Medea- Morphosen - Internationale Gesellschaft für Höfische

ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 143-157.
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Bea Lundt
Andrea Sieber
Der Thronfolger muss sich als ritueller Herrscher gegenübe~ seinen
Untertanen in Szene setzen.54 Gerade durch den VergleIch von
Textvarianten über die Epochengrenze zwischen Mittelalter und
Früher Neuzeit hinweg zeigt sich damit ein langfristiger Wandel
im Problemverständnis der Definition von Männlichkeit.
»Medea- Morphosen«:
Zur mittelalterlichen Rezeption einer antiken Figur *
m Jahre 431 v. ehr. wurde Euripides' >Medea< uraufgeführt,
eine Tragödie, die bis heute Furore macht.l Ihr Erfolg hängt
mit der Thematik des Stoffes zusammen: Medea verrät ihr
Vaterland. Sie hilft dem Argonautenführer Jason, das Goldene Vlies
zu stehlen. Aus Liebe zu ihm zerstückelt sie ihren Bruder, kocht den
Konkurrenten Pelias in einem Zaubertrank zu Tode, verbrennt ihre Nebenbuhlerin Kreusa durch ein vergiftetes Gewand und tötet schließlich
ihre Söhne, als Vergeltungstat für Jasons Untreue.
Angesichts der kulturellen und religiösen Barrieren zwischen antiker und christlicher Lebenswelt stellt sich die Frage, unter welchen
Voraussetzungen es überhaupt möglich war, dass diese spektakuläre
Geschichte einer »heidnischen Mörderin« in die Erzähltradition des
Mittelalters eingegliedert werden konnte. Um sie zu beantworten, wird
zunächst in den Blick genommen, wie sich die mittelalterliche Integration eines antiken Stoff- und Motivkomplexes im Prozess klerikaler Wissensvermittlung vollzog. Daraus resultierende Bewegungen
und Umdeutungen des Erzählmaterials durch veränderte kulturelle Instrumentalisierungen sollen am Beispiel von Medeas Geschichte in
•
I
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So in der frühneuzeitlichen Druckfassung, vgl. dazu Edward Muir: Ritual in Early
Modem Europe. (New Approaches to European Hiostory) Cambridge 1999.
Der Titel ist inspiriert von einer Studie, die aufgrund ihrer thematischen Spezifik
im Folgenden jedoch nicht berücksichtigt wird. Vgl. Johannnes R. Gascard: Medea-Morphosen.
Eine mytho-psychohistorische
Untersuchung zur Rolle des
Mann-Weiblichen im Kulturprozeß, Berlin 1993.
Medeas literarische Karriere beginnt jedoch wesentlich früher in Hesiods >Theogonie< um 700 v. Chr. Vgl. Renate Schlesier: Medeas Verwandlungen, in: Medeas
Wandlungen. Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Annette
Kämmerer/Margret Schuchard/Agnes Speck, Heidelberg 1998, S. 1-11, hier: S. 2.
ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 143-157.
Andrea Sieber
»Medea-Morphosen«
drei Texten exemplarischen beschrieben und historisch kontextualisiert werden.2
Die Ambivalenz einer Figur wie der antiken Medea bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für divergierende Rezeptionsweisen, wodurch Darstellungstypen entstehen können, die entweder positive oder
negative Züge der Figur fokussieren oder völlig neue Akzente setzen.
So wird in der christlichen Exegese Medea in einem Text wie dem
>Ovide moralise< allegorisch von der Mörderin zur Heilsbringerin umgedeutet.
Dagegen erfolgt eine politische Instrumentalisierung der Argonautenfahrt in Raoul Lerevres Roman >Histoire de Jason< auf Kosten Medeas, deren Handeln magisch-monströs dargestellt wird, um die positive Stilisierung der männlichen Hauptfigur zu erreichen.
Unabhängig von diesen konträren Darstellungsformen entwirft das
>Liet von Troye< Herborts von Fritzlar eine Geschichte, die Medeas
tragische Liebe komisch akzentuiert, ohne dass die Hauptfigur dabei
ins Zwielicht gerät.
fes liberales zu einem Propädeutikum in die christliche Erziehung und
Bildung avancierten.3
Mit den Formalia wurden aber zugleich auch die Inhalte rezipierbar. Deren stoffliche und motivische Ambivalenz, gemeint ist ihr Potential, gegen- und spiegelbildlich verfügbar zu sein, bot letztlich den
Kirchenvätern die hierfür nötigen kommunikativen Anschlussmöglichkeiten. Mit relativ geringem, narrativem Aufwand gelang die Umdeutung und Anpassung des antiken Erzählmaterials an theologische
Basistexte. Das heißt, ein heidnischer Götter- oder Heroenkult mit seinen Tempeln, Riten und Festen musste nicht zwangsläufig eine Rezeptionskrise in der Tradierung der mit ihm verknüpften Figur hervorrufen, gerade weil die religiös motivierte Auseinandersetzung in spätantiken und frühmittelalterlichen Kommentaren interpretative Spielräume eröffnete.4
In der Rezeption wurden antike Figuren daher nicht nur zu Vehikeln christlicher Selbstbeschreibung stilisiert, sondern aus dieser Präsenz im theologisch-rhetorischen Diskurs resultierte auch eine literarische Verfügbarkeit, welche die Konstanz christlicher Dogmen unterlaufen konnte. Durch klerikale Vermittlung wurde demnach der Transfer antiker Stoffe in die höfische Erzähltradition überhaupt erst ermöglicht und maßgeblich geprägt.5
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*
Die uns heute vertraute Allgegenwärtigkeit antiker Stoffe in der kulturellen Praxis ist nicht als selbstverständliches, durch kontinuierliche
Tradierung entstandenes Erbe zu betrachten.
Zunächst musste in der Spätantike eine scheinbar unüberwindliche
Kluft zwischen Christentum und heidnischer Welt beseitigt werden.
Die Verschmelzung beider Kulturen setzte Entscheidungen über die
Verwendbarkeit antiken Gedankengutes durch die Kirchenväter voraus. Die religiöse Akzeptanz der Vorteile, aber auch die Einsicht in
die Notwendigkeit einer formal durchstrukturierten, literarischen, rhetorischen und philosophischen Tradition führte dabei zur Freigabe der
Rezeption rhetorischer Standardwerke, die im Rahmen der septem ar-
3
4
5
2
Ursprünglich wurde im Rahmen des Kongresses auch Bildmaterial zur Demonstration des medialen Transfers eingesetzt, worauf hier jedoch aus technischen
Gründen verzichtet wird.
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Vgl. Manfred Fuhrmann: Die antiken Mythen im christlich-heidnischen Weltanschauungskampf der Spätantike, in: Antike und Abendland XXXVI (1990),
S. 138-151, hier: S. 140.
Hans Robert Jauss: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen
zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter, in: Terror und
Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971,
S. 187-209, hier: S. 189. Jauss beschreibt den Weg der Mythenrezeption zunächst
als »allegorische Reduktion« auf das, »was sich im Horizont der christlichen Moral eindeutig erklären und als Beispiel benutzen ließ.« Woran sich der gegenläufige Prozess anschließt, indem der zum »moralischen Topos vereindeutigte mythologische Rest« als »Leerform« den »Anreiz« bot, »wieder durch erklärende Fabeln« aufgefüllt zu werden.
Im konkreten Fall von Medea erlangte ihre Geschichte über enzyklopädische
Werke wie die Mythenzusammenstellung
in Hyginus >Fabulae< oder die >Mythographi Vaticani I, 11<sowie rhetorische Traktate von Cicero, Horaz und Quintilian
den Status eines auch im Mittelalter literarisch verfügbaren Stoffes. Vgl. zur Ein-
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»~edea-~orphosen«
Die Tatsache, dass lateinische Traktate nicht einfach nur zur Rezeption freigegeben, sondern gezielt als Basislektüre im Fach >Rhetorik<
während des Triviums in mittelalterlichen Konventen eingesetzt wurden, förderte zunächst in besonderem Maße die exegetische Profilierung mythologischer Stoffe. In einer Vielzahl von Texten erscheinen
antike Figuren wie Medea demnach nur, weil ihr Beispiel allegorisch
ein der christlichen Moral verpflichtetes Handeln oder Kernaussagen
der Bibel zur Anschauung bringen kann.
Einer der wichtigsten Vertreter dieser Tradition ist der französische
>Ovide moralise<, der zwischen 1316 und 1328 von einem franziskanischen Mönch verfasst wurde.6
Das Werk liefert die erste vollständige Übersetzung von Ovids
>Metamorphosen< ins Französische und prägt danach jede zukünftige
Form der mittelalterlichen Ovid-Rezeption. Nach Renate BlumenfeldKosinskF entwirft der Text ein hermeneutisches System, in dem
»allegoresis in action«8 vorgeführt wird. Hierfür inszeniert der anonyme Autor Ovids Text im Sinne einer wahrheitlichen Fundierung als
Altes Testament, dem er »sein« Neues Testament, den >Ovide moralise<, das heißt ein unermessliches System christlicher Interpretationen
hinzufügt.9
Wie im antiken Original befasst sich das Buch VII des >Ovide moralise< weitgehend mit Medea und Jason, aber der anonyme Autor
erweitert den Textumfang um das Fünffache. Bis zur Flucht der Liebenden bleibt die Handlung unkommentiert. Schließlich provoziert
Medea durch die Ermordung ihres Bruders den ersten dramatischen
Einschnitt für die nun nachgereichte allegorische Exegese. Der Autor
setzt zur Grenzziehung zwischen fable und alegorie wiederkehrende
Phrasen ein.1O Mit Hilfe von Signalwörtern wie signifie markiert er den
Vollzug eines Bedeutungswechsels, bei dem Gegenstände oder Figuren des antiken Textes durch Entfaltung ihres implizit vorausgesetzten
religiösen Potentials zu christlichen Allegorien umcodiert werden. 11
Abweichend von anderen Kommentatoren nimmt er seine Exegese
nicht ausschließlich in Abhängigkeit von Ovids Text vor, sondern
stützt den Transfer biblischer Typologie in sein Werk auch auf andere
Quellen, Übersetzungen, Kommentare und sogar literarische Bearbeitungen.12 Mit dieser Expansion lockert sich auch die Limitierung
der Allegorie durch den Basistext und damit wird eine neue Interpretation des antiken Stoffes möglich.
Im Fall der Medea-Jason-Episode setzt der anonyme Autor in den
allegorischen Sequenzen Akzente, welche Medeas Handeln in der klerikalen Erläuterung als notwendigen und damit positiven Impuls zur
»Erlösung« der Menschheit erscheinen lassen. Zum Beispiel befähigt
sie Jason mit ihren Zaubermitteln, das Goldene Vlies zu erobern. Allegorisch deutet der anonyme Autor diesen Raub zur Erlösungstat um,
wodurch er Jason nicht nur zum Substitut von Jesus Christus erhebt,
sondern auch zum Stifter der heiligen Kirche stilisiert.13 Auch die Zerstückelung des eigenen Bruders kann als Statuserhöhung des Opfers
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9
führung in die mythographische Überlieferung Jane Chance: The Medieval »Apology for Poetry«. Fabulous Narrative and Stories of the Gods, in: The Mythographic Art. Classical Fable and the rise of the Vemacular in Early France and England, hg. v. Jane Chance, Gainesville 1990, S. 3-44.
Vgl. die grundlegenden Informationen zum >Ovide moralise< in: Medival France.
An Encydopedia, hg. v. William W. Kibler/Grover A. Zinn, New York/London
1995,S. 687f.
Renate Blumenfeld-Kosinski: Reading Myth. Classical Mythology and Its Interpretations in Medieval French Literature, Stanford 1997.
Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 90.
Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 91.
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Vgl. Ovide moralise. Poeme du commencement du quatorzieme siede publie d'apres tous le manuscrits connus, Band III (Bücher VII-IX), hg. v. C. de Boer/Martina G. de Boer/Jeannette Th. M. Van 'T Sant, Amsterdam 1931, ND Wiesbaden
1966. Im Folgenden zitiert als OM. VII, 708ff.
Vgl. OM. VII, 710. Weitere Begriffe, welche die Erzeugung von Bedeutungskompatibilität indizieren, sind est, veut dire, note. Vgl. Blumenfeld-Kosinski (wie
Anm. 7), S. 101.
Nachweislich benutzt er Fulgentius' >Mythologiarum Libri<, die >Mythographi
Vaticani I-III<, Johns von Garland >Integumenta Ovidii<, Amulfs von Orleans
>Allegoriae super Ovidii Metamorphosin<, den >Roman de la Rose<, Benolts de
Sainte-Maure >Roman de Troie<. Vgl. Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 9198, 136. Daneben erwähnt Ruth Morse: The Medieval Medea, Cambridge 1996,
S. 129, außerdem als Quellen für den Medea-Stoff Ovids >Heroides<, Baebius
Italicus' >I!ias latina< und die >Histoire ancienne jusqu'ii Cesar<.
OM. VII, 783-801.
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»11edea-11orphosen«
gedeutet werden, indem dieser unschuldige Tod allegorisch die Kreuzigung Christi zur Anschauung bringt. 14Medeas Hilfeleistungen,
aber
auch ihre Morde, ihr negatives, gegen Vater, Familie und Heimat gerichtetes Handeln trägt demnach maßgeblich zur Überhöhung männlicher Figuren unter neuem biblischen Vorzeichen bei.
Daneben darf die positive Verwandlung ihrer eigenen Figur nicht
unberücksichtigt
bleiben. Mit der Fähigkeit, Verjüngungszauber
durchzuführen, spendet Medea ewiges Leben. Ein Sachverhalt, der als Stiftung des Taufsakramentes
ausgelegt wird und der Medea mit Johannes
dem Täufer in Analogie setzt.15
Diese allegorische Auslegung verblüfft, denn sie arbeitet nicht auf
der Basis der deklarierten
Ähnlichkeit
und Kohärenz von Figuren,
sondern benutzt diese lediglich als narrativen Anlass für eine eigenständige Geschichte.16 Zu diesem Zweck ignoriert der anonyme Autor,
wenn es nötig ist, radikal die negativen Vorgaben in der Tradierung
des Medea-Stoffes,
wechselt im Falle Jasons aber auch zwischen Aufund Abwertung der Figur. Der >Ovid moralise< erweitert mit dieser
unabhängigen Interpretation nicht nur die exegetische Rezeption, sondern leistet durch die multiple, intertextuell fundierte Umdeutung des
antiken Textes eine massive Infusion mythographischen
Materials in
die höfische Literatur.1? Er avanciert damit zu einem »virtual storehouse of interpretations
as well as new ways on reading Ovid«ls für
nachfolgende
Werke insbesondere
von Guillaume de Machaut, Jean
Froissart und Christine de Pizan.
Neben der positiven Deutungstradition
provozieren Ambivalenzen
in der Darstellung Medeas immer wieder auch eine diametral entge-
gengerichtete,
negative Fokussierung
ihrer Geschichte.
An einem
zweiten Beispiel zur politischen Instrumentalisierung
soll dies gezeigt
werden. Philipp der Gute von Burgund stiftete aus Anlass seiner
Heirat mit Isabella von Portugal am 10. Januar 1430 den >Orden vom
Goldenen Vlies<.19
Die Etablierung der Stiftung begleitete eine Vielzahl von Kunstwerken, literarischen Bearbeitungen
und öffentlicher Inszenierungen,
welche die Eroberung des Goldenen Vlieses durch den Ordenspatron
Jason propagandistisch
verherrlichten.
Religiöses Heil und Reichtum,
Ergebnisse einer Expedition wie der Argonautenfahrt,
benutzt Philipp
immer wieder, um seine eigenen, letztlich nie realisierten Kreuzzugspläne zu artikulieren. Die Ordensverleihung
funktionierte nicht nur als
materielles Prestigeobjekt,
sondern diente auch als Instrument politischer Machtausübung
und stellte demnach eine Strategie zur Herrschaftsstabilisierung
des burgundischen
Herzogs bereit.20 Dennoch erscheint die Wahl Jasons zum Ordenspatron zunächst als ein Missgriff,
denn der erste Kanzler Jehan Germain, Bischof von Chalon, spricht
sich vehement gegen den heidnischen
Ehebrecher
und für dessen
21
Ersetzung durch den alttestamentarischen
Gideon aus. Daher hat der
Geistliche Raoul Lerevre mit großer Wahrscheinlichkeit
erst nach dem
Tode des Bischofs 1460 im Auftrag Philipps die >Histoire de Jason<
verfasst.22 Nach Gerd Pinkernell gestaltet der Autor eine einzigartige
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140M. VII, 802-809.
150M. VII, 1103-1115; 1147-1152.
16 Diese Unabhängigkeit stellt auch Morse (wie Anm. 12), S. 137f., für die MedeaJason-Episode fest, während Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 121-124,dies
als Interpretationsprinzipdes >Ovidemoralise<insgesamt charakterisiert.
17 Vgl. Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 13.
IS
Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 136. Diese Lesart wird kritisch ergänzt
von James R. Simpson: >Speakof This if You Can<:Voice, Pleasure and Prophylaxis in the Ovide moralist!, in: ders.: Fantasy, Identity and Misrecognition in Medieval French Narrative, Oxford u.a. 2000, S. 133-190.
19 Vgl. Otto Cartellieri: Am Hofe der Herzöge von Burgund. Kulturhistorische Bilder, Basel 1926, S. 60. Nachweislich hat sich Philipp der Gute nicht nur allgemein
um den trojanischen Abstammungstopos für sein Herzogtum bemüht, sondern für
sich als angeblichen Trojaner-Abkömmling fürstliche Sonderrechte auf dem
Basler Konzil eingefordert. Vgl. Gert Melville: Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. v.
Ferdinand SeibtfWinfried Eberhard, Stuttgart 1987, S. 415-433, hier: S. 427.
20 Vgl. die Belege bei Morse (wie Anm. 12), S. 153-164.
21 Vgl. Raoul Lefevre: L'Histoire de Jason. Ein Roman aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Gerd PinkemelI, FrankfurtJM. 1971, S. 98f. Im Folgenden zitiert
als Lerevre.
22 Vgl. zur Datierung nach PinkerneIl (wie Anm. 21), S. 36-45, und die grundlegenden Informationen zum Werk bei Ruth Morse: Problems of Early Fiction: Raoul
Lefevre's >Histoirede Jason<,in: Modem Language Review 78 (1983), S. 34-45.
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Jason-Biographie, die nicht nur die allgemeine Rehabilitierung des
antiken Helden, sondern vor allem auch seine religiöse Legitimierung
als Ordenspatron begründen sollte.23 Das Werk setzt mit einer visionären Begegnung zwischen Autor und Romanheld ein. Raoul Lerevre
verpflichtet sich, für Philipp ein Buch zu schreiben, damit Jason nicht
24
länger durch Verleumdungen als treulos beschmutzt werde. Neben
zahlreichen phantasievoll wuchernden Jugendabenteuern erfindet er
zu diesem Zweck eine neue literarische Gestalt - Königin Mirro. Jason befreit deren Residenzstadt von der Belagerung eines abgewiesenen Freiers und verliebt sich dabei selbst bedingungslos in die schöne
Königin. Trotz seines Kampferfolges weist sie das Liebesgeständnis
ihres Retters kokett zurück, worauf Jason beschämt und gekränkt die
Stadt verlässt. Erst als Mirro ihm inkognito nachreist und zugibt, ihn
ebenfalls zu lieben, versprechen sie einander die Ehe.25
Der Autor schildert Jasons nachfolgende Begegnung mit der Prinzessin von Ko1chis daher von Anfang an aus einer negativen Perspektive. Weil er sich an Königin Mirro gebunden fühlt, lehnt er Medeas
Unterstützung bei der Eroberung des Goldenen Vlieses ab. Diese ist
darüber zunächst verzweifelt, dann verärgert und greift schließlich zu
einem Liebeszauber, der Jasons Erinnerung an Mirro auslöscht. In der
Schilderung der weiteren Ereignisse setzt Raoul Lerevre wichtige Akzente. Zum einen eliminiert er die voreheliche, sexuelle Vereinigung
des Paares und zum anderen unterstreicht er die Selbständigkeit Jasons. Die weibliche Figur erfüllt dabei die Rolle einer Statistin, die
lediglich ein göttliches Schriftstück zu überreichen hat. Neben Gebet
und ritterlicher Kampfkraft verhelfen darin verzeichnete misteres und
23
24
25
»Medea-Morphosen«
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Da im Folgenden der komplizierte Inhalt des gesamten Textes nicht referiert werden kann, sei auf die Zusammenfassung in der Edition von Gerd Pinkemell
verwiesen (wie Anm. 21), S. 11-16.
Pinkemell rekonstruiert im Dialektwort flappir, >beschmutzen< (Lefevre Prolog,
15) einen Seitenhieb auf die ablehnende Haltung des Bishofs Jean Germain. Vgl.
Pinkemell (wie Anm. 21) S. 51, 99.
Lerevre 2. 1-6. 4.
151
nicht die Zauberkräfte der Geliebten dem berufenen Helden zum Goldenen Vlies.26
Die schließlich doch angestrebte eheliche Verbindung mit Medea
bleibt überschattet von negativen Ereignissen. Die Flucht des Paares
provoziert nicht nur den klassisch vorgegebenen Brudermord, sondern
zusätzlich auch den Selbstmord der Hypsiphyle.27 Außerdem initiiert
Medea, abweichend von der Tradition, unaufgefordert die Verjüngung
Aesons und verführt in einem Blutrausch die Töchter des Pelias zum
Vatermord.28 Anfangs nur entsetzt, dann von Abscheu und Ekel über
ihre Mordtaten ergriffen, fürchtet sich Jason instinktiv vor den magischen Fähigkeiten Medeas und verstößt sie.29
Es scheint, als ob hier das Machtpotential einer gebildeten und einflussreichen Frau im Rahmen eines religiösen Diskurses denunziert
werden soll. Denn in zwei nachfolgenden Auftritten wird Medea erneut als mörderische Furie, als Hexe, in Szene gesetzt. Das erste Mal
erscheint sie auf Jasons Hochzeit mit Kreusa und reißt auf einem Drachen reitend ihren jüngsten Sohn in Stücke. Die Festgesellschaft wird
vom Feueratem des Tieres in ein apokalyptisches Chaos versetzt und
fast vollständig vernichtet. 30
Nach antiken Vorgaben wäre dies das Ende. Der desolate Schluss
passt jedoch nicht zu der im Prolog eingeklagten Rehabilitierung Jasons. Daher muss Raoul Lerevre seine Innovation, Königin Mirro, erneut heraufbeschwören. Diese befreit Jason vom Liebeszauber, heiratet ihn heimlich und versteckt ihn vor weiteren Attacken seiner ersten
Frau.3l Weil dies misslingt, tötet Medea vor Jasons Augen nun auch
den zweiten Sohn.32 Danach flüchtet sie sich in den wilden Wald von
Thessalien. Reue, Buße und Askese bewirken schließlich ihre seelische Läuterung, was eines Tages, nach dem Tod Mirros, zur Versöh26
27
28
29
30
3l
32
Lerevre
Lefevre
Lefevre
Lefevre
Lerevre
Lerevre
Lerevre
14. 1-15.7.
15. 18, 23ff.; 16.7, 12ff.
17.3, 4ff.; 17.5, 12ff.
17.7.
18.
19. 1-3.
20. 4, Hf.
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nung des Paars führt. Der Roman endet in ehelicher Harmonie und der
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väterlichen Übergabe der Regierungsgewalt an Jason.
Nach Ruth Morse entwirft Raoul Lerevre eine extravagante Prinzenbiographie, um politische Strukturen und ständische, von Männern
dominierte Hierarchien zu bestätigen und Jason endgültig als Patron
des >Ordens vom Goldenen Vlies< zu etablieren.34
Um dieses Ziel zu erreichen, verknüpft der Autor in seinem Roman
Elemente der historiographischen Trojaliteratur, der Ovid-Rezeption
und des mythographischen Schrifttums mit verstreuten Motiven aus
der Legenden-, Novellen- und Romantradition, die er durch eigenständige Erfindungen von zusätzlichen Abenteuern und Figuren ergänzt und auf die Nobilitierung seiner Hauptfigur ausrichtet.35 Raoul
Lefevres Text erweist sich demnach als Versuch, männliche Handlungen über die Funktionalisierung von weiblichen Figuren zu legitimieren. Zum einen dient der Erwerb der »richtigen« Frau und ihres Landes der genealogischen Reproduktion und zum anderen soll die Verwerfung »unwürdiger« Partnerschaften mit einer verführerischen Außenseiterin oder mörderischen Hexe die moralische Tugend des Helden zur Anschauung bringen.
Sogar das mühevoll herbeigeführte »happyend« passt in diese
Deutung. Die Entschärfung von Medeas Macht- und Bedrohungspotential im Thessalischen Wald und ihre Verwandlung in eine reuige
Büßerin tragen nicht nur zu ihrer Rechtfertigung bei, sondern rücken
vor allem Jason in ein positives Licht. Seine moralische Qualität der
Großherzigkeit befähigt ihn, die sündhafte, aber einsichtige Frau in
die Sphäre gesellschaftlichen Lebens zurückzuholen. Schließlich wird
er damit auf Kosten Medeas erneut, aber in anderer Weise als im
>Ovid moralise<, als »Erlöser« dargestellt. Bereits 1468 wird der zweite Kanzler des >Ordens vom Goldenen Vlies<, Guillaume Fillastre,
Bischof von Tournai, die religiösen Akzente in Raoul Lerevres Roman
aufgreifen und Jason in seinem Werk >La Thoison d'or< als Christus
apostrophieren.36 Neben diesem Fortleben des Argonauten-Stoffes am
burgundischen Hof fällt der unmittelbare Transfer in den englischen
Sprachraum auf. Edward IV. tritt vermutlich aufgrund der Heirat
seiner Schwester mit dem Sohn Philipps des Guten 1468 dem >Orden
vom Goldenen Vlies< bei, wodurch Raoul Lerevres Roman nach
England importiert wird.37 Im Jahre 1477 widmet der Drucker William
Caxton seine in Westminster gedruckte mittelenglische Übersetzung
dem Prince of Wales, zur Unterstützung im Sprachunterricht, was
nicht zuletzt zur weiteren europäischen Verbreitung des Werkes in
zahlreichen Prachthandschriften und Drucken beiträgt.38
*
Unabhängig von der religiösen Deutung Medeas als Heilsbringerin
und der politischen Instrumentalisierung ihrer Figur als bekehrte Mörderin entwickelt sich bereits in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine weitere, gleichsam neutralere Rezeptionsform des MedeaStoffes. Historiographisch ausgerichtete Trojaromane widmen sich der
genealogischen Verknüpfung mittelalterlicher Herrschaft mit der Geschichte der griechisch-römischen Antike. Der Trojanische Krieg wird
dabei präsentiert als weltgeschichtlich verbürgtes Ereignis, auf das die
Gründung des Imperium Romanum folgt, aus dem sich wiederum über
das Konzept der translatio imperii weitere europäische Dynastien
herleiten.39 Vielfach von der Forschung bemerkt und dennoch nicht
hinreichend systematisch untersucht, fällt neben der genealogischen
36
37
38
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34
35
Lefevre 21. 5.
Vgl. Morse (wie Anm. 12), S. 170f.
Vgl. die Rekonstruktion der Quellenbezüge bei Pinkemell (wie Anm. 21), S. 6696.
153
39
Vgl. Pinkemell (wie Anm. 21), S. 103.
Vgl. Morse (wie Anm. 12), S. 181f.
Vgl. Margaret Kekewich: Edward IV, William Caxton, and Literary Patronage in
England, in: Modem Language Review 66 (1971), S. 481-487, hier: S. 487.
Einen Überblick liefert Wemer Eisenhut: Spätantike Troja-Erzählungen - mit
einem Ausblick auf die mittelalterliche Troja-Literatur, in: Mittellateinisches Jahrbuch 18 (1983), S. 1-28.
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Ausrichtung der Romane das wachsendes Interesse ihrer Autoren für
die Rezeption antiker Liebesdarstellungen auf.40
Durch die Vermittlung der französischen Vorlage des Benoit de
Sainte-Maure gelangt die Geschichte Medeas in den ersten deutschsprachigen Trojaroman, in das >Liet von Troye< des Klerikers Herbort
von Fritzlar, entstanden um 1195.41
Herbort übernimmt zwar das Handlungsgerüst seiner Vorlage, deutet aber die Episode durch subtile Akzentsetzung weiter um, so dass
sie vollständig ihrer negativen Rahmenbedingungen enthoben wird. Es
fehlt die misogyn, als sündhaftes Potential der Frau auslegbare Beziehungsinitiative Medeas. Stattdessen lässt Herbort Jason unvermittelt
und in aller Öffentlichkeit der Geliebten unter den Rock greifen, wodurch er sie in emotionale Bedrängnis treibt.42 Auffällig ist auch die
vollständige Tilgung der negativen Ereignisse nach der Eroberung des
Goldenen Vlieses. Weder Medeas Mordtaten noch Jasons Untreue
werden von Herbort erwähnt. Er ordnet damit die Episode gegen die
Tradition gerade nicht in die Reihe der anderen tragisch verlaufenden
Liebesschicksale ein, die von Leitmotiven wie Untreue, Leid und Tod
überschattet sind.
Im Vergleich zum >Ovide moralise< und Raoul Lerevres ,Histoire
de Jason' resultiert daraus eine bemerkenswerte Konzentration auf die
Darstellung der Entstehung, Bewusstwerdung und Erfüllung der komplexen Empfindung >Liebe<.43Dabei dominiert die weibliche Perspektive, denn Jasons Gefühle werden nur am Rande erwähnt. Nach Rüdiger Schnell bereichert Herbort die herkömmliche Anwendung ovidianischer Topoi um zeitgenössische Motive aus dem Minnesang und der
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Zuletz hat Blumenfeld-Kosinski (wie Anm. 7), S. 15-51, auf die Expansion der
Liebesthematik in französischen Antikenromanen hingewiesen und diese mit besonderem Blick auf tabusiertes, transgressives sexuelles Verhalten untersucht.
Vgl. die grundlegenden Informationen zum Werk bei Elisabeth Lienert: Deutsche
Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001, S. 111-120.
Vgl. Herbort's von Fritzlar liet von Troye, hg. v. Kar! Frommann, Quedlinburg/
Leipzig 1837, V. 701-727. Im Folgenden zitiert als Herbort.
Auf die Diversität mittelalterlicher Liebeskonzeptionen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Ausführungen beschränken sich auf die Spezifik von Herborts Darstellung im konkreten Einzelfall.
155
Traktatliteratur.44 Außerdem tendiert Herbort vor allem zur parodistischen Präsentation »pathologischer« Körper- oder Bewußtseinszustände, welche das extreme Ausmaß der Liebe illustrieren sollen.45
Während andere Betroffene sich als Steine und Kröten imaginieren46
oder als Fisch an der Angel der geliebten Person zappeln und dabei
statt des Herzens einen Strohwisch in ihrem Körper wähnen47 bzw. ihr
Leid als Zahnschmerz beschrieben wird48, verliert Medea ihre magischen und intellektuellen Fähigkeiten. Infolge dessen erleidet sie einen
Zustand von Ichverlust und Bewusstseinsspaltung. Sie hält sich für Jason und fragt sich nun, wie Liebeserfüllung mit jemandem möglich
sei, der paradoxerweise zum eigenen »Selbst« geworden ist.
Mich dunktet, daz ich Iason si,
Vnd eines andern dabi,
Daz Iason si ich!
Daz ist auch wunderlich:
Wen er ist hie, ich bin da!
Bin ich medea?
Vnd hat Iason minen sin?
so weiz ich wol, daz ich zwei bin;
Daz engeschuf got nie!
Bin ich da, vnd er hie,
Wie solde ich danne genesen?
Des muz ich iedoch Iason wesen.
Bin ich lason, so bin ich ein man!
War vmbe quele ich arme dan
Daz ich selbe werde min?
(Rerbort 857-871)
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Vgl. die Analyse von Rüdiger Schnell: Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar, in: ZfdA 104 (1975), S. 131-151.
Vgl. dazu Hans Fromm: Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer, in: PBB 115 (1993),
S. 244-278, hier: S 261, 265-270.
Herbort 8362ff.
Herbort 9423-9428.
Herbort l2078f.
ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 143-157.
156
Wie kann Medea einen Mann begehren, den sie selbst verkörpert?
Wird hier nicht ironisch durchgespielt, wie stark Liebe die menschliche Identitätswahrnehmung stören kann?
Wiederholt wurde in der Forschung die Frage gestellt, warum Herbort sich auf diese Weise vom Inhalt seiner Darstellung distanziert
und an welchen Adressaten sich seine komischen Akzente richten, angesichts der Tatsache, dass sein Werk außer einer Vollhandschrift und
einiger Fragmente keine literarhistorische Wirkung hinterließ.49
Zum einen wäre es denkbar, dass Herbort durch seine aggressive
Präsentation komischer Details in der Darstellung von Leid und Tod
»die makabre Grausamkeit des Phänomens Krieg«50 zur Anschauung
bringen wollte. Auffällig ist, dass er gleichzeitig vermeidet, eine
christliche Gegenposition zu beziehen. Noch völlig unbeantwortet
bleibt außerdem, warum Herbort sich auch von der Liebesthematik
ironisch distanziert. In Herborts Erzählverfahren allein eine »Abwendung von den Werten der höfischen Gegenwart«51 bzw. »einen der Not
der Langeweile abgerungenen Zeitvertreib«52 zu sehen, trägt der Komplexität seines Werkes nicht genügend Rechnung. Damit zeigt sich
eine Leerstelle in der Herbort-Forschung, die weitere Perspektiven eröffnet.
*
Bereits die punktuelle Analyse von lediglich drei Texten hat ergeben,
dass die Rezeption des Medea-Stoffes in der Zeit vom 12. bis zum 15.
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»~edea-~orphosen«
Andrea Sieber
Vgl. zur Überlieferung Lienert (wie Anm. 41), S. 112 und zum poetologischen
Programm Herborts zuletzt Elisabeth Schmid: Ein trojanischer Krieg gegen die
Langeweile, in: Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, hg. v.
Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele/Bruno
Quast, Stuttgart 1997, S. 199-220, sowie Hartwig Mayer: Erzählerfigur und Erzählerkommentar in Herborts von Fritzlar >Liet von Troye<, in: De consolatione
philologiae. FS Evelyn S. Firchow, hg. v. Anna Grotans/Heinrich Beck/Anton
Schwob, Göttingen 2000, Bd. I, S. 245-254.
Lienert (wie Anm. 41), S. 119.
Lienert (wie Anm. 41), S. 119.
Schmid (wie Anm. 49), S. 218.
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Jahrhundert erheblichen »Medea-Morphosen«
unterworfen war.
Durch antike Vorgaben geprägte Ambivalenzen in der Figur ermöglichten die Stilisierung Medeas als christliche Heilsbringerin, domestizierte Mörderin und vom Ichverlust bedrohte Liebende. Diese Veränderungen wurden hier als Anpassung des jeweiligen Werkes an religiöse, politische und autorspezifische Darstellungsinteressen gedeutet.
Abschließend stellt sich die Frage, welche Impulse von diesen verschieden akzentuierten Gestaltungen ausgingen. Jeder der drei Texte
zeigt in spezifischer Weise, wie durch klerikalen Transfer mythographisches Material in höfische Erzählkontexte eingespeist wurde. Während der >Ovide moralise< durch das Prinzip der allegorischen Exegese
noch stark an die religiöse Sphäre gebunden bleibt, macht er gleichzeitig Ovids >Metamorphosen< volks sprachlich verfügbar und stellt
somit eine allgemeine Fundgrube antiker Geschichten für nachfolgende weltliche Autoren dar. Diese Präsenz des antiken Erzählfundus
bringt Raoul Lerevres >Histoire de Jason< in besonderem Maße zur
Anschauung. Das Werk präsentiert sich als phantasievolle Kompilation sämtlicher nur denkbarer Stoffe und Motive, die seit der Entstehung volkssprachlicher Erzähltexte tradiert wurden. Genau diese narrative Vielfalt hat möglicherweise William Caxton zu seinen didaktischen Übersetzungen der Werke Lerevres inspiriert.
Neben dem Fortleben des >Ovide moralise< und der >Histoire de
Jason< bleibt Herborts >Liet von Troye< auf den ersten Blick irritierend
wirkungslos. Dagegen zeigt Elisabeth Lienert anhand ihrer Quellenstudien zum >Trojanerkrieg< Konrads von Würzburg, dass auch Herborts Text »Spuren« in der Rezeption hinterließ und liefert damit ein
weiteres Indiz für das Desiderat der Herbort-ForschungY
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VgI. Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg >Trojanerkrieg<, Wiesbaden 1996, S. 187-191.