Dr. Claus J. Tully Jugend digital – Entpolitisierung durch Informationstechnik? Der Gebrauch von Technik verändert die Welt. So bescherte vor mehr als 100 Jahren die industriekapitalistische Gesellschaft mit ihren Fabriken die Landflucht und die Verstädterung mit den bekanten Folgen der Mietskasernen, des Massenelends, aber auch der Massenproduktion. Vor fast 50 Jahren sorgte dann der Sputnik-Schock für einige Irritationen in der westlichen Welt, da es dem „Osten“ gelungen war, einen Satelliten auf die Erdumlaufbahn zu schicken. Der „Westen“ setzte daraufhin alles in Gang, den technischen Fortschritt zu fördern. Hierfür wurde u.a. die Bildungsreform durchgesetzt, deren wesentliche Inhalte darin bestanden, dass Bildungsangebote ausgebaut und höhere Bildungswege für Arbeiterschichten geöffnet wurden. Seit Anbeginn der Industriegesellschaft gibt es die Vorstellung, dass Technik sachliche und rationelle Verhältnisse garantiert, ganz so, als wären technische Lösungen per se „vernünftig“. In diesem Sinne wird in der Schule das Beispiel der arbeitsteiligen Stecknadelproduktion nur selten ausgelassen. Dieses Beispiel ist fest mit dem Lebenswerk von Adam Smith (17231790) verbunden, der Folgendes feststellte: Ein einzelner Arbeiter kann an einem Tag nicht mehr als 20 Stecknadeln produzieren. Wenn aber alle Handgriffe der Produktion zerlegt und einzelnen Arbeitern zugewiesen werden (Spezialisierung), dann kann sich der Stecknadeloutput locker verhundertfachen. Arbeitsteilige Produktion, bei der klare Regeln eingehalten werden und die damit die Arbeitsweise einer Maschine imitiert, ist rationell und effizient. Industrialisierung steht seit Smith deshalb für zwei Dinge: für Fleiß („industry“ bedeutet aus dem Englischen übersetzt nichts anderes als „Fleiß“) und für die Kanalisierung des Fleißes im Rahmen fester, technisch-maschineller Vorgaben. Diese Form der betrieblichen Organisation schlägt sich in der Gestaltung der Gesellschaft nieder: Es werden Bildungsabschlüsse geregelt, Normen für alle möglichen Dinge eingeführt, Produkte und Zwischenprodukte standardisiert und Rechtsvorschriften gesetzt (Arbeitsrecht, Haftung etc.). Der Soziologe Max Weber (1864-1920) sah selbst in der bürokratischen Arbeitsweise eine Widerspiegelung der industriellen Produktion. Die Bürokratie funktioniert ohne Anerkennung des einzelnen Beamten, und das heißt unabhängig davon, welche Person eine bestimmte Aufgabe übernommen hat. Es wird allein auf Basis von Vorschriften, Paragraphen und Regeln gearbeitet, ganz so wie die Dampfmaschine oder das Fließband, die ebenfalls nicht danach fragen, wer sie denn gerade bedient. Das Arbeitsprinzip „ohne Ansehen der Person“ wird zum Leitbild der gesellschaftlichen Moderne. Technik wurde in dieser Weise bis in die 1980er Jahre hinein immer zusammen mit den Begriffen Zweckhaftigkeit und Effizienz betrachtet, unabhängig davon, ob es um Rüstung oder Verkabelung, um den Bau von Atomkraftwerken oder um neue Produktionstechnik ging. Kritische Einwände gegen die Material gewordenen Ideen blieben aber nicht gänzlich aus. So glaubten nur wenige, dass die Fernseh-Verkabelung allein der Absicht diente, mehr Filme und ein differenziertes TV-Angebot auf die Bildschirme zu bringen. Kritische Stellungnahmen wurden vor allem von jungen Leuten vorgetragen, weshalb noch vor zwanzig Jahren die Demoskopie (und hier allen voran Elisabeth Nölle-Neumann vom Allensbacher Institut) eine technikskeptische Jugendgeneration zu identifizieren glaubte. Der Fehler dieser Diagnose lag darin, dass die kritische Distanz der Jugendlichen zu den technisch verfolgen Zwecken pauschal mit einer Kritik an der Technik selbst gleichgesetzt wurde. Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten dieser Skepsis Herr werden, da sie entsprechend der Auffassung der Demoskopen dafür verantwortlich waren. Wenn skeptische Urteile gegenüber der Technik zugleich als politische Äußerungen behandelt und verstanden werden, dann ist von einer engen Kopplung von Politik und Technikentwicklung und –nutzung auszugehen. Jugend, Politik und Technik mussten in der späten Industriegesellschaft mithin zusammengedacht werden. Mit dem Einzug der digitalen Technik in den Jugendalltag ändert sich dieses Bild grundlegend. Nach dem Zweck einer technischen Innovation zu fragen ist aus der Mode gekommen, was nicht unwesentlich daran liegt, dass die digitalen Apparate ganz verschieden und individuell einsetzbar sind. Ebenso aus der Mode gekommen ist unter Jugendlichen auch das politische Engagement. Jugend und Technik – Metaphern für Zukunft Wenn von Technik die Rede ist, kommt Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu, weil Technik ebenso wie die nachwachsende Generation für die Zukunft der Gesellschaft steht. Technik ist, so hat es der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) einmal formuliert, noch nicht vollständig ausgeschöpfte Potenzialität. Ähnliches lässt sich über die Jugend sagen, die den größeren Teil ihres Lebens noch vor sich hat. Jungsein steht für Dynamik und Offenheit. Diese Gemeinsamkeit der Potentialität ist aber nicht ausreichend, um das Verhältnis zwischen Jugend und Technik zu charakterisieren. Technik findet sich zwar heute in nahezu jedem Kinder- und Jugendzimmer, die Technik allein löst aber die Probleme von Jugendlichen nicht, sondern diese müssen über soziale und politische Innovationen behoben werden. Die im Jahr 2001 publizierte, international vergleichende Schulleistungsstudie PISA lässt in diesem Zusammenhang aufmerken: Hier lässt sich nachlesen, dass Wissen nicht von der technischen Ausstattung abhängt – Deutschlands Schüler, technisch weit besser ausgestattet als Schüler anderer Nationen, fanden sich auf einem der letzten Plätze wieder. Wissen ist das Ergebnis intensiver Lernprozesse, die lernwillige Schüler und Schülerinnen voraussetzen. Auch ein anderer Mythos wurde durch diese Studie zerstört: Die neuen Techniken vermögen es nicht, die alten Ungleichheiten zwischen arm und reich, Stadt und Land etc. zu beseitigen. Einzig der Geschlechtsunterschied scheint zu verschwinden, da Mädchen nahezu genauso häufig über die neuen Techniken verfügen wie Jungen. Die Zukunft scheint also ganz und gar nicht gesichert, wenn Schüler und Schulen ans Netz gehen. Damit Jugendliche ihrer Rolle als Fortschritts-Agenten nachkommen können, fördern Unternehmen aus der Kommunikations- und Computerbranche intensiv derartige Projekte. Computer und technische Vernetzung sollen darüber hinaus die politische Entwicklung voranbringen. Dichte Datennetze garantieren jedoch wenig. Es kommt auf den Zweck an, der zuweilen erst noch gefunden werden muss. Beispielsweise setzt der Transfer von Wissensangebot zum Wissen Prozesse der Aneignung und des Interesses voraus. Die Einsicht, dass es individueller Betätigung bedarf, scheint aber wenig verbreitet zu sein. Der Glaube daran, dass zusätzliche Informationen und Datenbanken Wissen für alle bereitstellten, mag in seiner Einfachheit überzeugen, den tatsächlichen Verhältnissen entspricht er jedoch nicht. Über Hardware verfügen die Jugendlichen mittlerweile in ausreichendem Maße. So besagen Umfragen, dass weit über die Hälfte regelmäßig einen PC nutzt. Mehr als jeder Zweite hat Internetzugang. Etwa fünfzig Prozent der Jugendlichen attestiert sich gute Kenntnisse im Umgang mit Netz und Computer. Dabei leben Jungen und Mädchen gleichermaßen in technischen Welten, d.h. ihr Leben ist vernetzt und verkabelt. Sie gebrauchen Handy und Computer; sie bedienen sich des Internets und verbringen in steigendem Umfang ihre Freizeit mir technischen Geräten. Von den gut fünfzig Millionen Handys, die in Deutschland im Jahr 2001 gezählt wurden, entfielen dreißig bis vierzig Prozent auf Kinder und Jugendliche. Betrachtet man die Verwendung der Hardware, so zeigt sich folgendes: Computer werden im Wesentlichen für Spiele genutzt bzw. um Texte zu schreiben oder zu malen. Äußerst wichtig ist das Versenden von Kurznachrichten (SMS) und das Downloaden von Musikstücken und Filmen. Im Internet sind Chat-Seiten sowie die Pages von Musiksendern und Serien von herausgehobenem Interesse. Technik im Jugendalltag umfasst heute die vielen kleinen Helfer, z.B. Mini-Disc-Player, Kameras und Handys, Anrufbeantworter, Fahrzeuge und vieles mehr. Über diese Apparate kann verfügt werden. Der Umgang damit ist ein unernster, spielerischer und situativer. Dies entspricht dem Lebensgefühl der Heranwachsenden, die sich nicht festlegen möchten, sondern ausprobieren wollen. Technische Apparate bieten hierfür ein willkommenes Betätigungsfeld. Damit korrespondiert auch der Befund, dass Jugendliche einen großen Teil ihres Taschengeldes für technische Accessoires und die Befriedigung technikbezogener Bedürfnisse ausgeben. Individuelle Technikkompetenz und soziale Problemlagen Handy, Computer und Internet kosten Zeit und Geld – die steigende Verschuldung unter Jugendlichen zeigt dies in prekärer Weise an. Handys können benutzt, Handyrechnungen aber nicht immer beglichen werden. Prepaid-Karten lösen dieses Problem auch nur zum Teil. Darüber hinaus scheint es so, als ob die Jugendlichen immer dann telefonieren, surfen oder spielen, wenn ihnen langweilig ist. Sie suchen Zerstreuung via Fernseher, Video, Internet oder Computer. Diese garantieren einen spielerischen Zeitvertreib. Die digitale Welt erscheint einfach und angenehm. Geliefert wird eine geglättete Sicht auf die Umwelt, die dadurch tendenziell ausgeblendet wird. Soziale Komplexität wird reduziert indem alles das weggezappt wird, was nicht gefällt. Jugendliche reproduzieren damit das Leitbild, welches die Chipindustrie verspricht: „easy going“ und „comfort and joy“, d.h. Leichtigkeit, Annehmlichkeit und Spaß. Diese Maximen garantieren jedoch nicht die gesellschaftliche Verankerung. Wichtiger sind hier Arbeits- und Ausbildungsplätze. Die digitalen Fertigkeiten, über die Jugendliche heute verfügen, werden am heutigen Arbeitsmarkt unterstellt – einen Arbeitsplatz können sie nicht sichern. Einen Job bekommen Jugendliche auf Basis dieser Kenntnisse also nicht in jedem Fall. Statt dessen ermöglicht es die Technik, Arbeitskräfte einzusparen: Klienten suchen Telefonnummern eigeninitiativ und rufen nicht mehr die Auskunft an; Fahrkarten kann man selbst über das Internet buchen, wo man gleichzeitig die eigenen Bankgeschäfte erledigt oder nach billigen Produkten stöbert usw. Organisationen und Firmen setzen auf die Eigeninitiative der Konsumenten – die Aneignung des erforderlichen Geschicks im Umgang mit Computer und Internet wird durch entsprechende Tarifgestaltungen bei den vormaligen Dienstleistern zur Notwendigkeit. Technik spielt heute in einem bislang ungekannten Ausmaß in die Gestaltung des Alltags hinein. Sie verändert, gestaltet und überformt ihn. Deshalb gilt es zu lernen, was Technik ist und welche sozialen Folgen ihr Einsatz zeitigt. Weniger wichtig ist, aus welchen Komponenten sie besteht. Um zu verstehen, was passiert, muss unverdrossen danach geforscht werden, wem bestimmte technische Lösungen nutzen und wem nicht. Die Frage ist, was die Voraussetzungen zur Implementierung moderner Techniken sind und was wir davon haben. Es gilt also wieder, die klassische Frage nach den Zweck von Entwicklungen aufzuwerfen. Denn Computer und Internet sind nicht nur technische Errungenschaften, sondern sie sind auch kulturelle, soziale und politische Produkte.
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