuhlbein. Der Kapitän zwinkert. Rechts neben mir sitzt ein Mann Ende zwanzig mit markanter schwarzer Brille im weißen Anzug und blättert in einer Broschüre. Er riecht nach Adidas Sport, das habe ich Jannes letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt, weil er etwas Nützliches haben wollte. Ich glaube, er mag es nicht, jedenfalls riecht er nie so. Links neben mir sitzt der Junge aus der Bahn und hat seinen Kopf auf dem Oberschenkel der Krausen abgelegt. Der Kapitän zwinkert wieder. Er hebt sein Megaphon in Höhe seines Mundes. Worauf wartet ihr?, grölt er plötzlich. Dass wir dran sind, murmelt die Krause genervt. Der Brillenmann blättert, räuspert sich. Auf Jobs für Akademiker, denke ich. Liebe Frau Winter! Ausgezeichnet, ihre neue Bewerbungsmappe. EinserAbi, Erfahrungen in der Gastronomie, im Verwaltungssektor, zweijährige wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität, das beste Diplom des Jahrgangs, ausgezeichnet. Tja, liebe Frau Winter, es tut uns leid, leider können wir Ihnen zur Zeit nichts anbieten. Sie wissen ja: es ist schwierig mit Akademikern. Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän durch sein Megaphon und legt es sofort auf seinem Schoß ab. Das Kind öffnet kurz die Augen, schließt sie wieder, die Krause schüttelt den Kopf. Der Gang zum Wartezimmer ist weit und breit, ständig Schritte, geht einer, kommt einer. Der Kapitän bleibt sitzen, zwinkert wieder. Auf der Leuchtanzeige Nummer 199. Ich rücke hin und her auf dem Stuhl, im Anflug ein Schwindel, dann stößt mir Saures vom Magen hinauf, das Frühstück. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, sagt Jannes. Er frühstückt immer sechs Uhr. Der Mensch braucht eine Aufgabe!, grölt der Kapitän und zielt mit dem Megaphon genau auf mich. Die denken bestimmt, ich kenne den. Ich nehme mir auch eine Broschüre, blättere sie auf, lese Seitenzahlen. Zahlen sind einfach. Eine Aufgabe, ein Ergebnis, klare Sache: richtig oder falsch. Der Mensch braucht eine Aufgabe! Ich hebe die Broschüre vor mein Gesicht. Existenzgründer-Seminar. Vielleicht würde das helfen. Ob sie hier irgendwem helfen können? Akademikern wohl nicht. 201 auf der Tafel. Euch stehen alle Türen offen!, grölt der Kapitän. Oh mein Gott, sagt die Krausefrau. Der Kapitän schwenkt sein Megaphon, zielt genau auf sie: Mein Gott hat keinen Namen!, grölt der Kapitän. Meiner auch nicht, stelle ich fest, eigentlich wollte ich das nur denken. Das ist ja unerhört! Das ist ja unerhört!, sagt die Krause und legt die rechte Hand auf das Ohr ihres Kindes. Kommt denn hier mal wer, kommt denn hier nicht mal wer, ruft sie, und fuchtelt mit der anderen Hand herum. Der Brillenmann steht auf, legt die Broschüre auf den Stapel zurück, zieht sich das Jackett gerade und geht rechts aus der Tür, zur Toilette. Die Krause faltet die Hände. Früher habe ich auch gebetet. Abends im Bett das Vaterunser hoch und runter. Ich weiß nicht, ob das geholfen hat, oder wobei. Mein Gott hat keinen Namen!, grölt der Kapitän und lacht schallend. Wie soll der auch heißen? Klaus-Erhart? Buddha? Die Krause schüttelt ihre Locken und verzieht das Gesicht. Was denkt die denn? Dass der liebe Gott einen langen weißen Bart hat und klein gekrümmt auf knochige Äste gestützt in den Glockentürmen der Kirchen sitzt, in allen gleichzeitig, und dort durch Spalten zwischen Brettern kontrolliert, wer von uns zur Sonntagspredigt auf der Bank sitzt. Und die Nicht-Anwesenden sitzen hier, oder wie? Und so was erzählt sie dem Kind, oder was? Euch stehen alle Türen offen!, grölt der Kapitän, das Kind macht die Augen auf. So ein Quatsch!, ruft die Krause, Unerhört! Ich fange an zu lachen. Das ist wie Kabarett, mit Karten und Nummern, freier Platzwahl aber ohne Eintritt. Aus dem Kabarett könnte ich gehen. Euch stehen alle Türen offen!, grölt er noch einmal. Dann stehe ich auf. Der Kapitän steht auch auf. Weiter, mein Kind!, grölt er, klatscht in die Hände, sein Megaphon fällt auf den Boden, der Knall schallt durch den Raum, schallt hinaus auf den Gang, das Kind beginnt zu brüllen. Ich drehe mich um und laufe los, schaue mir über die Schulter, die Krause schaut mir nach und die anderen auch. Die denken bestimmt, ich bin mit dem verwandt. Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän. Vielleicht auf etwas, das sich anfühlt, wie Erwachsensein. Ich renne den Gang entlang. Wie uns die Krausen es erklärt haben, als wir Kinder waren. Gut in der Schule, ein guter Abschluss, ein guter Job, eine gute Familie, zu Weihnachten Schnee und ein Baum. Bunte Kugeln. Geschenke. Logisch. Geradeaus. Folgen und Folgefolgen. Keine Lücken im Tag. Keine Lücken im Wohnzimmer, dort, wo der Baum stehen würde, wenn es einen gäbe. Jannes hat immer einen Baum, aber ich mag keine Bäume in der Wohnung, ich mag Weihnachten nicht. Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän durch die Eingangshalle, nicht mal zu Weihnachten, denke ich, das ist Erwachsenenleben. Alle Autos fahren in die Richtung, die ihr Blinker angibt. Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän. Ich warte darauf, dass ein grünes Ampelmännchen auf einer schwarzen Fläche erscheint, dann laufe ich los. Du läufst an- strengend schnell, sagt Jannes immer. Ich finde es anstrengend, langsamer zu laufen. Aber der Kapitän hält Schritt und mit beiden Händen sein Megaphon umklammert. Man darf nicht fortlaufen, grölt er, das Megaphon fiepst. Ich bleibe stehen, drehe mich um. Ich laufe gar nicht fort, schreie ich zurück. Dann drehe ich mich wieder um und laufe weiter. Der Kapitän mir hinterher. Immerhin ist er jetzt still. Vor meinem Hauseingang halte ich an und drehe mich wieder herum. Ausgeschlossen, ihn mit rauf zu nehmen, nach Hause. Nach Hause, das klingt nach mehr als zwei Räumen hinter einer Tür, in deren Schloss der Schlüssel in meiner Tasche passt, und einem Klo halbe Treppe mit Extraschlüssel. Ausgeschlossen! Meine ganze Wohnung würde nach Schnaps stinken. Der könnte mich ausrauben. Vergewaltigen. Umbringen. Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, sagt der Kapitän außer Atem, sein Megaphon baumelt am Ende seines rechten Armes. Jannes würde mich für verrückt erklären. Ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich keinen Job habe, noch immer keinen, dass ich einfach gegangen bin. Vielleicht hätten sie diesmal was gehabt. Liebe Frau Winter, ich freue mich, ihnen mitteilen zu können, dass... – ja, was? Neben der Toilettentür steht ein auseinander klaffender Karton von Müllermilch, darin Leergut. Der Kapitän legt seine Flasche dazu. Ich schließe die Tür auf, ziehe den Reißverschluss an meinen Stiefeln nach unten, der Kapitän bindet seine Schuhe auf, abgewetzte löchrige Turnschuhe, und stellt sie neben die Tür. An Montagen muss es eine Richtung geben, sage ich, eine Richtung, die man den eigenen Füßen verordnen kann, wenn sie selbst keine finden, vor sich hin treten, X-Beine, O-Beine, die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor das rechte. Der Kapitän zwinkert. Tee, sage ich und gehe in die Küche, setze einen Topf in die Dusche, drehe das Wasser auf. Tee ist immer gut. 33 Text von Udo Tiffert Bilder von Anna-Maria Kokott 34 frauke und hans im glück Frauke war mit ihren beiden Töchtern in eine Großstadt gezogen. Ihr Mann hatte auf Montage in Süddeutschland eine noch aufregendere Frau kennengelernt, mit der er inspirierende Radtouren am Ufer des Bodensees unternahm. Es hatte Frauke sehr überrascht, daß ihr Mann das Adjektiv »inspirierend« benutzte. Von da an war ihr Mann nicht mehr alle 14 Tage zur Familie gekommen, sondern alle sechs Wochen. Sie bat den Mann, es gänzlich zu lassen. Der Mann sandte per SMS ein knappes „Okay“. Frauke trat aus ihrem gemeinsam gebauten Haus, ging einige Schritte, um es mit Abstand zu betrachten. Dann rief sie ihren Bruder, den Makler an. Ein Haus, direkt am FlämingSkate verkaufte sich leicht. Ihre Töchter warfen, als das Wort »Berlin!« fiel, alle Bedenken in den tiefsten Brunnen des Dorfes. Bruder hatte mit Kungelpartnern in Berlin eine 3Raum-Wohnung in Treptow aufgetan. Drei Frauen, drei Zimmer, wobei die jüngere, zwar 18 Jahre alt, immer noch kleine Plüschtierchen an die Schulmappe band. Frauke lernte in Onlineforen Männer kennen. Obwohl 90 Prozent der eingehenden Meldungen gräßliche Aufdringlichkeiten von betrunkenen Ausgewachsenen, kindischen Jugendlichen oder einer Mischung von beiden waren, traf sie sich mit einem, der Dummheit und Trophäensammeln entweder gut verbarg oder vielleicht … Zeit, dem Leben ein Stück entgegen zu gehen. Sie verließ ihre Töchter für diesen Abend in einem dunkelblauen, knielangen Rock, trug ihr Haar offen. Bereits mehrere Männer hatten ihr gesagt, daß sie das offene Haar völlig verändere: Eine attraktive, gestrenge Lehrerin übergösse sich mit noch mehr Weiblichkeit, exponentiell geradezu. Ein Café, in dem leise Eros Ramazotti lief. Nickname „Reiner Maria“ hieß in Wirklichkeit Robert. Sie redeten 20 Minuten miteinander. Frauke konnte sich des Eindrucks nicht mehr erwehren, daß er darin einige Übung besaß. Sie ging auf die Toilette, band vor dem Spiegel ihr Haar zusammen. An den Tisch zurückgekehrt und in Ruhe Platz genommen, sagte sie: „Das war sehr interessant, Robert. Vielleicht beschreiben Sie mir das ganze nun noch einmal mit ihren eigenen Worten?“ Noch während sich Robert erhob, begann sein Ohrstecker zu rosten. Er drehte sich weg, lief federnd auf den Ausgang des Cafés zu und sagte zur Tür: „Scheiß Emanze, blöde Lesbe!“ Kein Problem, dachte Frauke auf dem Heimweg. Ihr Mann und die Schickse haben an ihrem Bodensee bald ausgeradelt und dann kommt er zurück. Dann steht er von Reue begossen in der Tür und sagt: „Frauke, ich war ein Idiot!“ Lange kann es nicht mehr dauern. Kein Grund, sich bis dahin mit Roberts abzugeben. Frauke begegnete Hans im Glück im Treppenhaus. Hans trug die Latzhose einer Kabel-und Antennenfirma am Leib, pfiffige Gutmütigkeit im Blick. „Haben Sie kurz Zeit?“ sprach Frauke ihn an, „ich möchte eine DVD ansehen, aber … geht nicht.“ Hans zog im Flur seine Turnschuhe aus, ging ins ihm angewiesene Zimmer, überprüfte die Kabellage. Danach sah es aus, als fehlten nun zwei, drei Kabel, aber alles funktionierte! „Toll, toll“, sagte Frauke, „was macht das?“ „Diese Radierung hier ist sehr schön“, sagte Hans, zeigte auf einen Rahmen an der Wand, hatte seine Arbeit vergessen, „machen Sie so etwas selbst?“ Text von Udo Tiffert Bilder von 35 der beschluß des königs Text von Till Bender Bilder von Jeannine Mahrholz 36 „Nein, habe ich der Künstlerin abgekauft.“ „Ach so. Ja, auch wenn’s viel Geld war, ist es das wert.“ Frauke staunte nicht schlecht, was Kabel-und Antennenmonteure in Berlin so auf dem Kerbholz haben. „Also, was bekommen Sie?“ „Mama, wir haben kein Brot mehr!“ rief die ältere Tochter aus der Küche. Mama schaute in die Küche, betrachtete diesen Teil ihrer Nachkommen, entschied sich nach einer langen Sekunde für: „Geh welches kaufen, dann haben wir wieder Brot.“ Hans hatte in der Zeit ihren vom Kopf in die Küche gedrehten, entblößten Hals gesehen, dunkles, vereinzeltes Haar am Blusenkragen. „Ein Kaffee wäre nicht schlecht“, sagte er. Frauke nahm ihn in den Blick, die Tochter in Gedanken. „Ich mache einen.“ „Ich muß los“, sagte Hans, „noch ein Auftrag in der Buschallee“, hielt ihr einen weißen Zettel und Stift hin. Frauke nahm beides, notierte ihre Telefonnummer, „Oh, ein Date!“ sagte sie dabei belustigt, gab ihm Zettel und Stift zurück. „Es wird ein sehr gutes Datum“, sagte Hans leise mit traurigen Augen, die einen geraden Blick hielten. Dann beugte er sich zu seinen Schuhen, zog sie an, ging. Kehrte zurück, fragte in den Türspalt: „Wie heißt Du?“ „Frauke.“ „Komischer Name.“ „Und Du?“ „Hans.“ „Hans – is okay.“ Vorfreude schloß die Tür. Vorfreude hüpfte Stufen hinab. Hans rief an, sie trafen sich im selben Café, nahmen an einem anderen Tisch Platz. Hans erzählte von einem Gutachten, das besagte, daß Amerikaner während ihres Lebens durchschnittlich an 13 verschiedenen Wohnorten in acht Berufen arbeiten und daß dies auf ihn ebenfalls, so ungefähr, zuträfe. Frauke berichtete vom weniger aufregenden Leben im Flämingdorf, und daß sie dieses Leben gerne weitergeführt hätte, wäre dem Vater ihrer Töchter nicht etwas anderes eingefallen. „Du hast zwei Töchter?“ „Die in der Küche war die ältere …“ „Wir werden uns immer viel zu erzählen haben“, sagte Hans, lehnte sich zurück. Da ziehen sich die Männer zurück, das wußte Frauke, seine Fröhlichkeit war nur Ablenkung. Na gut, ich hab auf einen Robert verzichtet. Ohne Hans kann ich auch. Zurückgelehnt sagte Hans: „Ich wollte eigentlich an jedem Ort, an dem ich war, auch immer bleiben … naja, wurde aber nichts.“ Sie gingen bis an Fraukes Haustür. Sie trennten sich mit einer flüchtigen, hölzernen Umarmung. „Gerne wieder“, sagte Hans. „Finde ich auch“, sagte Frauke, fragte sich nachher nicht, ob das zu viel oder zu wenig gesagt war? Drei Abende später, anderes Café am See oder Kanal, sagte sie ihm, daß eine Tochter bei einer Freundin schlafe, die andere auf Klassenfahrt sei. Da hielten sie sich nicht an der Tür auf. Erklommen die Treppe. Küßten sich lange beim oder nach dem Jackenanhängen, küßten später im Liegen weiter, zogen einander aus. Spürten außer Sehnsucht und verstandesfreier Lust auch Fremdes zwischen sich. Nach tiefem Schlaf trieben sie es erst morgens. Fünf Wochen später fragte Frauke in die Dunkelheit: „Wann wirst Du weiterreisen, Reisender?“ Hans fragte: „Wann wirst Du aufhören, auf die Rückkehr des Vaters Deiner Töchter zu warten?“ Die Stille leerte sich, fror am Laken. Die Stille füllte sich wieder. „Wenn wir es beschließen“, sagte Frauke. Die allein in Frage kommende literarische Form für eine Geschichte über Liebestöter ist das Märchen: In Wirklichkeit ist es auch in den schwärzesten Tagen der Geschichte keinem solitären Finstermann und keinem lebensfeindlichen bürokratischen System je gelungen, die Liebe zu töten. Aber im Märchen kannst du das natürlich machen. Jock Waffelbäcker: Erinnerungen or langer, langer Zeit, da herrschte in einem fernen Land ein König, der war der glücklichste Mann auf Gottes Erde. Seine Untertanen waren treu und fleißig, seine Soldaten waren tapfer, seine Generäle klug, und noch klüger waren seine Minister und Räte. Sein Reich war gesegnet mit hohen Wäldern, fruchtbaren Äckern, fischreichen Seen und Flüssen, und unter den Bergen hinter den Äckern und Wäldern ruhten kostbare Erze. Das Wenige, was sein Reich nicht hervorbrachte, erwarb er durch friedlichen Handel mit den Nachbarkönigreichen – seine Minister und Räte waren so geschickt im Aushandeln von Verträgen, daß sich der König auf die Tapferkeit seiner Soldaten und auf die Klugheit seiner Generäle nur selten verlassen mußte. Aber all das waren bloß gedeihliche Umstände, nichts als Beigaben, die das Glück des Königs wohl schmückten, aber nicht ausmachten. Das Glück des Königs, das ihm Tag für Tag aufs Neue wurde, das Glück seines Lebens, das war seine Königin. Und das ganze Volk nahm daran Anteil, und alle freuten sich seit Jahr und Tag am Glück des Königs. Der Schmied sagte: „Sie sind wie Hammer und Amboß“, und der Böttcher sagte: „Sie sind wie Dauben und Faßreifen“, und der alte Torfstecher sagte: „Sie gehören zusammen wie Blatt und Stiel meines Spatens, und so hat es seine gute Ordnung.“ Der Lehrer aber erklärte den Kindern: „Unseren König und unsere Königin, die hat der liebe Gott füreinander gemacht.“ Und so war es auch dem König und der Königin: Sie liebten einander von Herzen und waren eins. Den König hatte man, als er ein Knabe war, das Musizieren gelehrt, und wenn er abends die Laute schlug, rührte das die Königin, und sie erfand eine Melodie zu seinen Harmonien. Was für den König die Musik, war der Königin die Malerei, und es verging keine Woche, ohne daß irgendein hingebungs- und hoffnungsvoller Künstler ihr ein prächtiges Ge- mälde als Geschenk übersandt hätte, um ihr eine Freude zu machen und um sich sagen zu können: „Sieh an, sieh an, meine Mühen beginnen doch Früchte zu tragen – die Königin selbst besitzt nun eines meiner Bilder.“ Der König verstand nichts davon, aber er wurde nicht müde, seiner Gemahlin zu lauschen, wenn sie ihm von all dem erzählte, was sie auf und in und hinter den Bildern sah, und er verwunderte sich sehr, denn er sah meistens nichts von alledem. Und er war sicher, daß die schönsten Bilder der Welt die waren, die seine Königin im Schloßgarten malte. Er erzählte ihr seine lustigen Anekdoten, die stimmten sie fröhlich, sie trug ihm leise ihre Verse vor, die stimmten ihn nachdenklich. Nach dieser Weise verbrachten sie ihre Tage und so – ihre Nächte. Von Zeit zu Zeit aber ritt der König ganz für sich in die hohen Wälder zur Jagd, und dann ritt die Königin ganz für sich durch die Felder und Auen. Sie hatten die Wahrheit des Wortes erkannt: „Es ist nicht gut, daß der Mensch nie allein sei.“ In der ersten Augustwoche war es wieder Zeit für das große Turnier und die Kirmes, und wie jedes Jahr strömten die Menschen von nah und fern in Scharen zusammen, vor dem Schlosse ihres Königs drei Tage und drei Nächte lang zu feiern. Oh, was war das für ein buntes Treiben! Händler boten in ihren Zelten und von ihren Wagen herab allerhand Gerätschaften, Schmuck, und Kleider feil, andere Naschwerk und Spielzeug für die Kinder. Gaukler, Musikanten und Wundertäter ohne Zahl suchten jeder auf seine Weise, ihr Publikum zu verführen, und die Leute schauten und staunten und kauften und ließen sich verführen. Und der König und die Königin schritten durch die Menge, und wo sie vorüberkamen, verneigten sich die Menschen, und der König und die Königin winkten ihnen freundlich zu, wie es seine Ordnung hatte. Da geschah es, daß der König hörte, wie eine Frau zu ihrem Mann sagte: „Mann, laß uns doch zu jenem Bauern dort gehen, der Kirschen verkauft. Du weißt, wie gern ich Kirschen habe.“ Und der Mann antwortete: „Was soll das, Frau? Du weißt, Kirschen sind mir abscheulich – sie sind zu rot und zu süß. Oder zu sauer. Laß uns lieber dorthin gehen: Da werfen die Männer Eisen auf einen Stock. Ich will ihnen zeigen, wie geschickt ich bin.“ Drauf die Frau: „Was soll das, Mann? 37 38 Immer willst du allen zeigen, wie geschickt du bist, und das, was du dabei hauptsächlich zeigst, ist, wie sehr du es zeigen willst.“ Und beide gingen nirgendwohin und machten harte Gesichter. Ein Stück weiter hörte der König eine andere Frau zu ihrem Mann sagen: „Schau, hier wird mit Würfeln gespielt, und wem sie glücklich fallen, der kann ein Ferkel gewinnen. Laß uns ein Hazardspiel wagen.“ Drauf der Mann mit gestrenger Miene: „Eine Schande wär’s! Wir haben wenig und dürfen das Wenige nicht aufs Spiel setzen in der vagen Hoffnung auf einen Gewinn. Wir werden stattdessen Kirschen kaufen für das Geld.“ 39 Nach ein paar Schritten hörte der König einen Mann, der zu seiner Frau sagte: „Laß uns in dieses Zelt gehen: Darin sitzt eine Frau, die kann in ihren Karten das Schicksal der Menschen lesen. Ich will doch einmal wissen, was die Zukunft für uns bereithält.“ Die Frau schüttelte bestimmt den Kopf: „Ich will’s nicht wissen. Wenn’s was Arges ist, was soll ich mich schon jetzt darüber grämen. Ist’s aber was Gutes, so will ich nicht die Zeit bis dahin mir Warten vertun. Und überhaupt wäre es mir lieber, du wünschtest dir weniger, daß dir jemand zeigt, was wird, und zeigtest häufiger, was du kannst.“ Der König aber wurde sehr traurig und war ganz still drei Tage lang, und er versank so tief in Gedanken, daß er das Spektakel der Reiterspiele kaum bemerkte. Am Morgen des vierten Tages rief er all seine Minister und Räte zusammen und sprach: „Ich habe mich eines schweren Vergehens schuldig gemacht. Ich habe mich so sehr um das Wohl des Reiches gekümmert, daß ich darüber versäumte, auch auf das Wohl der Menschen zu schauen. Das darf ein König nicht versäumen, und so will ich es wiedergutmachen. Es gibt kein größeres Glück für einen Mann, als eine gute Frau zu haben, das größte Glück für eine Frau ist ein guter Mann, und großes Unglück wartet auf jene Paare, bei denen eins nicht recht zum anderen paßt. Ich will nun aber dafür Sorge tragen, daß es bald nur noch glückliche Paare gibt.“ „Unser König“, riefen die Minister und Räte, „das käme einem Wunder gleich. Sagt uns doch, wie Ihr so etwas bewirken wollt!“ wünschten den König zu seinem hellsichtigen Entwurfe, und noch zur selben Stunde machten sie sich daran, ihn auszuarbeiten und in die Tat umzusetzen. Bald ritten die königlichen Boten durchs Land und nahmen alles gewissenhaft auf, was die Menschen waren und wen sie sich wünschten. Hier und da trafen sie einen Mann, der sich einen Mann zum Manne wünschte, oder eine Frau, die eine Frau zur Frau wollte, und da fragten die Boten bei den Ministern und Räten nach, was sie in solchen Fällen tun sollten. Die Minister und Räte fragten den König. Der König bedachte sich kurz und antwortete: „Das ergibt sich aus der Sache selbst.“ Und bevor das Jahr um war, waren die ersten glücklichen Paare getraut. Das Volk pries seinen König, und dem König und der Königin war es eine Freude. ch will Boten aussenden durchs ganze Land, in jedes Dorf, die sollen jeden jungen Mann und jede junge Frau in meinem Reich aufsuchen, und alle sollen sich erklären im Großen wie im Kleinen: wer sie seien und wen sie sich wünschten. Und die Boten sollen alles gewissenhaft aufnehmen und sammeln, und alles soll in großen Büchern zusammengetragen werden. Und wenn dann eine Frau, die gerne Kirschen ißt, einen bescheidenen Mann sucht, können wir ihr in den Büchern einen bescheiden Mann finden, der eine Frau sucht, die gerne Kirschen ißt. So soll es geschehen, daß mein Volk so glücklich werde, wie sein König und seine Königin es sind.“ Eine gewisse Zeit lang bemerkte niemand die Veränderung, die nun im Lande vor sich ging. Es war Winter, und so war es nicht verwunderlich, daß den Leuten die Kälte unter die Haut kroch, und man schob das auf den eisigen Wind, der von den Bergen im Norden herabwehte. Ein Wort war plötzlich in aller Munde, das vorher kaum jemand gekannt hatte: „Partner“ hieß es und klang anfangs noch ein wenig nach Kaufmannssprache; Eheleute oder Paare waren jetzt Ehe- oder Beziehungspartner. Das Wort traf die Sache ganz gut: Die Partner teilten Interessen und verfolgten gemeinsame Ziele. Man hatte einen Partner, weil man etwas zu bieten hatte. Man hatte ihn für das, was man zu bieten hatte. Das war jetzt Liebe – Ware und Währung zugleich. Es war ein Elend. Der König verließ sein Schloß nur noch selten. Die vielen reibungslos funktionierenden Partnerschaften im Land verstand er nicht. Sein Reich war ihm fremd geworden. Und die ganze Sache wäre gewiß schlimm ausgegangen, wenn nicht nach sieben Jahren drei Wanderer vor dem Tor des Schlosses gestanden und Einlaß begehrt hätten: eine rußige Köhlerin, ein alter einbeiniger Soldat und ein verstummter Sänger. Die haben das Land gerettet. Die Minister und Räte staunten und verwunderten sich ob der Kühnheit des Plans, und sie applaudierten und beglück- Und wer’s nicht glauben will, der soll sich ein anderes Ende ausdenken. 40 welten Jenny ist immer allein. Besonders am Montagmorgen. Denn da kommen fünf lange Tage, an denen Thomas nicht bei ihr ist. Vielleicht ist er ja krank und bleibt zu Hause? Doch Thomas geht ganz früh in die Firma. Er sagt: „Ich denke an Dich, vergiß das nicht.“ Ein letzter vertrauter Blick, dann schließt die Tür hinter ihm und ihr bleibt Leon. Gott, wenn sie ihn nicht hätte, was würde sie mit sich anfangen? Schokoladenüberzogene Clusters aus dem zweiten Hängeschrank, erste Reihe links, gleich neben dem Zucker. Milch aus dem Kühlschrank: Sie muß frisch sein. Ein Löffel. Eine Schale. Ein Stuhl. Auf dem Küchentisch liegt eine Einverständniserklärung, unterschrieben von Thomas. Ach so. Sie vergaß: Leon fährt mit dem Kindergarten in den Zoo. Sie beißt in einen Apfel, legt ihn aber gleich in den Mülleimer. Es schmeckt bitter. Thomas ist fort, und das macht ihr Angst. „Und, freust Du Dich schon auf den Ausflug?“ „Gibt es dort auch Tiger, Mami?“ „Bestimmt.“ „Ich möchte auch einen Tiger.“ „Aber der ist doch viel zu groß für die Wohnung.“ „Dann aber einen Hund … oder einen sprechenden Papagei!“ „Mal sehen, vielleicht holen wir uns eine Katze. Katzen sind kleine Tiger.“ „Echt?“ „Hm.“ Leon löffelt die letzten milchgetränkten Teigkrümel aus der Schale. Er mag Tiger. Es ist ihr Sohn, ihr Kind, sie liebt ihn! „Möchtest Du noch was?“ fragt Jenny und zeigt mit beiden Händen auf die Schale. Leon schüttelt den Kopf; um seine Lippen clustert und milcht es. Jenny nimmt die Schale und stellt sie ins Spülbecken. Aufwaschen! Nachher. Und keine Ausreden! Die Milch kommt zurück in den kalten Kühlschrank, die Clusters in den zweiten Hängschrank, erste Reihe links, gleich neben den Zucker. Dann muß Leon los. Er freut sich. Es muß ihr gelingen zu lächeln. Wenigstens kurz. Sie zieht ihm den khakifarbenen Anorak an, nicht den blauen. Denn Text von Ronny Ritze Bilder von Marlen Mahrle Blau für kaltes und stürmisches Wetter, Khaki für mittelmäßige Temperaturen. Heute ist mittel. „Deshalb heißen Katzen auch Stubentiger.“ „Echt?“ „Hm.“ Die Uhr zeigt viertel neun. Handy dabei? Zigaretten? Wohnungsschlüssel? Sie öffnet die Tür und schiebt den eingepackten Leon in den Flur. Auf dem Weg nach unten ist es wirklich mittel heute, Thomas hat recht gehabt. „Ich male Dir mal einen Tiger“, schallt es durch das Treppenhaus. „Ach, verdammt! Warte.“ Jenny hastet die Stufen wieder nach oben, zurück durch die Tür, in die Küche und schnappt sich die Einverständniserklärung. Leon steht noch unten. Gott! „Hab nur was vergessen.“ „Ich weiß, Mami.“ Es sind zehn Minuten bis zum Kindergarten: Durch den kleinen Park mit dem breiten Ahorn, über die Kreuzung mit der Ampel und dem chinesischen Imbiß gegenüber, rechts in die Seitenstraße mit dem sanierten Flachbau, in dem sich der Kindergarten befindet. Leon mag nicht an ihrer Hand laufen. Sie kommen am Ahorn vorbei. „Paß auf! Die Autos!“ Er nimmt doch lieber ihre Hand. Der Chinese hat heute schon früh geöffnet und steht grinsend hinter seiner Theke, auf der die mäßige Speisekarte mit den asiatischen Ornamenten abgebildet ist. Aber das ist so was von egal! „Und denk dran! Nicht wieder so schmutzig machen!“ „Ach, Mami.“ Ab nach rechts. Flaches Haus. Grau. Sonnenblumen im Fenster. Leon wieder aus dem Anorak pellen. Er mag es nicht, wenn sie das tut, rennt sofort zu seinen Freunden. „Er will nicht mehr, daß man ihm hilft“, sagt die Betreuerin lächelnd und reicht Jenny die Hand. „Er ist so ein aufgeweckter Junge!“ Gott, ist die Frau belastend. So eine Schreckschraube! „Hm.“ Sie übereicht die Erklärung und geht. Es ist kühler geworden. ... Der Chinese sieht eigentlich immer fröhlich aus. Was, wenn Leon nicht wiederkommt? Oder auf dem Weg zum Zoo etwas 41 passiert? Der Chinese sieht aus, wie ein schwarzes Ungeheuer hinter flammenden Drachen. Die Ampel zeigt Rot. Verdammt. Die Autos donnern vorüber und ziehen grauen Dunst nach. Es sind elende sechs Stunden, bis sie Leon holen kann. Von allen Seiten vibriert die erwachende Stadt, hämmert die Eintönigkeit auf sie ein. Dazu knallt grelles Sonnenlicht auf den grauen Bordstein und das ekelhafte Ozon dringt in die Nase. Bitte, werde grün … na endlich. Sie beschleunigt den Schritt und rennt fast durch den Park. Der Baum steht wie ein verlorenes Kind auf dem blaßgrünen Teppich. Unbedingt Thomas anrufen, wenigstens eine Minute mit ihm reden. Wieder in die Wohnung. Sie schließt die Tür, lehnt sich mit dem Rücken an sie an und starrt nach oben. Sachen ausziehen oder doch lieber anlassen? Was kann man um diese Uhrzeit denn schon anfangen? Chatten vielleicht? Dann ist sie wenigstens virtuell nicht allein. Es ist still, der Flur kalt und verlassen. Nein. Sie dreht um, reißt die Tür auf und läuft nach unten. Erst einmal eine Zigarette. Nach links und ein wenig spazieren, oder nach rechts zur Haltestelle? Sie fährt mit dem Bus. Nichts wirkt beruhigender. Hauptsache sie bekommt keinen Anfall. Sie hatte noch nie einen Anfall im Schutz der Öffentlichkeit. Doch irgendwann ist immer das erste Mal. Es geht. Sie wird ruhiger. Die anderen Fahrgäste schauen sie gelegentlich an. Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt muß sie in die Linie Blau steigen. Um zwölf gibt’s bei Mutter Mittag. Punkt Zwölf, wie schon seit sieben Jahren. Jenny nimmt den Fahrstuhl zur Zweiraumwohnung im fünften Stock. Bleib still, sag nichts! Mutter steht in der Küche. Mutter sitzt am Stubentisch. Hering und Kartoffeln. „Geht’s, Schatz?“ „Hm.“ „Sicher?“ „Laß mich.“ Mutter versucht, freundlich auszusehen. Sie wird es gleich noch einmal versuchen, wenn sie Jenny an dem häßlichen Kupferstich im Flur vorbei zurück zur Tür begleitet. Das Bild zweier Holzfäller. Es stammt aus dem Erzgebirge. Der Mann, der Mutter geschlagen hat, den Jenny mochte und vor dem sie Angst hatte, wenn es Nacht wurde, ist lange fort. Sein Kupferstich ist aber noch da. „Melde dich heute abend! Ja, Schatz?“ „Mutter!“ Die alte Frau lehnt im Türrahmen, ihre Augen müde vor Kummer. „Und lieben Gruß an Thomas.“ „Wie immer.“ Jenny geht zur Brücke. Es ist noch kühler geworden. Außerdem hat der Wind zugenommen. Sie bleibt in der Mitte der Brücke stehen und schaut mit verschränkten Armen in die Tiefe. Unten treibt ein Kahn auf dem dunklen, sinnlosen Rinnsal unter der Überführung hindurch. Der schwarze Rumpf schiebt kleine Wellen vor sich her. Dann ist nur noch das Ende des Bootes zu sehen, schließlich gar nichts mehr. Bis runter sind es vielleicht dreißig Meter. Der Wind haucht ihr lieblos um die Nase. Allein. Allein. Sie drängt sich als schmerzliche Bewußtheit auf, die Angst vorm Verlassenwerden. Was hat sie jetzt schon wieder falsch gemacht? „Wenn du denkst, es geht nicht mehr …“ unterbricht eine vertraute Stimme in ihrem Rücken. Früher war Marika anders. Sie kennt sie schon seit der Schule. Beide hatten sich um einen Jungen gestritten, dann wurden sie beste Freundinnen, gingen zusammen das erste Mal in die Disko, tranken und feierten das erste Mal, machten zusammen den Führerschein. Schließlich hatte Jenny ihr alles erzählt, alles, was sie bis dahin verschweigen mußte. „Kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, ergänzt Jenny und dreht sich um. Ihre Haare spielen im Wind. „Was machst du denn hier?“ Marika streichelt sie am Arm und legt den Kopf zu Seite. „Hey, komm.“ Jenny weicht zurück. „Nein.“ Jenny starrt Marika wütend an. „Was machst du hier?“ „Du weißt doch …“ Jenny verdreht die Augen. Warum muß Marika ihr immer folgen? Sie kann sie irgendwie nicht mehr ausstehen. Gerade in den Momenten, wenn sie Jenny daran erinnert, daß sie krank ist. Daß sie ständig Angst hat und sich verloren fühlt. Daß der Arzt gesagt hat, sie könne kein normales Leben mehr führen. Immer dann ist Marika so fremd wie nie. „Komm. Wir gehen Leon holen und dann nach Hause.“ Jenny ist immer allein, seit sieben Jahren schon, seit Borderline wie ein unliebsamer Freund in ihr Leben trat. Jetzt senkt sie den tränengefüllten Blick auf ihre Füße herab. Marika legt einen Arm um ihre Schulter. Sie laufen schweigend zurück. Morgen geht es weiter. …, als die milch 42 Kurz nachdem die Postfrau geklingelt hatte, stürzte die Milch um und rann an den Tischbeinen zu Boden. Großmutter ballte ihre rechte Hand, die auf dem Rockschoß ruhte, mit Entschlossenheit zur Faust, so daß die Haut unter ihrem goldenen Ring hervorquoll. Vater nahm, während sie von Mutters letztem Durst sprach, ungeduldig vom Hackfleisch und bestrich damit eine Scheibe Brot. Er begann zu kauen, noch ehe wir saßen. Seine linke Hand lag beim Essen reglos auf dem bunten Wachstischtuch. Unser Haus war das vorletzte im Ort. Hinter dem Gartenzaun begannen die Felder. Dort, wo sich oben auf dem Hügel die Winde kreuzten, stand eine alte Bockwindmühle. In der Nacht, bevor die Milch umfiel, fuhr ein Sturm hinein und stieß sie um. Mein Bruder und ich kletterten am nächsten Morgen über den Mühlstein und die zerbrochenen Holzflügel. Plötzlich gab eines der morschen Bretter nach und Jakob brach ein. Als er den Fuß aus dem Loch zog, blieb sein Schuh darin stecken und er mußte auf einem Bein nach Hause hüpfen. Seine purpurrote Socke sah aus wie die Pfote eines verletzten Fuchses, der sich aus einer Falle befreit hatte. Daheim sagte mein Bruder: Nele ist schuld. Vater gab mir eine Ohrfeige und Großmutter schimpfte: Ihr gehört ins Kinderheim. Das heiße Seifenwasser im Eimer hatte ich kalt werden lassen. Später hörte ich, wie Großmutter mit dem Scheuerlappen hinter der Tür wischte und schwer atmete. Sie hatte lange nach mir gerufen. Auf dem Weg ins Haus faßte Vater mit Daumen und Zeigefinger das einzelne lange Haar, das mir auf der rechten Wange wuchs, und versuchte, es mit einem Ruck auszureißen. Ich hatte vergessen, es mit der Hand vor ihm zu verbergen. Es ist hartnäckig, sagte er. Später, als ich vor dem kleinen Spiegel im Badezimmer stand und es mit einer Pinzette ausrupfte, spürte ich noch immer seine rauen Finger auf meinem Gesicht. Die spätherbstliche Kälte hatte sie aufplatzen lassen und unter den Nägeln lagen schmale, schwarze Halbmonde. Die Briefträgerin kam leise wie der erste Schnee. Da sie als einzige im Ort ein Telefon hatte, war sie immer die erste, die von Todesfällen erfuhr. Als sie sich aufmachte, uns heimzusuchen, ging ein Raunen durchs Dorf. Verstohlene Gesichter unter Kopftüchern wandten sich den Höfen zu und fahrige Hände wühlten in Schubfächern nach vergilbten Beileidskarten. Als es klingelte, hörte bei uns das Kauen und Schlucken auf. Vater sprang auf und stieß an den Tisch. Dabei fiel die Milch um. Kurz bevor die weiße Lache die Tischkante erreichte, sperrte mein Bruder den Rachen auf und sog sie schlürfend ein. Ein Teil rann an seinen Mundwinkeln vorbei und tropfte auf den Boden. Nun mied sie mein Zimmer und schluckte ihre Bitterkeit herunter. Ich stülpte mir ein Kissen über den Kopf, hielt die Luft an und wartete, bis sie fertig war. Als ich sah, wie sie den Eimer im Hof ausleerte, begann ich wieder zu atmen. Das Blut pulsierte in meinen Schläfen. Ich kauerte mich auf den Boden und versuchte, mich auf das Muster des Teppichs zu konzentrieren, bis alle Geräusche von draußen verebbten. Als die matte Sonne hinter dem gegenüberliegenden Hausdach verschwand, fror ich. Nach dem Mittagessen lasen wir das letzte Fallobst auf. Es roch vergoren im feuchten Gras. Vater rief mehrmals den Namen meines Bruders, dessen Fenster zum Obstgarten hin lag. Obwohl Jakob kurze Zeit später unter den Bäumen auftauchte, verstummte Vater nicht. Es schien, als schleuderte er seinen Zorn jemandem am Horizont entgegen, der ihn unentwegt beleidigte. Meine Augen tränten vom kalten Wind und ich konnte in der Ferne niemanden erkennen. Ein Apfel fiel herunter und traf mich mit einem dumpfen Schlag am Rücken. Ich fingerte ohne aufzusehen weiter im Gras. Meine Hände wurden klamm. Später, als ich warmes Wasser darüber laufen ließ, tobten Nadeln über sie hinweg. Nachdem Vater die Postfrau mit einem stummen Nicken verabschiedet hatte, sagte er: Jetzt verfallen wir. Von Mutter, die nun unter einem weißen Tuch in einem kühlen Raum lag, schwieg er. Ich malte mir aus, wie die Mülleimer überquellen und das schmutzige Geschirr sich in die Höhe türmen würde. Großmutter stöhnte, während sie mit der Hand ihren Mund bedeckt hielt. Ich warf mich auf den Boden und wälzte mich greinend herum. Vater fand mein Verhalten kindisch. Als ich aufstand, war mein Haar ganz mit Brotkrumen und Milch verklebt. Später versuchte ich mich zu erinnern, ob es ein Zeichen gegeben hatte. Einen Wink, noch bevor es klingelte, Vater an den Tisch stieß und die Milch umfiel. Doch ich hatte kein Stechen in der Brust und keine nahende Ohnmacht gespürt. Nur den ziependen Schmerz, als Vater mir das peinliche Haar auszureißen versucht hatte. Das war am späten Nachmittag gewesen. Die Tasse, auf die Mutter im Krankenhaus mit den Augen gedeutet hatte, erwähnte Großmutter erst, nachdem sich am nächsten Morgen unsere Blicke wieder an einander gewöhnt hatten. Mutter sei bereits sehr schwach gewesen und hät- 43 44 Text von Kathrin Franke Bilder von Anke Manske te großen Durst verspürt, sagte sie. In der Kammer, in die man sie geschoben hatte, gab es keine Fenster. Daß es dort dunkel war, wenn man die Tür schloß, verbaten wir uns zu denken. Vater sprach stattdessen von den Tieren: Wenn ein Löwe ein junges Zebra reißt, dann steht das Muttertier nur kurze Zeit unter Schock. Bereits nach wenigen Minuten hat es den Tod vergessen und grast wieder. Die Tiere sind klüger als die Menschen, erklärte uns Vater. Sie trauern nicht, sondern leben einfach weiter. Mutters Fingerkuppen waren von feinen, bräunlichen Hautritzen durchzogen, die das Messer beim Obstschälen und Gemüseputzen eingraviert hatte. Manchmal schabte sie mit einem Teelöffel das Fruchtfleisch aus den Kammern einer halbierten Pampelmuse und steckte es meinem Bruder und mir abwechselnd in die aufgesperrten Münder. Das Metall schlug leicht an unsere Zähne, während Mutter leise seufzte, weil die Säure der Frucht die frischen Wunden an ihren Händen ätzte. Neben der kleinen, tiefblauen Mundwasserflasche im Badschrank stand immer eine Blechdose mit GlycerinHandcreme. Mit dem rechten Zeigefinger rührte Mutter jeden Abend einen Stamm Kefirpilze durch ein Plastiksieb und fing die dickliche Flüssigkeit mit einem Metalltopf auf. Dann spülte sie die weißlichen Knöllchen mit kaltem Wasser ab, schüttete sie zurück ins Glas und goß frische Milch darauf. Als wir die Pilze ins Klo kippten, sagte Großmutter, sie hätten Mutters Organe zerfressen. Sie sieht besser aus als beim letzten Mal und das ist tröstlich, flüsterte Vater. Mutter lag im Sarg hinter einer Glasscheibe und wurde von lilafarbenem Neonlicht angeleuchtet. Großmutter hatte den Bestatter angewiesen, man solle die weiße Spitzendecke im Sarg mit Usambaraveilchen schmücken. Ich versuchte, unter den Blüten Mutters Hände zu erkennen. Sie waren gefaltet. Jemand beschwerte sich über die gläserne Trennwand, die eine Distanz zwischen der Toten und den Hinterbliebenen erzeugte. Der Bestatter entschuldigte sich höflich und meinte, er müsse die Hygienevorschriften einhalten. Ich war insgeheim froh über die Scheibe, weil ich mich vor dem toten Körper fürchtete. Nach einer halben Stunde raunte der Pfarrer: Bitte nehmen Sie jetzt Abschied. Ich wußte nicht, wie man von einer Toten geht und schloß die Augen. Jakob stieß mich in die Seite und zischte, ich solle nicht so heilig tun. Als wir aus der Leichenhalle traten, schneite es. Wir stapften eine Weile ziellos auf dem Friedhof umher. Dann fuhren wir nach Hause. 45 Als Mutters Sachen begannen, muffig zu riechen, eröffnete Vater den Kampf gegen Schimmel und Milben. Er versuchte, unseren Verfall aufzuhalten, indem er ihre Kleider aus den Schränken nahm und in blaue Mülltüten stopfte. Ich machte mich der Fledderei schuldig, weil ich die Säcke heimlich öffnete und einige Sachen anprobierte. Sie hingen schlaff an mir herunter. Dann legte ich mir die opulenten Perlenund Holzketten um, mit denen Mutter die halbmondförmige Narbe an ihrem Hals verdeckt hatte. Ich fand Fotografien, auf denen Mutter jung und rebellisch aussah. Auf einem Bild stützte sie sich zupackend auf den Stiel eines Spatens. Sie trug ein T-Shirt, auf dem ein halb geöffneter, breiter Mund prangte. An ihrem herausfordernden Blick erkannte ich, daß Vater sie fotografiert hatte. Zu ihrem Polterabend hatten die Leute aus dem Dorf altes Geschirr, Kloschüsseln und Waschbecken auf das Pflaster im Hof geworfen. Ein Foto zeigte, wie Mutter vor umherspritzenden Scherbensplittern zurückwich. Das war schon die Zeit, als ihre Lippen schmaler wurden und ihr Blick nach innen ging. Sie begann, ihre Gesichtshaut mit fetthaltiger Lotion zu tränken. Unter den fast transparenten Wangen schimmerten haarfeine Äderchen. Einige davon waren geplatzt und bildeten blaue Verwirbelungen auf der Haut. Tante Martha bemerkte anerkennend, Mutter hätte bis zum Schluß auf sich geachtet. Ihre korrekt gezupften Augenbrauen im Krankenhaus belegten das. Von den Augen selbst schwieg sie. Ihre Ungestilltheit lag im schmalen Bereich zwischen den dunklen Augenringen und den Pupillen verborgen. Manchmal schienen ihre Augäpfel hinter einem feuchten Schleier davonzuschwimmen. Auf einem späteren Foto blickte Mutter verschämt und mit einem müden Lächeln zu Boden. Vater knipste sie beim Kartoffelschälen mit Kittelschürze und einer roten Plastikschüssel auf dem Schoß. Bevor sie auf Bildern den Kopf zu senken begann, schrieb sie ihm Briefe, wenn er fort war. Darin berichtete sie, daß die Schrankwand fürs Wohnzimmer eingetroffen war. Die Farbe hatte sie nach eigenem Ermessen ausgewählt, sie würde ihm aber sicher gefallen. Sie informierte darüber, daß Jakob der dritte Zahn wuchs und Großvater 100 junge Hühner gekauft hatte. Sie selbst hätte begonnen, die Gurken sauer einzulegen. Auch die Johannisbeeren wären bald fällig. Manchmal, so schrieb Mutter, fühlte sie eine große Müdigkeit, obwohl es keinen Grund zur Klage gäbe, denn da waren zwei gesunde Kinder, ein großes Haus und ein prächtiger Garten. Neun Monate später, als die Milch längst verschüttet war, drehte Großmutter sich verächtlich um und reiste ohne Gruß ab. Vater hatte uns mitgeteilt, daß er eine Freundin gefunden hätte, die uns eine gute Mutter sein wollte. Ich schaute Großmutter so lange durch die beschlagenen Fensterschreiben nach, bis Vaters Stiefel geräuschvoll auf dem unteren Treppenabsatz schabten. Nachdem er gegen das Geländer getreten hatte, um die Erdklumpen von seinen Sohlen zu lösen, schob er den Dreck ins Rosenbeet neben der Tür. Dünger, wie er sagte. Dann wischte Bärbel die Spuren von der Treppe. Da sie sich vor Bakterien und Mikroben fürchtete, trug sie gelbe Gummihandschuhe. Es gelang mir nicht, in ihren Händen zu lesen. 46 der taxifahrermeinhof-komplex Er stand nun schon seit einer geschlagenen Stunde an dieser gottverfluchten Halte. Es war ein schleppendes Vorrücken gewesen, bis er endlich der erste Wagen in der Reihe leuchtender Taxifackeln war. Und nun stand er in der Pole Position. Die täglich dünner werdende Tageszeitung hatte er schon vor der Mittagspause durchgelesen. Der vorhersehbare Krimi, den ihm seine Freundin zugesteckt hatte, langweilte ihn zunehmend, und so stand er in der Dunkelheit des Savignyplatzes, im Hintergrund lief leise eine schwere RockBallade aus dem Radio. Er nickte ein. „Fahren Sie … fahren Sie mich bitte schnell …“ Er schreckte innerlich zusammen, öffnete trotzdem sanft seine müden Augen und hörte die letzten Silben des zusammenhanglosen Satzes nicht mehr. War das eine Frage oder eine Ansage? Er drehte sich kurz um, blickte in eine gesichtslose Gestalt und lies sich von seiner Spontaneität hinreißen. „Ulrike-Meinhof-Gedächtnisparty oder wat?!“ Er spielte auf ihre perückenartige, glatte, exakt geschnittene Ponyfrisur an und daß sie nachts eine dunkle, eckige 70er-Jahre-Sonnenbrille trug. Sie quittierte seinen scharfsinnigen Wortwitz mit einem verständnislosen Gesichtsausdruck, den er im Rückspiegel und unter ihrer Maske aus Brille, Perücke und Lippenstift nur erahnen konnte. „Fahren Sie bitte los.“ Gequält leise und doch bestimmt klang es nach vorne. Doch eine Ansage. Er startete den Motor, der Wagen schüttelte sich kurz und rollte auf die rote Ampel direkt vor der Halte zu. Er schaltete das Taxameter ein und drehte das Radio leiser, fast lautlos. „Wo darf’s denn hingehen, Gnädigste?“ „Nun fahren Sie doch, biegen Sie rechts ab.“ „Ahm … die Ampel …“ Er zeigte auf das warnend leuchtende Rot. Sie unterbrach ihn, diesmal klang es etwas wirsch. „Biegen Sie schon ab!“ Noch immer etwas schlaftrunken checkte er links die Fahrbahn, weit und breit kein Fahrzeug, also bog er langsam um die Ecke in die Kantstraße ein. „Wo müssen Se denn hin?“ Stille. Er überzeugte sich nochmals im Rückspiegel, ob er auch wirklich einen Fahrgast auf der Rückbank hatte. Die Maskierte blickte sich gerade hastig nach hinten um, dann nach rechts. Plötzlich, halb flüsternd, halb inbrünstig flehend, erreichte ihn ihre zittrige Stimme. „Fahren Sie einfach, einfach fahren, bitte, fahren Sie!“ „Gnädigste, meene Arbeit besteht darin zu fahren … für Jeld, an eenen Ort Ihrer Wahl, den Se kennen und mir mitteilen sollten. Sie ham doch Jeld, oder? Und ’n Ziel ham Se ooch?!“ „Ss, sie verstehen nicht … ich muß doch nur hier weg – fahren Sie mich weg.“ Er wunderte sich über nichts mehr, hatte schon zu viel erlebt in seiner kurzen Karriere als Taxifahrer. Er beschleunigte. „So jeht dit nich, Fräulein. Sagen Se mir doch wenigstens, in welchem Bezirk ihr jeheimes RAF-Klassentreffen stattfindet.“ Regungslos nahm sie seinen Kommentar zur Kenntnis. Nach einer Weile fügte sie leblos an: „Ich muß zu meinem Anwalt.“ „… dacht ick mir schon“, murmelte er und spürte ein wenig aufkommendes Vertrauen zwischen ihm und seiner Kundin. „Dieser Anwalt von Ihnen, hat der ne Adresse?“ Sie schien schon wieder versunken zu sein in einer unendlich scheinenden Schleife aus sich umdrehen, umsehen und hektisch wieder zurückschwenken. „Biegen Sie hier links ab!“ Oh Ulrike, du dominant-mysteriöse Nachtgestalt. „Kaiser Friedrich-Straße, mmh. Am Stutti stand ick vorhin ooch schon. Scheißjeschäft heute. Die Russen sind wohl alle noch im Puff, da guck ick frühestens um dreie wieder vorbei.“ Er blickte nochmals in den Rückspiegel und sah, wie sie in einer Plastiktüte kramte, die er erst jetzt wahrnahm. Sie wirkt verwirrt, dachte er. Verwirrt, erschöpft, gehetzt. Kraß, die Alte wirkt wie ein gejagtes Tier auf Beruhigungsmitteln. Er setzte nochmals an: „Wenn Se mir sagen würden, wohin …“ Sie fing an zu reden, aber nicht mit ihm. „Thomas, hier ist Josefina …“ Doch keene Ulrike, bestimmt ein Codename, wer heißt schon Josefina. „… entschuldige die Störung, aber ich … ich brauche Deine Hilfe.“ Die Person am anderen Ende der Leitung sprach lange mit ihr. Sie wirkte aufgeregt, rutschte auf ihrem Sitz hin und her und blickte sich immer noch unentwegt um. „Danke Thomas, ich, ich …“ Thommy schien sie zu unterbrechen und sie legte ein „Ja, dann bis gleich“ nach. „So, dieser Anwalt, wo hat der denn seine Mitternachtskanzlei?“ „Schöneberg“, kam es abwesend von hinten. Na wenigstens mal ne Antwort. „Schöneberg. Da ham wa aber jetze ’n janz schönen Umweg jemacht, wa! Ick fahr jetze übem Fehrbelliner zurück. Welche Straße denn?“ 47 Sie fingerte in ihrer Tüte, holte etwas Kabelartiges hervor, warf es wieder zurück. Er mußte sich wieder auf die Fahrbahn konzentrieren, hörte aber wie sie den automatischen Fensterheber bedienen wollte, erst klickend, dann darauf einhämmernd. „Kindersicherung, Gnädigste. Broochen Se frische Luft? Jeht es Ihnen nich gut?“ Sie fuchtelte mit der Plastiktüte in der Hand herum. „Ich muß das hier loswerden. Fahren Sie an einen Mülleimer! Die, die dürfen nicht wissen, wo wir hinfahren!“ Bingo! Die Alte ist nicht nur auf Drogen, die denkt auch noch, daß wir verfolgt werden. Er mußte schmunzeln. Jetzt wollte er seine Theorie überprüfen. „Dit kann ick nich machen.“ Er pausierte. „Die dunkle Limousine hinter uns, sehen Se die? Die folgt uns schon seit jut zehn Minuten. Ick wollt Se nich beunruhigen. Wir sollten jetzt nicht anhalten.“ „Fahren Sie schneller, mein Gott, fahren Sie rechts, schnell.“ „Zu Befehl.“ Jetzt war er geistig wieder voll da. Action! Er riß das Lenkrad im letzten Moment um und bretterte die Konstanzer runter. „Scheiße! Die sind immer noch da. Wir hängen se uff der Autobahn ab.“ Er gab Vollgas, ratterte über die gerade rot gewordene Ampel. Er kannte die Schaltung hier genau. Wenn er jetzt auf 90 beschleunigte, kriegt er die nächste noch und kann dann auf der Stadtautobahn mit gut 130 Richtung Steglitz pesen. Was ihn noch mehr anmachte als das steigende Tachometer, war der steigende Fahrpreis. Von Steglitz zurück nach Schöneberg sind’s noch mal gut sieben Euro. Dann hat sich das Warten also ausgezahlt. Sie riß ihn aus seinem gedanklichen Hoch. „Wir müssen das hier loswerden, sonst finden die uns immer wieder.“ Blanchierter Rattenkot! Mir soll’s recht sein, wenn die uns noch durch ganz Berlin jagen. „Reißen Se sich zusammen und denken Se doch mal nach. Die Wichser ham sicherlich meen Kennzeichen notiert. Die ham bestimmt Kumpels in der janzen Stadt, die just in diesem Moment nach meenem Taxi suchen, mit oder ohne Peilsender. Scheiße, die sollen ruhig wissen, wo wa sind. Wir stellen denen ne Falle.“ Er phantasierte sich selbst in Rage, raste dabei durch den Autobahntunnel. „Ick ruf jetze die Zentrale mit nem jeheimen Funkspruch. Dann sind wir uff’m Radar.“ Er nahm sein Mikro, ohne den Sprechknopf zu drükken, und brüllte: „Wagen 3642 an BEROLINA, 3642 an BE-RO-LI-NA.“ Um dem ganzen noch mehr Effekt zu geben, versicherte er ihr: „Ick schalte jetzt auf Kanal 3. Alle Fahrer, die sich gerade auf diesem Kanal aufhalten, wetzen schon ihre Messer und Macheten aus Langeweile. Verdammter Fötus, die polieren schon ihre ScheißKnarren. In Null Komma Nix haben ihre Freunde da hinten ein Mordsproblem mit halb Berlin. Taxifahrer ham noch echte Solidarität untereinander, wissen Se.“ Er brüllte wieder in das abgeschaltete Mikro: „Kollege hat ein F-2-7. Schildhomstraße, aus Wilmersdorf kommend. Yalla! Wagen 3642, F-2-7, Kollegen aller Rassen und Schwanzlängen, F-2-7!!“ Er mußte sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Die Alte 48 gggab Text von Konstantin Winter Bilder von Caroline Marquardt is ja schon kreidebleich in ihrem von haus aus schon käsigen Yoko-Ono-Gesicht. „Fahren Sie mich sofort zur MartinLuther-Straße. Martin-Luther 24a.“ Mit seinem vorherigen Schätzwert von sieben Euro hatte er sich doch etwas übernommen. Egal, die Alte ist verrückt, er hatte eine gute Fahrt, geldtechnisch gesehen, und seinen Spaß hatte er auch noch gehabt. Er fuhr auf dem kürzesten Weg Richtung Rathaus Schöneberg. Sie telefonierte abermals mit ihrem Anwalt. Wer zum Teufel würde die Spinnerin als Klientin annehmen und welcher Anwalt arbeitet sonntagnachts? Er erinnerte sich daran, kürzlich „Fear and Loathing in Las Vegas“ mit seiner Freundin gesehen zu haben und relativierte seine Meinung über Anwälte. Vielleicht ist ihr Anwalt ein verdrogter Alienjäger, der in der Martin-Luther-Straße Motto-Swingerparties schmeißt. Geil, da lade ick mich einfach gleich selbst mit ein. Das Telefongespräch war wenig aufschlußreich gewesen, seine Action-Stimmung war wirren Nachwehen seines abendlichen Haschisch-Tums gewichen, den er sich in seiner Pause zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr gerne mal gönnte, und überhaupt waren sie gleich am Ziel angekommen. Er hoffte jetzt nur noch auf ein ordentliches Trinkgeld, zusätzlich zu den schon guten 22,50 Euro. „Da, da steht er schon!“ Josefina Yoko Meinhof war aufgeregt, sie freute sich fast schon, die korpulente Gestalt am Hauseingang lehnen zu sehen. „Ahm, dit is nich die vierundzwanzig. Die vierundzwanzig is uff der anderen Straßenseite.“ Sie reagierte mal wieder nicht auf seine Aussage. „Hier nehmen Sie.“ Sie hielt ihm einen braunen Schein hin und öffnete die Tür. Korrekt! Er griff nach dem Schein, etwas zu hastig. In diesem Moment wurde die Frau aus dem Auto gerissen. Es ging so schnell, daß er, als er den Schein weggesteckt und sich umgedreht hatte, die Frau nicht mehr klar erkennen konnte, nur noch Umrisse von Gestalten. „Hey! HEY!“ Er drückte die Fahrertür auf, rannte bei laufendem Motor um den Wagen herum. Keine Menschenseele weit und breit. Er blickte auf die andere Straßenseite. Im gelblich schimmernden Hauseingang war niemand mehr zu sehen. Er wollte die Türe hinten rechts, die immer noch offen stand, zuschlagen. Da sah er die blaue Plastiktüte auf dem Rücksitz liegen. Ihm lief es eiskalt den Rücken runter. 49 50 flight club Wer mit dem Auto an einem sonnigen Nachmittag über eine Landstraße fährt, der muß meistens wenigstens einmal scharf bremsen. Entweder stürzt sich ein Vogel, ein frecher Spatz, keck aus dem Gebüsch am Straßenrand vor den Wagen. Oder ein solches Tier sitzt pfiffig auf der Straße, beobachtet das Auto und fliegt trotzdem nicht weg. Wer aber zu Beginn eines solchen Nachmittags, so gegen dreizehn Uhr, einmal anhalten und aussteigen würde, der würde hören, wie sie sich beraten, gegenseitig auf die Spitze treiben, anfeuern, beleidigen, zujubeln, freuen, lachen, brüllen. Wer einmal anhalten würde, der würde die Vögel verstehen lernen. Der würde merken: Es ist wieder soweit. Es geht wieder los, die Nachricht frißt sich durch die Büsche und Bäume wie brüllendes Feuer. Und alles flattert durcheinander. Jeder ruft aufgeregt und das Zwitschern wird ohrenbetäubend. Alle sammeln sie sich. Alle wollen sie ihre Sucht befriedigen. Jeder will ein Auto für seinen Flug. Und der Autofahrer, der angehalten hat, der würde spätestens jetzt bemerken: Der Flight Club geht wieder los. Regel 1 im Flight Club: Rede nicht darüber. Regel 2: Rede nicht darüber! Trotzdem tut es jeder. Wer einmal dabei war, einmal das Adrenalin gespürt hat, das den Körper beim Flight durchrauscht, überschwemmt, wie ein Tsunami ertränkt, der wird süchtig nach dem Scheiß. Regel 3 im Flight Club lautet: Keine Schnäbel, keine Krallen. Regel 4 heißt: Ein Flight dauert so lange, wie er dauern muß. Und die letzte Regel im Flight Club: Wer neu ist im Flight Club, muß fliegen. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag. Die Landstraße liegt wie eine verdauende Schlange zwischen den Feldern. Links und rechts Bäume am Straßenrand. Büsche. Verstecken … Und überall, verborgen, heimlich, aber ohrenbetäubend laut: Wir. Der Flight Club. Begeistert, mit aufgerissenen Augen, kratzigen, sich überschlagenden Stimmen, schlagenden Flügeln, aufgeregt. Unruhig. Fast platzend vor Erwartung. Es hat angefangen mit Heiner und mir, Maiko. Wir waren die ersten. Angefüllt mit Langeweile und gärenden Äpfeln saßen wir in diesem Busch und plötzlich sagte Heiner zu mir: „Ich will, daß du mich stößt, so hart du nur kannst“. Und ich so: „Was?“ Und er, jedes Wort wie Kaugummi gedehnt: „Maiko, ich will, daß du mich stößt, so hart du nur kannst“. Also habe ich weit mit dem Flügel ausgeholt und ihm Text von Johannes Lange Bilder von 51 Text von Johannes Lange Bilder von Christin Müller 52 heftig auf den Rücken geschlagen. Er stürzte vom Ast, breitete seine Flügel und versuchte, sich zu fangen. Er trudelte auf die Straße, und erst jetzt bemerkte ich das Auto, nicht mehr weit, zu nah, zu schnell. Ich bekam es mit der Angst. Dachte, wenn Heiner überfahren wird, sei ich daran schuld, und überlegte mir Ausreden. Aber Heiner fing sich kurz vor dem Boden, schlug mit den Flügeln, drehte und stieg knapp vor dem Wagen in die Höhe. Aber er stieg nicht weiter, als er direkt vor dem Kühlergrill war. Der Fahrer bremste scharf. Es quietschte. Qualm stieg auf. Das war’s. Jetzt ist er tot. Jetzt muß ich mich rechtfertigen. Trotzdem schrie ich: „Los, Heiner, zieh an! Zieh!“ Und Heiner blieb immer knapp vor dem schlitternden Auto, flog schließlich zurück zu mir. Er war blaß und naß vom Angstschweiß. Aus großen Augen sah er mich an. Schwer atmend. Irgendwie glücklich. „Scheiße, das war geil!“ Ich war sprachlos. „Stoß mich noch mal!“ Die Lust blitzte aus seinen Augen. In seinen Worten lag ein Ton, der brüllte: „Ich will leben!“. Und seine zerzausten Federn riefen: „Ich will nicht ohne Narben sterben!“ „Nein, erst ich“, rief ich mit pochendem Herzen, „stoß du mich zuerst!“ Und Heiner stieß mich vor das nächste Auto. Ich stürzte, breitete die Flügel und steuerte vor die Kühlerhaube. Hörte den Motor. Wartete auf das Quietschen. Spürte, wie eine Kraft in meinen Kopf schoß, alles in Zeitlupe, und ich flog und hörte das Auto und wagte nicht, mich umzusehen. Ich wartete nur auf das Quietschen und dachte, daß ich jeden Moment tot bin, und fand es unglaublich geil und wartete auf das Quietschen. Aber es quietschte nicht. Ich hörte Heiner wie durch eine Betonwand: „Hau ab, Maiko, der bremst nicht!“ Der Fahrer fuhr einfach weiter. Scherte sich nicht um mich. Ich sah mich zerquetscht am Kühlergrill kleben. Sah mich zerschmettert auf der Straße. Wartete immer noch auf das Quietschen und spürte schon den Luftsog am Bürzel. Ich sah mich schon ins Getriebe des Autos geraten, als ich abdrehte. Ich konnte kaum auf dem Ast stehen. Meine Knie waren aus Gummi und mein Gehirn voll mit Adrenalin. Ich hatte dem Tod ins Auge gepickt und mich aus dem Staub gemacht, dachte ich. Sah Heiner an. Lachte. Sah Heiner lachen. Dem Tod ins Auge gepickt, dem ollen Schnitter. gerufen: „Hier, ich will als nächster sterben“, und als der Tod 53 dann kam, da haben wir einfach so getan, als hätten wir gar nichts gesagt. Heiner und ich faßten uns an den Schultern und tanzten in dem Busch. Wir lachten über unseren Wagemut, die Autofahrer, die vertriebene Langeweile. Wir lachten, weil wir vor Angst heulen wollten, aber nicht konnten. Und wir riefen immer wieder, daß das so geil, so hart, so porno gewesen sei. So entstand der Flight Club. Und der Flight Club wächst. Heiner und ich, wir können schon längst nicht mehr überblicken, wo es überall Flight Clubs gibt. Die Anfänger üben an Radfahrern oder Fußgängern. Die ganz harten, die sich selbst auf unserer Landstraße noch langweilen, fliegen ihre Flights an den Autobahnen. Obwohl es gegen die Regeln ist, erzählt es jeder weiter. Wer in den Süden fliegt, der zeigt es dort unten den anderen. Ich habe von Straußen, Emus gehört, die es schaffen, vor Kleinwagen her zu rennen. Einer von denen im Autobahn-Flight-Club hat mir von Pinguinen erzählt, die es bei Hundeschlitten tun. Es soll Enten geben, die dem Jäger absichtlich vor die Flinte fliegen, um zu sehen, ob sie ausweichen können. Hühner, die absichtlich ein Loch in den Maschendraht hacken, damit der Fuchs ins Gehege kann und sie vor ihm fliehen müssen. Wir hier, an unserer kleinen Landstraße, an der alles angefangen hat, wir wandeln es inzwischen ab. Wir setzen uns manchmal zu dritt oder so auf die Straße und wer dann als letzter vor einem anbrausenden Auto wegfliegt, der wird bejubelt. Die anderen werden ausgelacht. Es geht nicht darum, die Autofahrer zu ärgern. Es geht nicht darum, den Verkehr lahmzulegen. Es geht darum, etwas Aufregendes zu erleben, nachdem wir aus unseren schicken Vogelhäusern gekommen sind, ein Bad in der schicken Vogeltränke genommen haben und satt sind vom Körnerring. Weil uns langweilig ist, deswegen machen wir den Flight Club. Und heute, an diesem Samstag, an dem die Straße wie die verdauende Schlange da liegt, sind wir über hundert. Es ist ohrenbetäubend. Heiner will bald eine Grenze einführen. Die Quelle: Johannes Lange, Wettrüsten mit Eierflip – Erzählungen, Edition Muschelkalk Bd. 33, Weimar, 2010. Mit freundlicher Genehmigung des Wartburg Verlags, Weimar. ersten fünfzig dürfen bleiben, die anderen müssen einen neuen Flight Club aufmachen. Viele der Anwesenden habe ich noch nie gesehen. Grünschnäbel vom Radweg. Ich sehe in die neuen Gesichter und sehe Angst und Zweifel. Das erste Auto heute. Sie alle reden wild durcheinander. Und plötzlich ein Dröhnen. Die Äste zittern. Es brummt in unserer Brust und schiebt sich langsam in den Kopf. Ein Motorrad! Jeder ruft es zugleich. Ein Freiwilliger ist schnell gefunden, einer von den neuen. Er zittert und die Furcht gräbt eine schauerliche Grimasse in sein Gesicht. Aber ich stoße ihn und er fliegt los. Kreuzt die Straße knapp vor dem Kopf des Fahrers. Traut sich nicht, vor ihm her zu fliegen. Fliegt nur zwanzig Zentimeter vor dem schwarzen Helm vorbei. Kackt vor Schreck. Wir lachen ihn tüchtig aus, zumal die Scheiße dem Fahrer gegen das Visier geklatscht ist und sich im Fahrtwind zerteilt. Wir sehen auf den neuen, der am Straßenrand hockt und schwer atmet. Wir lachen und jubeln. Für einen ersten Flight war das recht gut. Einige fliegen zu ihm und schlagen ihm kumpelhaft auf die Schulter. Andere unterhalten sich aufgekratzt über den Flight eben. Heiner und ich stehen etwas abseits und sondieren die Neuen. Beobachten abgebrüht die Straße. Warten auf einen Van. Oder einen LKW. 54 unscheinbar Gedankenverloren starre ich auf das schmutzverkrustete Ding da in meinen Händen. Nehme nur unbewußt das unablässige Tropfen des Wasserhahns neben mir wahr, ebenso wie das grelle gelbe Licht, daß es mir fast unmöglich macht, irgendwelche Einzelheiten erkennen zu können. Tanzende Schattenflecken tummeln sich unter mir auf dem Boden – ich werfe einen Blick nach schräg-links zur Lichtquelle – es sind lediglich die schwarzen Motten, die um diese Zeit immer um das verstaubte Lampenglas herumschwirren. Mit Fingerkuppen, die immer noch klamm und taub sind von der Kälte draußen, befreie ich die Glocke in meiner linken Hand von nasser Erde, Lehm und wenigen zerfetzten Herbstblätterresten. Dunkler, schwerer Rost splittert vom leicht rauen Blech ab; bei näherer Betrachtung kann man noch letzte Spuren einer bläulich-grauen Färbung erkennen. Ich versuche, sie anzuschlagen, finde aber keinen Klöppel, er muß wohl schon vor einigen Monaten verlorengegangen sein. Genaugenommen ist es gar keine wirkliche Glocke, es ist ein klägliches, jämmerliches Ding, das, fast vergraben unter bräunlichem Lehm und den Überbleibseln eines nassen Herbstes, einfach am Straßenrand gelegen hatte. An einer Nebenstraße, vermutlich achtlos fallengelassen. Vielleicht habe ich sie deswegen aufgehoben. Weil sie so offensichtlich nur ein einfaches, bloßes, unvollkommenes Ding ist, ein verkommenes Subjekt, das von ebenso vielen Leuten ignoriert wie mißbilligt wird. Vielleicht aber tat sie mir nur einfach leid, wie sie da so allein und verlassen und einsam im Dreck auf dem schlammigen Gehweg lag. Mit zittrigen Händen schiebe ich die Glocke in meine rechte Jackentasche; dort bekommt sie wenigstens Gesellschaft von der Schale einer halben Haselnuß und einer eingetrockneten Hagebuttenfrucht, die Überreste eines Weidenkätzchens habe ich leider im vergangenen Sommer verloren. Unsicheren Schrittes erhebe ich mich und verlasse, halb wankend, halb gehend, die öffentliche Toilette einer Raststätte; eine schwere, tropfende Straße erwartet mich, deren asphaltierten Boden ich zuvor schon entlanggewandert war. Vielleicht, so überlege ich, während mich hin und wieder das Autolicht eines vorbeifahrenden Fahrzeuges im Rücken streift, vielleicht wollen diese Dinge, die ich einsammele, gar nicht gefunden werden. Wollen vielleicht mißachtet und ignoriert werden, dort im Schlamm, im Regen. Dann denke ich an mich selbst, während ich schaudernd ob der Kälte die Kapuze meiner Jacke etwas höher ziehe. Will ich denn ge Text von Beatrice Frank Bilder von Julia Roth funden werden? Ich gehe weiter, setze stur Fuß vor Fuß, bis mein Körper sich an den monotonen Laufrhythmus gewöhnt hat und automatisch funktioniert. Um längere Strecken zu bewältigen, und im Prinzip geht es um nichts anderes hier: um Strecken und Etappen und Abschnitte, ist ein solcher Mechanismus unerläßlich. Damit komme ich klar; es ist leicht, einen äußerlichen Schein von Stereotypie und Gelassenheit vorzutäuschen, oder doch zumindest physisch umzusetzen, meine Gedanken kann ich leider nicht abstellen, so sehr ich es auch versuchen mag. Ich weiß nicht, was Vorbeiziehende – und alle sind Vorbeiziehende in meinen Augen – wohl sehen, wenn sie mich anblicken: die Sachen, die schon zu oft getragen wurden, um jemals sauber zu erscheinen, die stoische, desinteressierte Miene, die zu wenige Male durch ein Lächeln erhellt wurde, die dunklen, leeren Augen, die zu viel erblickt haben, um ausdrucksstark zu erscheinen. Ich lese Mißtrauen in ihren Augen, Argwohn, Mitleid, viel zu selten aufrichtige Anteilnahme, doch meistens übergehe ich Blicke jeglicher Art, ziehe vielleicht die Kapuze hoch und wende mich ab; nein, ich glaube nicht, daß ich gefunden werden will. Umgeben von Kälte, Nacht und dem beginnenden Winter frage ich mich, wie mein Leben aussähe, würde ich den Blick eines Passanten erwidert haben; mit meiner kaum benutzten kratzigen Stimme alle Barrieren hinter mir lassend, die ich mir mühsam aufgebaut habe. Vermutlich nicht anders als sonst auch. Würde ich aufhören, nachts mit klammen Fingern eisige Erde oder Schnee von Dingen abzukratzen, die sonst niemand braucht, bis meine zerkratzten Hände so taub sind, daß ich die klirrende Kälte nicht mehr verspüre? Würde ich nicht mehr in verwahrlosten Raststätten nach jeder Lichtquelle sehen, um nach Motten zu suchen, die den Winter überlebt haben könnten? Die düstere Straße unter mir will mir keine Antwort geben, ebensowenig, wie es eine gefundene Glocke, eine Nußschale oder eine Hagebutte jemals könnten; doch vielleicht muß ich es nicht laut hören, um die Antwort zu wissen. Das durchdringende Geräusch einer Autohupe erklingt hinter mir, ich bin wohl unbewußt zu weit nach links abgeschweift. Trottenden Schrittes begebe ich mich wieder zu meinen Platz am Straßenrand, mehr ist es doch gar nicht, was ich will. Das und vielleicht ab und an eines der kleinen, unvollkommenen Dinge, die ich aufheben und sicher in meiner Tasche verstauen kann. 55 Text von Michael Friedrich Bilder von Christina Peter 56 sand sagen will ich und wenn der regen dann auf unsere burg sprang wie waren wir traurig und schlecht zu sprechen auf die wolken und vielleicht ganz kurz verstimmt und dann hat irgendwer plötzlich die uhren gefüttert mit unserer welt mit unseren burgen der klang der fanfaren und die fahnen als sie losziehn aus meiner welt aus meinen burgen und erst diese wolken darin waren wir geschickt darin: einreden von ausreden bis zur perfektion vor allem sätze wie: das können wir auch später noch oder: selbst die raben auf dem heimflug oder: morgen werden wir jünger sein im großen: hätten wir doch nicht leuchten die buchstaben heller sagen will ich: wir haben. und dann: vorhang. 57 ein waidgerechter tod Text von Georg Maltzen Bilder von Janette Schäpe 58 Seit ich denken konnte, war immer Lärm da. Immer ein vorbeifahrendes Auto, pöbelnde Leute, schreiende Kinder, Sirenen. Aber der Lärm war es nicht, den ich vermißte. Zuerst war ich sehr unglücklich über die Entscheidung meiner Eltern, von Berlin in den Thüringer Wald zu ziehen, aber als Kind ist man in der Verteidigung begrenzt. Die Luft stank modrig. Kein Mensch mehr weit und breit, nur unser einsam stehendes Haus. Wenn man alles Aufregende und Interessante raus nimmt, bleibt eben nur noch eine schöne Landschaft. Ich wäre wahrscheinlich Amok gelaufen, wäre mir nicht Herr Fuchs über den Weg gelaufen. Ich lernte ihn kennen, als ich wieder einmal Gott spielte. An jenem Tag wog ich mich in scheinbarer Abgeschiedenheit und hockte über einem Ameisenhaufen, um ErkunderAmeisen mit einem Lolli vom Hain weg zu locken und mit einem von meinem Vater gestohlenen Feuerzeug einzeln zu verbrennen. Mein glucksendes Lachen muß mich verraten haben, denn plötzlich stand er hinter mir – Herr Fuchs. Ohne ein Wort nahm er das Feuerzeug aus meiner Hand, ohrfeigte mich, steckte das Feuerzeug ein, würdigte mich keines weiteren Blickes, spuckte seinen Kautabak an den Wegrand, machte kehrt und verschwand, so rasch, wie er erschienen war. Ich schlich ihm nach, weil ich mein Feuerzeug wiederhaben wollte, versteckte mich dabei hinter Bäumen und versuchte möglichst leise, seinem Weg in den Wald zu folgen. Ich konnte nicht herausfinden, was alles in seinem dichten, grauen Bart geschah. Die Feder an seinem Jagdhut wippte im Tempo seines Ganges. Er trug eine beige Cordhose zu einem olivgrünen Cordparka und unverständlicherweise ein auffälliges, rotes Tuch um seinen Hals. In meine Beobachtung vertieft, bemerkte ich nicht, wie ich ein paar Vögel aufschreckte, blitzartig war er in Alarmbereitschaft und sagte: „Zeig Dich!“ Mir blieb nichts anderes übrig, als aus meinem Versteck hervorzukommen. „Geben Sie mir mein Feuerzeug wieder.“ Er verzog verächtlich die Mundwinkel. „Nein.“ In der Stadt hatte ich es schon mit viel beängstigende- ren Leuten zu tun, doch obwohl er ein Gewehr hatte, fuhr ich, meinem natürlichen Ungehorsam folgend, fort, ihn zu löchern. „Warum tragen Sie überhaupt ein rotes Tuch, kann man damit überhaupt unerkannt jagen?“ Im Umdrehen und Weggehen erwiderte er: „Wegen der Chancengleichheit.“ Ich ließ mich nicht abschütteln. „Sind Sie Jäger?“ Er tat so, als hätte er mich nicht gehört, machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. „Haben Sie heute schon etwas gefangen? Wie lange leben Sie schon hier draußen? Darf ich mit Ihrem Gewehr schießen? Nehmen Sie mich mit?“ Er wurde langsam gereizt, hielt inne, um mich zurechtzuweisen. „Warum sollte ich?“ „Immerhin konnte ich Ihnen ein gutes Stück nachgehen, ohne daß es Ihnen aufgefallen ist.“ Kurz überlegte er und schob seinen Kautabak von der rechten in die linke Seite seines Mundes. „Sei morgen wieder an der Lichtung, um sechs Uhr morgens.“ Von da an nahm mich Herr Fuchs mit auf seine Jagdtouren. Entgegen der üblichen Jagdpraxis jagte er nur allein. Er folgte auch keinen festen Routen, vielmehr folgte er bestimmten Tieren, nicht immer, um sie zu erlegen, sondern häufig nur, um sie zu studieren, sie kennenzulernen, wie er es nannte. Sein Wissen über den Wald schien, wie der Wald selbst, in jede Richtung endlos. Der Wuchs einer bestimmten Sorte Pflanze gab ihm Hinweise, aufgeplatztes Holz legte für ihn verborgene Kenntnisse frei. Einmal graste ein Reh, das Herr Fuchs schon ausgiebig beobachtet hatte, in unmittelbarer Nähe von uns. Er beschloß, es zu töten, und blickte sehr ernst in meine Richtung, um mich zu warnen und mir mitzuteilen, was bevorstünde. Lautlos legte er sein Gewehr an, entsicherte und schoß dem Tier in den Hals. In diesem Moment blieb dem Wald schlagartig für einige Sekunden jedes Geräusch fern, wie bei einem Schock. Wir traten an das Tier heran, es keuchte durch den aufgeplatzten Hals, die Augen verdrehten sich und die Hinterbeine strampelten ins Leere flüchtend auf der Suche nach einem festen Untergrund. Herr Fuchs sah mich an und erklärte mir, während er sein Gewehr mit einer neuen Patrone füllte, daß eine Jagd dann waidgerecht sei, wenn das Wild am wenigsten leide. Ein weiterer Schuß tötete das Reh. In der darauf folgenden Nacht träumte ich, ich sei ein Sperling, der wild umherirrte, auf der Suche nach Futter, dann einen Wurm fing, der jedoch aus dem Schnabel rutschte und von einer Ammer aufgelesen wurde. Wie ich hinterher flog, es aber nicht schaffte, die Ammer einzuholen, wie mein Herz raste. Und ich rastlos Ausschau nach Feinden, nach Beute hielt. Beim nächsten Treck im Gehölz erzählte ich Herrn Fuchs von diesem Traum, worauf er trocken erwiderte: „Ein Teil von dir weiß also noch, wie es war.“ Herr Fuchs wollte, daß ich lernte, mit dem Gewehr umzugehen, falls eine Situation von mir verlangte, uns zu retten. Meine Eltern haßten ihn. Besonders mein Vater. Wilde Gerüchte schwirrten um Herrn Fuchs und mein Vater wurde nicht müde, das zu wiederholen, was die Einheimischen von dem Waldläufer dachten. Er würde im Wald leben, gar kein Zuhause haben, seine Jagdlizenz nicht verlängern, obwohl sie abgelaufen sei, wildern und das Ökosystem gefährden. In meinen Augen war er der Wald. Doch er hielt nicht viel von meiner Meinung, schließlich waren wir seiner Ansicht nach die Fremden in der Natur. Gegen den Willen meines Vaters setzte ich die Ausflüge fort, sammelte Pilze, lernte Vogelgesänge auswendig und mich des Nachts im Wald zu orientieren. Bei einer Gelegenheit erspähten wir ein Wildschwein. Es war sehr alt, und wäre es nicht anders gekommen, hätte sich der Wald selbst in Kürze von ihm entledigt, doch Herr Fuchs beschloß ein anderes Ende. Er gab mir das Gewehr und erinnerte mich an die Übungen, die wir gemacht hatten. So und nicht anders. Ich zitterte. Geräuschlos zog er seinen Cordparka aus und legte ihn mir über die Schultern. Ich legte an und zielte auf den Kopf des Keilers. Zögerlich fragte ich: „Und was ist, wenn es so denkt wie ich?“ „Diesen Fehler haben die Tiere nie gemacht.“ Wir banden die Hufe des Wildes zusammen und schleiften es zu mir nach Hause, während mein Lehrmeister mir davon erzählte, wie er als junger Mann sein erstes Reh durch Ausdauerjagd erlegte – dem Tier so lange hinterherlaufen, bis es nicht mehr konnte und zusammenbrach. Seiner Meinung nach sei das die Grundform allen Jagens. Ein gerechter Kampf. Er empfände das Gewehr als eine Abkehr von dieser alten Form und trüge das rote Tuch, seit er die neue Technik benutze, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich war trotzdem stolz über die Jagd und meinen Erfolg. Als meine Mutter das Tier am Rand unseres Waldstücks zusammen mit Herrn Fuchs und mir entdeckte, schrie sie hysterisch und rief meinen Vater. Mir wurde verboten, weiterhin mit Herrn Fuchs auf Jagd zu gehen und ein Gewehr zu tragen. Dieser akzeptierte das Urteil meiner Eltern zwar, spuckte aber beim Weggehen verächtlich seinen Tabak an den Rand unseres Grundstücks. Kaum, daß eine Woche vergangen war, mußten wir auch schon wieder weiter in die nächste Stadt ziehen. Ich fragte nicht einmal mehr, in welche, da ich es unlängst schon als einen unvermeidlichen Bestandteil meines Daseins akzeptiert hatte. Ich habe Herrn Fuchs nie wieder gesehen. Im vergangenen Winter ist er gestorben. Ich trauere um ihn, wie um einen Vater oder so etwas Ähnliches. Entenjungen folgen instinktiv eher einem grellbunten Stock mit der richtigen Form, als ihren eigenen Artgenossen. Und vielleicht folgte ich einfach auch nur einem derartigen Wunsch. 59 60 heute lernen wir, tschüß zu sagen Text von Stefan Petermann Bilder von Elke Schmidt nimmt sie einem Jungen das Stöckchen aus der Hand, mit dem er die Katze angiggelt. „Die Miez soll springen“, sagt er und bricht in Tränen aus, weil er kein Stöckchen mehr hat. Heute ist die Katze gestorben. Vom Baum ist sie gefallen. Eigentlich können Katzen das ja gut. Auf Bäume klettern. Und fallen. Aber von wegen sieben Leben und immer auf den Pfoten landen. Diesmal nicht. Vielleicht hat ein Vogel sie aufgeschreckt. Oder ein Kind hat von unten geschrien. Jetzt stehen die Kinder um die tote Katze herum. Sie sagen: „Liebe Miez“, und: „Steh auf Miez“, und: „Was ist denn mit der Miez?“ Eines der Mädchen drängt die anderen Kinder energisch zurück und sagt, daß die Miez schlafen will und alle Kinder ruhig sein sollen. Sie legt die Finger an die Lippen und pssst die anderen Kinder an. Iffi muß währenddessen einen Streit am Sandkasten schlichten. Ein Mädchen hat einen Jungen an den Haaren gezogen und der Junge hat daraufhin einen Eimer Sand über sie gekippt. Beide weinen, und weil sie weinen, weinen andere Kinder mit. Wer nicht am Sandkasten ist und weint, ist bei der Katze und schaut. Bis Iffi das mitbekommt, vergehen einige Minuten. Schnell Iffi bringt die Kinder ins Haus und erklärt ihnen, was mit der Katze passiert ist. „Die ist jetzt im Katzenhimmel“, sagt Iffi und die Kinder schauen durch das Fenster hinaus in den Himmel und fragen, warum die Katze jetzt fliegen kann, und sagen, daß sie auch fliegen möchten und dort sein wollen, wo die Katze ist. Iffi erklärt, daß die Katze fest schläft und niemand sie jemals wieder aufwecken kann. „Aber morgen doch“, fragt das Mädchen mit dem Sand in den Haaren, weil es sich niemals nicht vorstellen kann. Später gibt es Essen und danach wird geschlafen. Doch kein Kind schläft, alle flüstern über die Katze, und die, die nicht flüstern, haben Angst, so fest wie die Katze einzuschlafen. Also zeichnet Iffi am Nachmittag an die Tafel. Sie malt eine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Das ist sie selbst und die Kinder erkennen Iffi sofort. „Und wo sind wir?“, fragen sie und Iffi zeichnet die Kinder auf die Tafel. Sie fassen sich alle an den Händen und laufen durch eine Wiese. „Was für eine Wiese?“ fragen die Kinder und Iffi malt Blumen in die Wiese und die Kinder fragen: „Was sind das für Blumen?“ und Iffi malt gelbe Kringel um die Blüten, und die Kinder fragen: „Warum Sonnenblumen?“ und Iffi meint, daß die Katze Sonnenblumen mochte. Sie zeichnet Denkblasen, für jeden Kopf eine, auch ihren. In jede Denkblase malt sie eine Katze hinein, genauso gescheckt, wie die Katze es war. Und über das Bild mit Iffi und den Kindern in der Sonnenblumenwiese, die alle an die Katze denken, schreibt Iffi: „Heute lernen wir, Tschüß zu sagen.“ Am nächsten Tag stirbt Iffi. Sie steht mit dem Fahrrad auf der Linksabbiegerspur auf der Kreuzung. Es ist früh am Morgen. Vom Berg her kommt ein Lkw. Eigentlich sollte er an der Ampel stoppen, doch weil die Bremsen nicht funktionieren, rollt er weiter und wird immer schneller. Rechts von Iffi und hinter ihr warten Autos. Sie kann nur nach vorn ausweichen, aber da rast der Lkw auf sie zu. Überhaupt glaube ich, daß viel zu wenig Zeit ist zwischen Gerade geschieht etwas Furchtbares und Was mach’ ich jetzt? Für Was mach’ ich jetzt? ist fast nie Zeit. Leon, der hinter dem Fahrrad im Anhänger sitzt, ist nicht sofort tot. Sondern erst im Krankenhaus. Ich weiß, was Sie jetzt denken, ich denke es ja auch. So muß man vermutlich denken. Ich wüßte auch keine anderen Gedanken. Theo sagt: „Das ist doch alles instant, alles aus zweiter Hand, schon gefiltert und abstrahiert. Das hat doch nichts mit dem zu tun, wie es mir wirklich geht.“ Da hat Theo recht. Immer geht was verloren von drinnen nach draußen, und in unserem Fall mindestens dreimal so viel. Wie sollte das auch anders sein? Wenn man dafür genau die richtigen Worte finden könnte, die Worte, die alles auf den Punkt bringen und genau das ausdrücken, was in einem vorgeht, wäre das nicht grausam für alle, die nicht so fühlen? Denn wenn sie diese Worte hören, dann wäre es ja unmöglich, sich nicht so zu fühlen. Oder in meinem Fall: Nichts mehr zu fühlen. 61 62 63 Wenn Theo was sagt, hören wir zu. Theo ist schon immer in der Gruppe, es gibt niemanden, der die Gruppe ohne Theo kennt. Deshalb hat sein Wort Gewicht. Auch wenn es manchmal keinen Sinn ergibt. Aber man muß nur ein paar Tage warten, ganz geduldig, bis sich alles fügt. So wie man ewig auf ein 3D-Bild schaut und wenn man glaubt, man wird nie etwas erkennen, springt plötzlich ein Delphin auf einen zu, ein Delphin oder ein Eisbär oder das Wahrzeichen einer großen Stadt. Das war nicht immer so. Am Anfang wußte ich nicht, wie ich mit Theo umgehen sollte. Hat geschimpft und alle runtergezogen und beim Büfett trotzdem nach den dicksten Häppchen gegriffen. Fast wäre ich wegen ihm nicht weiter zur Gruppe gekommen. Theo ist nicht gerade das, was man ein leuchtendes Vorbild nennt. Dabei braucht man das dringend. Und es muß weder leuchten noch Vorbild sein. Aber man braucht irgendetwas. Sonst dreht man frei. Man wird ja sowieso schon fertiggemacht. Von den Umständen und den Nächten sowieso. Mit Schlafen ist das erstmal vorbei. Da bleiben nur Tabletten. Alle hier nehmen Tabletten, das ist was, die hat ein Arzt verschrieben, weil jemand die hergestellt hat, und beim Herstellen muß sich jemand etwas gedacht haben. Beim Herstellen der Tabletten geht es um Hilfe, chemische Hilfe, wir nehmen alles, was wir kriegen können, und weil das nicht viel ist, sind Tabletten schon mal ein guter Anfang. Ich glaube, daß ich mit meinem Glück das Glück von anderen stehle. Was ich zuviel habe, muß ja von jemandem kommen. Ich habe keinen Pakt geschlossen, würde jedoch gern die Hälfte von meinem Glück hergeben, wenn jemand dadurch die Hälfte von seinem Pech abgeben könnte. Das sagt sich hinterher natürlich leicht. Überhaupt ist alles leicht, was ich sage, es hat kein Gewicht außerhalb der Gruppe, außerhalb der Gruppe ist alles, was ich sagen könnte, unangebracht, deshalb habe ich mich entschieden, daß es nichts geben darf, über das ich reden müßte. Ansonsten müßte ich explodieren. Nicht einmal Theo weiß davon. Glücklicherweise. Er würde sonst richtig grantig werden. Er würde von den Phasen reden, durch die jeder muß, und er würde mir vorwerfen, ich würde noch in der ersten feststekken, der verdammten ersten Phase, wie Theo sie nennt. Das muß nichts heißen, er nennt auch die anderen Phasen verdammt. Aber er ahnt ja nichts, er denkt, ich bin schon zwei Phasen weiter und deshalb werde ich zuvorkommender behandelt. Innerhalb der Gruppe. Iffis Schwester hat mir die Geschichte von der Katze erzählt. Die Schwester war die einzige, die mit mir gesprochen hat. Nicht sofort, allerdings auf dem Flur des Gerichts. Da war ich schon ein freier Mann, auch wenn niemand verstehen konnte, aus welchem Grund. Niemand hat mich angeschrien und niemand hat die Fäuste geballt, niemand ist aufgesprungen und hat mich verflucht. Sie waren nur so still, Iffis Mann und Iffis Tochter und Iffis Eltern und Iffis Großeltern und Iffis Tanten und Iffis Freunde und Iffis Arbeitskolleginnen und Iffis Nachbarn. Die waren nur still, die Zeit über, ihre Blicke habe ich in meinem Nacken gespürt. Aber das war ja nicht mal das Schlimmste. Ich hätte mich ja selbst weggeschlossen, dafür hätte man keine Sachverständigen heranziehen müssen. Die haben mich ja doch nur entlastet. Was kann ich für die Bremsen? Ich hab sie doch getreten, ich hab doch geschrien: „Aus dem Weg“! Was heute bescheuert klingt, so wie früher beim Rodeln: „Bahn frei!“ oder „Platz da!“ Was hätte ich denn noch tun können, außer die Bremsen zu treten, die nicht bremsen? Manchmal ist zwischen Gerade geschieht etwas Furchtbares und Was mach ich jetzt? genügend Zeit, um etwas zu machen. Und versuchen zu lenken und damit genau auf die Linksabbiegerspur der Kreuzung zu lenken. Doch die Sachverständigen haben mich frei von aller Schuld gesprochen, sie haben sogar behauptet, ich hätte verantwortungsvoll gehandelt, weil auf der anderen Seite der Kreuzung eine Schulklasse auf Grün wartete, und das wäre der direkte Weg für den Lkw gewesen. Aber ich habe gelenkt und ich habe verantwortungsvoll gehandelt und bin deshalb frei von jeder Schuld. Deshalb waren alle so still. Ich weiß nicht, was alle dachten, an der Stelle von Iffis Schwester hätte ich mich jedoch nicht angesprochen, ich hätte nicht die Geschichte von der Katze erzählt. Vielleicht ist die Katze nur ausgedacht, vielleicht wollte mich Iffis Schwester trösten. „Trost“, sagt Theo, „Trost können wir von niemandem erwarten. Nur von uns selbst.“ Das sagt er den Leuten, die schon in Phase drei sind, also Leuten wie mir. Und dann erzählt uns Theo seine Geschichte. Sie soll uns Mut machen, sie soll uns anleiten und Beispiel sein, aber ganz ehrlich, sie ist einfach deprimierend, so wie die Geschichten von allen in der Gruppe deprimierend sind. Was soll ich daraus lernen? Daß man am Ende zusammensitzt und sich eine furchtbare Sache nach der anderen anhört, um später am Büfett nach Theo die zweitdicksten Häppchen abzugreifen? Das kann’s doch nicht sein. Ich habe Theo erzählt, daß ich vermutlich in Kürze aufs Amt gehe und mich dort austragen lasse. Keine Kirchensteuer mehr. Nicht aus finanziellen Gründen, füge ich hinzu für den Fall, daß er nicht versteht. Doch Theo versteht. „Laß bloß das aus dem Spiel“, faucht er mich an, und mit das meint er nicht die finanziellen Gründe. Wahrscheinlich hat er recht und wahrscheinlich werde ich mich trotzdem austragen lassen. Das wäre immerhin die erste aktive Handlung meinerseits. Vielleicht komme ich ja so in Phase zwei. Die verdammte Phase zwei. Heute hat sich im Bäckerladen ein kleiner Junge umgedreht zu mir, gerade als ich gehen wollte. Er hat den Arm gehoben und leise „Tschüß“ gesagt. Ich kenne ihn nicht und er kennt mich nicht und trotzdem hat er „Tschüß“ gesagt. Ich bin vor die Tür getreten, das Brot warm gegen meinen Bauch gedrückt und ich habe geweint, weil jemand „Tschüß“ gesagt hat, ein kleiner Junge, er konnte in Leons Alter sein. Zuhause habe ich ein Bild gemalt und ich habe etwas über das Bild geschrieben und bestimmt weiß jeder, was auf dem Bild zu sehen ist und was in der Denkblase geschrieben steht. Auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie das gelingen soll. 64 spiegelbild Der Wasserhahn tropft leise, während ich auf den weißen Küchentisch starre. Tapp, tapp und das leise Klicken der Uhr. Die Oberfläche des Tisches ist mit rötlichen, schlierenartigen Flecken überzogen, tief in der Holzmaserung eingekrochen, eingebohrt, angerichtet wie ein Gedeck. Durch die Tür kommt das Hemd getappt, barfuß, ungewaschen. Das Hemd, weil er nie etwas anderes anzieht. Nur das gelb verwaschene, ausgeleierte Hemd, das in besseren Zeiten einmal weiß gewesen ist. So wie der Tisch. Genauso weiß. Ohne Flecken, die wie Krater aussehen, Krater auf dem Mond, dunkel, tief, abstoßend. Seine Stimme reißt mich aus den Gedanken. Er drückt eine zitternde, verblaßte Hand auf meine, die sich auf den roten Kratern zusammengerollt hat, übt kaum Druck aus, sucht meinen Blick. Ich stehe langsam auf und entziehe mich seiner hilflos zuckenden Hand, meine Sicht fällt auf den Wasserhahn, streift die Uhr, wandert zögernd weiter zu seinem formlosen Gesicht mit den schwarzen Höhlen und den pochenden Adern an seinem Hals. Ich lächle seinen Mund an, weil ich es nicht wage, höher zu blicken und gehe an ihm vorbei zur Tür. Ohne mich umzuschauen, weiß ich, daß er meinen Rücken anstiert, bis ich sie hinter mir geschlossen habe. Ich denke an die roten Krater, die jetzt nicht mehr über den Tisch verlaufen, sondern über seinen Hals, und bewege mit einem Ruck meine schweren Füße. Es ist gefährlich, zu weit zu gehen, also tue ich es nicht, unterdrücke den übermächtigen Drang, einfach loszulaufen, wegzurennen, nie wieder zurückzukehren, und denke stattdessen daran, daß meine Schuhsohlen ganz abgewetzt sind, daß meine Finger einen alten löchrigen Stoffbeutel umklammern, daß die Leute mich ansehen, als würden sie mich dulden, nicht akzeptieren. Ich komme an und bin geblendet von den grellbunten, neonfarbenen Auslagen, die Lagerschränke wachsen ins Uner- Text von Adina Frank Bilder von Alexandra Schulz meßliche, beugen sich vor, stoßen an die Decke, deren Putz wohl nicht allzu lange mehr hält. Und nein, ein Fehler, die Decke des Kaufhauses ist klinisch weiß, steril, sicher. Es war die Decke des Hemdes, an die ich dachte. Ein Stechen hinter meiner Stirn, ich schließe die Augen. So etwas passiert öfter hier, kein Grund zur Sorge, kein Grund zum Innehalten. Ein Schritt nach links und ich bin da. Das Stechen wird stärker, nimmt meine Sicht, blockiert mein Gehirn, glühendweiße Blitze in meinem Kopf, breiten sich aus, meine Hand wird taub, aber nicht bewegungsunfähig. Ich ergreife wankend mehrere Flaschen, unwirsch klirren sie aneinander, das kalte Glas an meiner Haut spüre ich kaum. Die verschwommene Straße vor dem Kaufhaus beginnt sich aufzulösen, zu einer wabernden Masse zu verwirbeln, zu schemenhaften Formen zu verschmelzen – wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr, nur, daß ich gefallen bin, denn meine Knie schmerzen und meine Beine fühlen sich schwach und zittrig an. Aber auch das ist kein Grund zur Beunruhigung, auch das bin ich längst gewohnt. Ich trete ein, und nichts als der Tisch begrüßt mich, mit seinen weißen Holzbeinen und dem roten, zerfurchten Antlitz. Ich verbeuge mich belustigt – alles scheint so lustig in diesem Moment –, grüße die zähneklackernde Uhr, den tropfenden Wasserhahn, suche das Hemd, ohne es zu finden. Ich weiß, daß er nur im Badezimmer sein kann, daß ich ihn sehnsüchtig lächelnd vorfinden werde, so hilflos wie einen alten Greis, an seinem eigenen Erbrochenen fast erstickt. Ich öffne stockend die Tür und dann sehe ich ihn, in dem gelben, ausgewaschenen Hemd, mit dem formlosen, aufgedunsenen Gesicht, den schwarzen Höhlen und den roten Kratern auf dem ausgezehrten Hals. Er lächelt, als er mich sieht und ich hebe die Hand mit der Flasche, lächle zurück, lächle seinen Mund an, nicht sein Gesicht, und proste ihm vergnügt zu. Zurück im Bad bleibt nur die Reflexion des Spiegels. 65 66 der panda in mir Am anderen Ende der Leitung hängt Paul, mein Ex-Freund, und Panda baumelt irgendwo zwischen uns in der Gegend rum. Wie immer lutscht er an seinem überdimensional großen Lolly, der noch nicht mal ohne Komplikationen in den Mund eines ausgewachsenen Menschen passen würde, doch dieses gekringelt-geringelt, penetrant süße und vor allem kindsgesicht-große Etwas verschwindet wie immer genießerisch-einfach in Pandas riesigem Maul. Seit geraumer Zeit wohnt mein kopfeigener Bär in einer teletubbie-ähnlichen Hügellandschaft, die sich irgendwo seicht zwischen meinen beiden Gehirnhälften ausgebreitet hat. Dort fühlt er sich sehr wohl. Ich finde, Bären, die unter Artenschutz stehen, haben nichts in meinen Gedankengängen verloren – aber Panda sieht das anders. Panda sieht überhaupt so einiges anders, was auch gar nicht mal schlimm wäre, würde er nicht mein Denken und damit mein Handeln in einem fort beeinflussen. Mein Ex-Freund hat sich noch nie an Panda gestört und tut es auch diesmal nicht. Direkt nach unserer Trennung ist er nach Berlin gezogen, um mit irgendeiner z-prominenten Sängerinnen-Schönheit aus Prenzlauerberg zusammenzuziehen, und jetzt säuselt er mir irgendetwas ins Ohr, von wegen er sei zu Besuch in Leipzig, um seiner neuen Freundin die Stadt zu zeigen, nur leider habe das gebuchte Hotel die Reservierung verschlampt und nun stünden sie gewissermaßen auf der Straße. Ob er und seine Freundin eventuell bei mir pennen könnten, fragt er. „Die, wegen der du mich damals …, also du weißt schon, die Sängerin???“, frage ich zurück. „Ja, hm …“, druckst er rum, „ja, genau die.“ Währenddessen tollt Panda auf seiner Wiese rum, und wie er da so von Hügel zu Hügel hüpft, an seinem Lolly lutscht und Purzelbäume schlägt, finde ich ihn fast schon ein bißchen niedlich. Plötzlich tut sich irgendwo in meinen Gehirnwindungen ein Wäldchen auf, in das zwei Wege führen, der eine, von Panda aus gesehen der linke, ist gut ausgebaut, ja, fast dekadent mit Marmorplatten gepflastert und wird von herrschaftlichen Bäumen gesäumt, auf einem Wegweiser, Marke Ebenholz, steht dick und fett geschrieben: „Glückseligkeit“, „blühende Gesundheit“ und „ewiges Leben“. Der andere Weg auf der rechten Seite gleicht eher einem Trampelpfad, einem sumpfigen Etwas, das wahrscheinlich noch nicht mal im ent- ferntesten die Bezeichnung Weg verdient hätte, und irgendwo zwischen blattlosem Geäst zu versinken droht. Auf einem halb verrotteten Stück Holz, seines Zeichens wohl auch ehemaliger Wegweiser, kann man mit viel Mühe und noch mehr Phantasie die Worte: „Pech“, „Ewige Verdammnis“ und „Freifahrt Richtung Hölle“ entziffern. Woraufhin mich mein Ex-Freund räuspernd in die Wirklichkeit zurück holt: „Jana, bist du noch da? Sag mal schnell, ich ruf von Handy an – ist teuer“. „Freifahrt klingt prima“ antwortet Panda an meiner Stelle, schleckt noch mal kurz an seinem Riesen-Lutscher und WUMMMS, rein in den Wald. Ich wußte gar nicht, daß Panda lesen kann. „Jaja, kommt ruhig vorbei, könnt’ einfach in meinem Bett pennen, kein Problem, ich schlaf dann auf der Luftmatratze“, sage ich zu Paul und frage mich, warum in aller Herrgotts Namen Panda nicht einfach den linken Weg genommen hat. Der scheint sich jedoch auf seiner Freifahrt richtig wohl zu fühlen, während ich mich damit beschäftige, die Luftmatratze aus dem Zwischenboden zu kramen, sie in einem selbstzerstörerischen Akt aufzupusten, der mir den letzten Atem raubt, um danach noch schnell die Kußfotos von mir und Paul zu entfernen, die nach wie vor an meiner Wand pinnen, wobei mir eine Reißzwecke entwischt, die im hohen Bogen zu Boden saust, nur um sich direkt in meiner Luftmatratze … Zzzzzzzz- zischsssssssspfffft. Was soll’s. Panda scheint inzwischen bemerkt zu haben, daß sich seine gewohnte Teletubbie-Landschaft irgendwie verändert hat, nun ist er leicht verwirrt, hat sich wohl verlaufen, doch anstatt einfach umzudrehen, seinen enormen Fußstapfen zu folgen oder sonst wie einen Rückweg zu suchen, verdreht er die Augen, schleckt noch mal geräuschvoll an seinem Riesen-Lolly, um sich schließlich auf den moosigen Boden plumpsen zu lassen und in lautes Schnarchen zu verfallen. Nicht mal die hundertköpfige Affenherde, die plötzlich und aus unerklärlichen Gründen aus dem Nichts auftaucht und Panda nieder- 67 Text von Jana Heinicke Bilder von Vivian Syffus 68 trampelt, kann mein Bärchen wecken. Als wäre das eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, haut die Hundertschaft wie wild geworden auf ihre Jamben ein – Panda schnarcht weiter und ich kriege irgendwie Kopfschmerzen und frage mich gerade noch, was für Tiere wohl manche Politiker im Gehirngang zu sitzen haben, als das Türklingeln mich einer rhetorischen Antwort entbindet. Schnell noch verstaue ich die Fotos in dieser kleinen Kiste unter meinem Bett und hechte zur Tür. Zeit, um den überdimensional langen Wollpulli auszuziehen, den Paul immer so furchtbar gefunden hat, bleibt keine. Aber das spielt jetzt ja schon lange keine Rolle mehr, und wo kämen wir denn da auch hin, schließlich führe ich seit einem halben Jahr ein fast selbstbestimmtes Leben. Und Panda mag den Pulli. Ist ja auch sein Gesicht vorne drauf. Susann, diese Z-Promi-Tussi, mag den Pulli nicht, „der ist aber überdimensional lang“, sagt sie, als ich die Tür öffne, „danke, weiß ich, kommt rein“, antworte ich. Paul fällt mir um den Hals. „Hey, schön Dich mal wiederzusehen, ist ja echt schon ’ne Ewigkeit her!“ Nein, keine Ewigkeit, es sind sogar schon fünf Monate, drei Wochen und vier Tage, denke ich, aber irgendwie hat mein Ex-Freund immer schon einen leichten Hang zur Untertreibung gehabt. Da sich in meinem Kühlschrank nichts Eßbares mehr finden läßt – seit geraumer Zeit ernähre ich mich nur noch von Kaffe schwarz und Zigaretten – entscheiden sich die beiden, direkt ins Bett zu gehen, sie hätten einen langen Tag hinter sich gehabt, und in Leipzig kann man ja auch ach so viel unternehmen, gerade wenn man noch so frisch verliebt ist, wie sie es nun mal sind – die beiden teilen sich auch meine Decke und ich hole mir den muffigen Ost-Schlafsack von Oma aus der Rumpelkammer. Als ich zurück in mein Zimmer komme, sehe ich nur noch ein Knäuel aus Armen und Beinen unter der Bettdecke hervorlugen, das sich, schon im Halbschlaf, irgendwelche Perversitäten in die Ohren säuselt, die anzuhören ich wenig Lust habe, nur Ohropax habe ich leider auch keine, und so tröste ich mich damit, daß Pandas regelmäßiges Schnarchen wenigstens die krönenden Details ein wenig übertönt. Meine luftleere Luftmatratze entpuppt sich zudem als unerwartet unbequem, aber mich zu bewegen oder, gar noch schlimmer, erneut aufzustehen, um nach Puffmaterial zu suchen, traue ich mich dann doch nicht, will die beiden auch nicht aufwecken. Und so probiere ich im Laufe der Nacht zahlreiche Einschlafmethoden aus, die ich vor einiger Zeit in irgendeinem Kurs für Einschlafgestörte gelernt habe und die sich allesamt als so nützlich und praktisch erweisen wie Schlittschuhe im Hochsommer oder die schallisolierte Wand zwischen meiner Wohnung und der meiner Nachbarin, die jeden Abend so laut fernsieht, daß einem die Ohren wackeln, oder mein Partnervertrag fürs Handy, den ich nun alleine zahle, denn einen Partner habe ich ja nicht mehr, eben genauso nützlich wie … ein Panda im Kopf. Und auf einmal werde ich wütend. Und ich verwünsche diesen zuckersüßen, aber völlig deplazierten Bären hinter meiner Stirn, denke darüber nach, ihm eine Horde fleischfressender Elefanten auf den schwarz-weißen Pelz zu jagen, die ihn dann fürstlich verspeisen soll und seinen verdammten Lolly gleich mit. Quasi zum Nachtisch, den Lolly. Und so liege ich die ganze Nacht verbissen auf einer dünnen Schicht Gummi und denke mir aus, wie ich noch einen kompletten Zoo durch mein Gehirn spazieren lassen könnte, so lange, bis sich da, wo mal maigrüne Teletubbie-Landschaft gewesen wäre, nur noch kahle Wüste auftäte und Panda endlich das Weite suchte. In der Zwischenzeit ist vor meinem Fenster bereits die Sonne aufgegangen, und während mein Gastpärchen in heiligenscheinigem Licht friedlich vor sich hin schlummert, vertage ich meine Bärenmord-Pläne doch noch mal, um aufzustehen, dem neuen Tag entgegenzulächeln und frische Brötchen zu holen. Denn die beiden haben bestimmt ziemlichen Hunger und auch noch einen weiten Heimweg vor sich. 69 70 windmann geht die stürme küssen ich frag’ nicht mehr, wo kam er her, wo ging er hin, und fragt mich heut’ irgendwer, was ich für’n vogel bin. die luft ist raus, sagt windmann, und dann steigt er in den wagen und schrammt knapp an den bäumen vorbei, es gelingt ihm wie einem überflieger, wie einem, der die jahre im griff hat, der jede kurve meistert und dafür auch noch preise bekommt. windmann nimmt die überholspur, aber er liegt nachts sechs stunden wach und starrt die decke an, weil er an eine frau denken muß, die er nie mehr wiedersehen wird. windmann fährt ans meer und ich fahre mit ihm, windmann baut sich ein zelt am strand und danach wischt er sich den schweiß von der stirn, windmann, den man aushalten muß auf seiner kleinen weltflucht. im sommer fliegen die schwalben fort, er lallt es und lacht wie ein bösewicht in einem alten western. er ist kurz angekommen bei sich. zwei halbstarke stehen sich gegenüber und der eine von beiden zieht den colt. windmann fehlt nur ein hut irgendwie. ich kann ihn mir mit rabenschwarzem haar vorstellen und auch mit tiefrotem schottischen bart. du sollst nicht meinen namen nennen, er schaut herüber, daß ich es ihn fast sagen höre. windmann läuft mit gebohnertem kopf unter seinem himmel, seine augen sind von altrosa unterlaufen, aber sie bröckeln zwischen den engen lidern. überhaupt hat sein gesamtes gesicht etwas von einer verlassenen landschaft im osten europas: es weist grobe unebenheiten auf wie ein heimatloses feld, in das der frost einzog. mund und stirn sind unbeweglich, als wäre sein besitzer vor langer zeit ausgewandert. ich kann die Text von Kai Mertig Bilder von Maria Zimmermann 71 karpaten erkennen und auch den böhmischen wald. direkt darunter am kinn kerbt sich eine breite narbe. don quijote denke ich, nicht der osten. sie ist so lebensnah und ausgewachsen, daß ich erschrecke. sie paßt gar nicht hierher, sie leuchtet wie eine ampel in der haut, als müsse man vor ihr stehen bleiben, mitten im nichts. in wahrheit sitzen wir jetzt irgendwo in italien. es ist schrecklich heiß hier und über uns ist himmel, sehr seltsamer blauer himmel, und sehr viel davon. wir essen pizza in einer kleinen hütte am strand und der wind ist so nah, daß uns alles abhanden geht. wenn morgen das finanzsystem zusammenbricht, dann laufe ich von bar zu bar und baue kartenhäuser, bis die krise vorbei ist. ich weiß nicht, was er mir sagen will. cowboysprache. er als einer, der alles in den sand gesetzt hat und mit nassen taschen aufs meer blickt, reißt wieder einen schlechten witz. windmann dieser komische kauz, der jedesmal zaubern kann, wenn es sein muß, und der immer ein bißchen blau ist, wenn er an den falschen stellen lacht. frag nicht, woher er kommt. da ist windmann und dort, und immer macht er ein kleines kunststück. mit einem male sitzt er neben dir und du weißt nicht wie. ich mache jetzt ein foto von ihm. mit der einen hand zückt er sein telefon, als wolle er einen zaubertrick aufführen, mit der anderen schiebt er sich ein stück pizza in den mund und schmatzt. er versucht, die frau anzurufen, an die er immer denken muß, sie sei schön, hatte er mir auf der fahrt erzählt, so blonde haare und geile beine und dazwischen gar nicht schlecht, mit der könne man was anfangen. der cowboy braucht eine frau. ich trinke einen schluck. ich trinke fanta, weil windmann beck’s trinkt und zwei pupillen in den augen hat, die klein und gefährlich aussehen. er wartet, daß am anderen ende jemand den hörer abnimmt, wartet auf die geilen beine und die blonden haare und auf den mund, der so schön italienisch sprechen kann. es klingelt, aber am anderen ende nimmt keiner ab. du sollst nicht meinen namen nennen. windmann weiß nicht, wie ihm geschieht, er wird rot, zittert am kinn und weint, springt auf und läßt mich sitzen an einem ort, den wir beide nicht kennen. dann, daß sich eine frau einfach auf seine schulter setzt. und wenn es schief geht, dann schießt er sie eben auf den mond. die rakete ist abgeschossen. die augen sind klein. paradiesvögel fängt man nicht ein, windmann, sowas sieht dir ähnlich. ich wünsche dir ein haus und eine hochzeit und auf der feier danach den härtesten schnaps, den du auftreiben kannst. jedenfalls kein campingzelt, keine leeren blicke aufs meer, keine fanta aus der dose, und erst recht keinen schlechten colt. ich gehe zum zelt und warte auf ihn, aber keiner kommt, don quijote greift gerade die windmühlen an. don quijote hat viele geschichten: er liegt nachts im bett und starrt die decke an, fliegt mit einem auto über die alpen und hofft windmann, mir wird jedesmal schlecht von deinen abenteuern und ich will im süden keine pizza mehr essen. ich will zuhause sitzen in unserem garten und limonade trinken, die kalt ist. wenn du zurückkommst, fahren wir heim. 72 danksagung Texte mit freundlichen Genehmigung der Autoren Dank an Alexander Platz und die „Heft“-Redaktion Erfurt und an die Unversität Erfurt Gestaltung: Lilly Tomec, Berlin Druck: Illustrationen © 2011 Universität Erfurt Dekanat Erziehungswissenschaftliche Fakultät Fachgebiet Kunst Dank an das „heft“ Erfurt
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