Es war einmal ein kleines Mädchen, das war ganz alleine

DIE GESCHICHTE VOM ZAUBERMANTEL
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war ganz alleine auf der Welt. Es hatte genug zu essen
und ein warmes Bett. Aber es war verzaubert, und niemand konnte es sehen. Was die Menschen
sehen konnten, war der Zaubermantel, den sich das Mädchen angezogen hatte. Und der war bunt
und schillernd. Es war ein richtiger Zaubermantel: er machte unsichtbar und unverletzlich, und er
verlieh besondere Kräfte.
Mit diesem Mantel konnte das kleine Mädchen so tun, als wäre es schon groß.
Und irgendwann vergaß das Mädchen den Zaubermantel und glaubte, das sei sie selbst. Das
Mädchen wuchs heran, wurde eine junge Frau und sehr klug. Sie wurde bewundert und die Leute
schienen sie auch zu mögen. Sie war neugierig, wollte vieles wissen und erfahren und das Leben
in der Tiefe ergründen.
Sie begegnete vielen seltsamen Menschen: Prinzen, Bettlern, Weisen, Hexen und auch
Zauberern. Ja, und auch Handwerkern und Kriegern, Hausfrauen und Bauarbeitern. Und sie
verliebte sich, nicht nur einmal, und träumte vom Glück mit einem Partner, der mit ihr durchs
Leben geht, von einem Haus mit Garten, von Reisen in Weite und Freiheit.
Sie war eine moderne junge Frau und wollte auch einen Beruf ausüben, und sie konnte viel und
lernte viele verschiedene Berufe, das fiel ihr gar nicht schwer.
Und bei allem was sie tat, war sie mit Feuereifer dabei.
Etwas war allerdings eigenartig: Immer wenn sie glaubte, einen Ort gefunden zu haben, wo sie
sich niederlassen wollte, löste sich alles auf, wie von Zauberhand berührt – und sie musste weiter
ziehen. Anfangs fand sie das spannend und interessant. Dann, mit der Zeit, wurde sie ein wenig
müde.
Mit der Liebe war es genauso: wenn sie ihr Herz ganz weit öffnete und glaubte, das Glück
gefunden zu haben, schien ein Stimme zu sagen: das ist nicht für dich, und sie war wieder allein–
und das tat so weh, als würde ihr Herz durchbohr,t und sie glaubte zu sterben.
Ja, und da lernte sie auch das Gefühl kennen, nicht mehr leben zu wollen. Darüber erschrak sie
sehr. Denn irgendwo tief im Inneren wusste sie, dass sie noch gar nicht richtig gelebt hatte.
Mühsam rappelte sie sich wieder auf und machte sich auf die Suche – nach ihrem eigenen Leben.
Und sie begann zu ahnen, dass alles, was sie bisher gelebt hatte, nur der Zaubermantel war und
nicht sie selbst. Aber sie konnte sich selbst nicht fühlen. Und so musste sie lernen, in den Herzen
der anderen wie in einem Spiegel zu lesen. Und das war ein beschwerlicher Weg, denn was da
aus dem Spiegel zurück kam, war nicht nur ihr eigenes Bild – so klar sind nur die Herzen ganz
weniger Menschen.
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Immer wieder musste sie lange alleine sein und ganz einfache Dinge tun und ganz ganz tief in sich
hineinschauen, um unterscheiden zu lernen. So lernte sie viel über die Herzen und die Seele der
Menschen.
Auf diesem Weg stieß sie auch auf das kleine verlassene und verletzte Mädchen in ihrem eigenen
Inneren. Und sie erinnerte sich, dass sie sich selbst verzaubert hatte.
Am liebsten hätte sie den Zaubermantel gleich abgeworfen, aber das ging nicht, denn er war wie
angewachsen – und das war auch gut so, denn in ihm war alles enthalten, was sie gelernt hatte
über das Leben in der Welt. Und das kleine Kind, das sich dahinter verbarg, war völlig nackt und
ungeschützt und hatte furchtbare Angst.
So beschloss sie ganz fest, das kleine Mädchen immer bei sich zu behalten und ihm die Welt zu
zeigen – vielleicht konnte es ja langsam größer und kräftiger werden und lernen, sich selbst zu
schützen.
Dadurch war sie manchmal noch einsamer als vorher, denn vieles, was die Menschen so taten,
um in der Welt erfolgreich zu sein und dazu zu gehören, konnte sie nicht mehr tun – da hätte sie
wieder das kleine Mädchen verraten müssen. Und trotzdem hatte sie das Gefühl, auf dem
richtigen Weg zu sein.
Und mit der Zeit musste sie sich nicht mehr so sehr plagen, um überhaupt in der Welt leben zu
können. Und sie merkte auch, dass sie das, was sie auf ihrer langen Reise gelernt hatte, vielleicht
anwenden konnte, um anderen Menschen zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden.
Und ganz ganz vorsichtig wagte sie wieder, zu träumen ....
Da beschloss sie, zu feiern. Sie kaufte sich neue Kleider, ging zum Friseur und fuhr in ein fernes
Land, an einen wunderschönen See.
Dort begegnete ihr ein Mann, der sie auf seltsame Weise anzog. Er weckte tiefes Vertrauen in ihr,
und darüber erschrak sie sehr. Und ihr Herz schmolz, wenn er ihr in die Augen schaute.
Sie beschloss, mutig zu sein und die Einladung in seine Hütte anzunehmen. Und da entdeckte sie,
dass er nicht nur ein Mann, sondern auch ein Zauberer und ein kleiner Junge und vielleicht noch
vieles andere war. Und das verwirrte sie zutiefst, weil sie nie wusste, in welcher Gestalt er ihr im
nächsten Moment begegnen würde.
Er sagte ihr, dass er sie liebt, und manchmal konnte sie das auch ganz deutlich spüren. Wenn er
sie umarmte oder wenn er mit ihr redete, wurde es in ihr ganz warm und weich.
Gern wäre sie geblieben, aber sie musste wieder in ihr Heimatland zurück, das weit entfernt von
seiner Hütte war. Sie hatte es sich dort gemütlich gemacht, aber weil er so weit weg war, konnte
sie sich nicht mehr richtig darüber freuen. Sie brauchte noch dieses Stück Geborgenheit, das sie
sich mühsam geschaffen hatte, damit das kleine Mädchen sich sicher fühlen konnte.
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Zugleich merkte sie, dass sie ihn brauchte, damit das kleine Mädchen endlich zu einer Frau
werden konnte.
Aber konnte sie ihm vertrauen?
Ja - spürte sie ganz deutlich, wenn sie gerade mit ihm gesprochen hatte, und kuschelte sich
gemütlich in ihr Bett. Und wenn sie am Morgen aufwachte, und sie war allein, schien ihr alles nur
wie ein Traum und ganz unerreichbar.
Ja, sie liebte ihn auch – aber war das nicht eher die Liebe eines kleinen Mädchens, weil es die
Frau noch gar nicht gab? Und wenn er das merkte, würde er sie verlassen. Doch auch das
stimmte nicht, denn sie war ja auch eine Frau. Und sie spürte, dass er auch die Frau in ihr
dringend brauchte.
All das war sehr verwirrend. Wie sollte sie denn lernen, was stimmte, wenn er so weit weg war?
So war sie in sich selbst sehr zerrissen.
Und da merkte sie, das sie ihn wirklich liebte, so wie sie es eben konnte.
Sie hoffte sehr, dass diese Liebe immer siegen würde über die Angst – über ihre und auch über
seine.
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