Augustinus: Predigt 73

Augustinus: Predigt 73
(über Matth. 13, 24-30 und 36-43)
Sowohl am gestrigen Tag als auch heute haben wir durch die Worte unseres Herren Jesus
Christus Gleichnisse von einem Sämann gehört. Ihr, die ihr gestern dabei wart, erinnert euch
heute! Gestern handelte die Lesung von dem Sämann, bei dem, als er die Saat ausbrachte, der
eine Teil auf den Weg fiel - den sammelten die Vögel auf; ein anderer Teil auf die Felsen - der
verdorrte wegen der Hitze; ein dritter Teil unter die Dornen - der wurde überwuchert und konnte
nicht Frucht bringen; der vierte Teil aber fiel auf guten Boden, und er brachte gute Frucht,
hundertfach, sechzigfach und dreißigfach. (Matth. 13, 3-23) Heute aber hat der Herr wieder ein
anderes Gleichnis von einem Sämann erzählt, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als die
Menschen aber schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut darüber. Als es noch grünes Kraut
war, war es nicht sichtbar; sobald aber die Frucht des guten Samens sichtbar wurde, da wurde
auch das Unkraut als solches erkennbar. Das störte die Diener des Hausherrn, als sie unter der
guten Saat viel Unkraut sahen, und sie wollten es ausreißen. Aber man erlaubte es ihnen nicht,
sondern sagte zu ihnen: "Laßt beides wachsen bis zur Ernte!"
Der Herr Jesus Christus hat dieses Gleichnis aber auch ausgelegt, und er hat gesagt, daß er der
Sämann des guten Samens sei, und er deutete den feindlichen Menschen, der das Unkraut säte,
als den Teufel; die Zeit der Ernte sei das Ende der irdischen Zeit; sein Acker sei die ganze Welt.
Aber was sagt er dann? "Zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das
Unkraut ein, um es zu verbrennen, mein Getreide aber bergt in der Scheune!" Warum habt ihr es
so eilig, sagt er, ihr übereifrigen Diener? Ihr seht das Unkraut unter dem Getreide, ihr sehr die
schlechten Christen unter den guten. Ihr wollt die schlechten mit der Wurzel ausreißen? Beruhigt
euch, es ist nicht die Zeit der Ernte! Sie möge kommen, und sie möge euch dann als Getreide
finden! Warum ärgert ihr euch? Warum ertragt ihr es nur mit Mühe, daß die Schlechten mit den
Guten vermischt sind? Auf dem Acker können sie mit euch zusammen sein, in der Scheune
werden sie nicht sein.
Ihr kennt nun ja jene drei Umstände, die ich gestern erwähnt habe, unter denen der Samen sich
nicht entwickelt hat, den Weg, das felsige Land, das dornige Land: eben dies ist das Unkraut! Sie
haben in einem anderen Bild eine andere Bezeichnung bekommen. Denn wenn in Bildern
geredet, der eigentliche wörtliche Sinn also gerade nicht ausgedrückt wird, wird durch diese
Bilder nicht die Wahrheit, sondern ein Bild von der Wahrheit ausgedrückt. Ich weiß, daß nur
wenige das, wovon ich da rede, verstanden haben - aber wir sprechen für alle: Bei den sichtbaren
Dingen ist ein Weg ein Weg, felsiges Land ist felsiges Land, dorniges Land ist dorniges Land.
Was es ist, das ist es, weil es nach seinem besonderen Merkmal bezeichnet wird. In Gleichnissen
aber und Bildern kann eine Sache mit vielen Begriffen bezeichnet werden. Daher ist es nicht
unpassend, daß ich euch sagte: Jener Weg, jenes felsige Land und jenes dornige Land sind die
schlechten Christen - und eben diese sind auch das Unkraut!
Ist nicht Christus ein Lamm? Und ist nicht Christus auch ein Löwe? Unter den wilden Tieren
und dem Vieh ist, was ein Lamm ist, ein Lamm, was ein Löwe ist, ein Löwe. Christus ist beides!
Jene Worte bezeichnen Einzeldinge im Hinblick auf ihr jeweils besonderes Wesen, dieser (iste
statt ista gelesen) ist beides zugleich durch den bildlichen Gebrauch. Er ist sogar noch mehr, weil
es geschehen kann, daß voneinander sehr verschiedene Dinge im Bild mit ein und derselben
Bezeichnung versehen werden. Denn was ist so voneinander verschieden wie Christus und der
Teufel? Dennoch sind sowohl Christus als auch der Teufel "Löwe" genannt worden. Christus ein
Löwe: "Es siegte der Löwe aus dem Stamme Juda." (Offenbarung 5, 5) Der Teufel ein Löwe:
"Wißt ihr nicht, daß euer Widersacher, der Teufel, wie ein brüllender Löwe umhergeht und nach
Jörg Dittmer 2002
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einem sucht, den er verschlingen kann?" (1. Petrus 5, 8) Also ist sowohl jener Löwe als auch
jener ein Löwe: Jener ist ein Löwe wegen seiner Tapferkeit, jener ist ein Löwe wegen seiner
Wildheit. Jener ist Löwe, um zu siegen, jener ist ein Löwe, um Schaden zuzufügen. Selbst eine
kleine Hausschlange ist der Teufel, die alte Schlange des Paradieses (Offenbarung 12, 9) : Sind
wir etwa aufgefordert, den Teufel nachzuahmen, wenn uns unser Hirte gesagt hat: "Seid arglos
wie die Tauben, schlau wie die Schlangen!" (Matth. 10, 16)?
Also habe ich gestern den Weg angesprochen, habe das felsige Land angesprochen und das
dornige Land. Und ich habe gesagt: Ändert euch, solange ihr es könnt! Brecht das Harte mit dem
Pflug um, werft die Steine vom Acker, reißt das Dornengestrüpp vom Acker! Habt kein hartes
Herz, wo das Wort Gottes schnell verlorengeht! Habt kein mageres Land, in dem die Liebe nicht
tiefe Wurzeln schlagen kann! Erstickt nicht den guten Samen, den wir unter manchen Mühen für
euch ausgebracht haben, mit irdischen Sorgen und Begierden - denn der Herr sät, aber wir sind
seine Arbeiter! Sondern seid gute Erde! Gestern haben wir es gesagt, und heute sagen wir es
allen: einer bringe hundertfach Frucht, ein anderer sechzigfach, ein dritter dreißigfach. Bei dem
einen ist der Ertrag größer, bei dem anderen kleiner: aber alle werden sich in der Scheune
wiederfinden. Gestern haben wir dies gesagt - heute spreche ich vom Unkraut: aber die Schafe
sind selbst das Unkraut! O ihr schlechten Christen! O ihr, die ihr die Kirche in Bedrängnis
bringt, indem ihr sie erfüllt mit den Beispielen eures schlechten Lebenswandels! Berichtigt eure
Einstellung, ehe die Zeit der Ernte kommt! Ihr sollt nicht sagen: "Ich habe gesündigt - und was
ist mir geschehen?" (Jesus Sirach 5, 4) Gott hat seine Macht nicht verloren, sondern er fordert
Reue von dir! Dies sage ich zu denen, die schlecht und dennoch Christen sind; dies sage ich zum
Unkraut. Denn es ist auf dem Acker; und es kann geschehen, daß einer heute Unkraut und
morgen schon Getreide ist.
Daher spreche ich auch den Weizen an. O ihr Christen, die ihr gut lebt, die ihr wenige seid unter
den vielen und seufzt, die ihr wenige seid unter sehr vielen und stöhnt: Der Winter wird
vergehen, der Sommer wird kommen, siehe die Zeit der Ernte wird dasein. Es werden kommen
die Engel, die trennen können, und sie kennen den Irrtum nicht. In dieser Zeit werden wir jenen
Dienern gleichen, über die gesagt ist: "Willst du, daß wir hingehen und es einsammeln?" Denn
wir wollten, wenn es möglich wäre, daß kein Schlechter zurückbleibt unter den Guten. Aber uns
ist gesagt: "Laßt beides wachsen bis zur Ernte!" Warum? Ihr seid ja so beschaffen, daß ihr euch
täuschen könnt. Schließlich höre: "Damit ihr nicht etwa, während ihr das Unkraut mit der Wurzel
herausreißen wollt, zugleich auch das Getreide ausreißt." Was macht ihr Guten? Werdet ihr nicht
meine Ernte durch eure Sorgfalt vernichten? Die Schnitter werden kommen - und er legte dar,
wer die Schnitter sind: "Die Schnitter aber sind die Engel." Wir sind nur Menschen, die Engel
sind die Schnitter. Freilich werden auch wir, wenn wir unsere Lebensbahn vollendet haben, den
Engeln Gottes gleich sein. Aber jetzt, wo wir uns ärgern über die Schlechten, sind wir noch
Menschen. Und wir müssen jetzt hören: "Daher hüte sich der, der glaubt, daß er stehe, daß er
nicht falle!" (1. Kor. 4, 13)
Glaubt ihr denn, meine Brüder, daß dieses Unkraut nicht auch die Wände des Kirchenchores
hinaufklettert? Glaubt ihr, daß es, weil es unten ist, nicht auch oben ist? Hoffentlich gehören wir
nicht dazu! "Für mich aber bedeutet es sehr wenig, von euch beurteilt zu werden." (1. Kor. 4, 13)
Wahrlich, ich sage zu euch, die ihr liebt: Auch in den Kirchen gibt es Getreide und gibt es
Unkraut; auch unter den Völkern gibt es Getreide und gibt es Unkraut. Die Guten mögen die
Schlechten ertragen! Die Schlechten mögen sich ändern und die Guten nachahmen! Alle wollen
wir, wenn es sein kann, zu Gott gehören! Alle wollen wir der Schlechtigkeit dieser irdischen Zeit
durch seine Barmherzigkeit entkommen! Wir wollen nach den guten Tagen streben, weil wir in
schlechten Tagen leben! Aber in den schlechten Tagen wollen wir nicht lästern, damit wir zu den
guten Tagen gelangen können.
Jörg Dittmer 2002