1. Prolog Langsam erloschen die auffallend rot gefärbten Flammen des Scheiterhaufens. Seine grellrot glühende Farbe hatte das Feuer durch das zwischen die Scheite und Reisigbündel gestreute Harz erhalten. Dieses Baumharz hatte für eine schnellere Verbrennung des noch etwas nassen Holzes gesorgt. Der Himmel war wolkenverhangen und düster, aber es regnete nicht an diesem Nachmittag des 5. November 1599. Noch hing eine zusätzliche, dunkle Wolke über der Richtstätte. Sie zog langsam nach Osten, ins Renchtal hinein, bevor sie sich gemächlich auflöste, war aber noch aus einiger Entfernung zu sehen. Eine düstere Mahnung an die Einwohner Appenweiers und der umliegenden Ortschaften. Es roch an der Richtstätte nach verbranntem Menschenfleisch, Harz und Holz. Vor allem aber nach Menschenfleisch, süßlich und widerlich. Der Hexer Barthel Pfeifer von Urloffen, seine Frau, die Hebamme Brigitta Pfeifer, sowie eine weitere Hexe, die Frau des Hans Sauer aus Appenweier, waren tot und verbrannt. Ihre Knochen und Kleider, Fleisch und Haare, das aufgeschichtete Holz und das Reisig zum Entzünden, es war fast alles nur noch Asche. Aber ihre Seelen waren vor der grausamen Hinrichtung durch den Pfarrer von Appenweier gerettet worden. Er hatte sie vor der Verbrennung von ihren Sünden losgesprochen. „Ego te absolvo a peccatis tuis!“ war seine tröstliche Formel gewesen, als er mit der rechten Hand das Zeichen des Kreuzes vor jedem der drei zum Tode Verurteilten machte. Doch die beiden Frauen und der Mann waren vor der Hinrichtung durch diese Worte nicht getröstet gewesen. Sie hatten die ganze Zeit auf die Hände des Scharfrichters Jakob Gilg gestarrt, der auf dem Platz vor den Scheiterhaufen stand, schräg hinter dem Geistlichen. In ihren Augen flackerte die grässliche Angst vor dem Unabwendbaren. Aber sie weinten und jammerten nicht mehr. Sie hatten keine Tränen mehr zu vergießen. Jakob Gilg wartete mit unbewegter Miene darauf, dass er endlich mit seiner Arbeit beginnen konnte. Gilg, das wussten die Verurteilten, würde sie mit diesen seinen Händen vor dem Verbrennen erdrosseln. Ein Gnadenbeweis des Malefizgerichts1, weil sie ihre Verbrechen nach langem Leugnen gestanden hatten. Nur wenige der Appenweirer Bauern, Handwerker und Frauen waren aus freien Stücken zur Richtstätte gekommen, um die drei brennen zu sehen. Und von Urloffen hatte sich gar niemand nach dem nahen Appenweier gewagt, um mitzuerleben, wie das Urteil am 5. November vollstreckt wurde. Hexenverbrennungen lösten in der vorderösterreichischen Ortenau keine Freudenfeste mehr aus. Denn schon öfters hatten in den letzten vierzig Jahren die Scheiterhaufen in der Umgebung der freien Reichsstadt Offenburg gebrannt. Zuletzt vor einigen Wochen in Ortenberg. Dort hatten ein Bewohner Appenweiers, Georg Lurkher, die Witwe des Matthias Preinig aus Rammersweier und die Frau des Georg Metz aus Weier den Feuertod erlitten. Und einige derer, die sich in früheren Jahren das grausige Schauspiel nicht hatten entgehen lassen wollen, waren inzwischen ebenfalls auf den Scheiterhaufen der Ortenau grausam gestorben. Sie wurden verbrannt, weil Ihnen nachgewiesen worden war, die Ernte verdorben oder über das Vieh Unheil gebracht zu haben. Verbrannt, weil sie nach fester Überzeugung des Vogtes auf Burg Ortenberg Nachbarn verhext hatten oder Kinder im Dorf durch ihre Zaubersprüche sterben ließen. Verbrannt, weil sie der Unzucht mit dem Höllenfürsten überführt worden waren. Und sie wurden verbrannt, weil sie diesem immer neue Seelen zugeführt hatten. All diese Zauberer und Hexen hatten ihre schrecklichen Taten mit ihrem Leben gebüßt. Keiner dieser Hexenmeister und keine der Teufelsanbeterinnen war dem Feuer entgangen, das sie bei lebendigem Leib aufgezehrt hatte. Bis auf zwei Ortenbergerinnen vor drei Jahren, die, verstockt, auf ihrer Unschuld beharrt hatten. Diese hatten ihren Sünden eine weitere Todsünde hinzugefügt. Sie hatten sich, eingekerkert auf der Burg Ortenberg, dort selbst das Leben genommen. Barbara Treyschneizler konnte nach einem Verhör außerhalb des Verlieses, das ohne Fluchtmöglichkeit war, unbemerkt ihre Füße aus den eisernen Ketten lösen. Sie war über den Wehrgang geflüchtet. Als sie auf dem Schimmelturm erkannte, dass sie die Burg Ortenberg nie würde verlassen können, hatte sie sich aus einer Dachluke auf der Burg in den tiefen Burggraben gestürzt. Die andere, Martha Kern, hing sich verzweifelt am Schauloch des Pulverturms auf, nur zweihundert Fuß von der Richtstätte entfernt. Aber selbst das hatte diese Frauen nicht vor der Verbrennung ihrer Körper gerettet. Man verbrannte, da man die Lebenden nicht den Flammen übergeben konnte, eben ihre toten Leiber auf dem Richtplatz vor der Zugbrücke von Burg Ortenberg. So war dem Gesetz Genüge getan. Doch ihre Seelen hatten die beiden durch den Frevel des Selbstmordes selbst ins ewige Feuer der Hölle gestoßen. Dies verkündete der Priester auf der Kanzel der Kirche in Ortenberg. Beider Überreste durften nicht in geweihter Erde begraben werden, sondern wurden zusammen mit dem verbrannten Holz des Scheiterhaufens in die träge fließende Kinzig gestreut. Die jetzt verbrannte Hebamme Brigitta Pfeifer wusste schon bald nach ihrer Verhaftung, dass nichts sie vor dem Feuer retten würde. Sie war unschuldig; aber niemand glaubte ihr. Sie wusste ebenso, dass ihr Mann kein Hexer war. Aber er war seit vielen Jahren mit ihr verheiratet. Deshalb musste auch er ein Hexer sein. Als sie in der letzten Nacht vor ihrem Tod zum hundertsten Mal ihr bisheriges Leben durchforstete, konnte sie wie schon die vielen Male zuvor keine Todsünde in ihrem kurzen, mühseligen Dasein finden. Eigentlich hatte sie nur Gutes getan. Sie hatte neben der kleinen Landwirtschaft, die ihr Mann und sie betrieben hatten, den Frauen des Dorfes gegen geringes Entgelt geholfen, ihre Kinder zur Welt zu bringen. Den Ärmsten unter ihnen war sie auch gelegentlich ohne Bezahlung beigestanden. Einfach aus Menschlichkeit. Freilich, sie hatte den vor Schmerzen schreienden Müttern ab und zu einen Trank aus Gänsefingerkraut gegeben, der die Krämpfe linderte. Manchmal auch einen zuträglichen Sud aus Hirtentäschel oder Kamille. Misstrauisch hatten die Dörfler ihre Heilkunst beobachtet. Doch es war keine Zauberei, das Wissen der Alten über die Heilkraft der Pflanzen anzuwenden. Dennoch, Frauen, die mehr von Heilkunst verstanden als die umherziehenden Medici oder der Stadtphysikus von Offenburg, waren vielen einfältigen Menschen verdächtig. Dann war eines Tages das Unfassbare geschehen. Als das Kind des Karchers wenige Tage nach der Geburt tot in seiner Wiege lag, hatte dieser sie, Brigitta, für den unerklärbaren Tod des Säuglings verantwortlich gemacht. Es war nicht ihre Schuld, dass der Säugling gestorben war. Doch der Schmerz des verzweifelten Vaters und seiner Frau über den Verlust ihres ersten, lang erwarteten Sohnes war für beide der Auslöser, die Hebamme und ihren Mann des Schadenszaubers zu bezichtigen. Es war für die unglücklichen Eltern der einzige Ausweg gewesen, um nicht an der Güte Gottes und seiner Gerechtigkeit zu zweifeln. Der Vogt in der Burg Ortenberg hatte den Beschuldigungen der Eltern geglaubt. Er hatte sie, die Hebamme, für den Tod des kleinen Jungen verantwortlich gemacht. Brigitta konnte das nicht begreifen. Sie war doch unschuldig. Zunächst hatte Brigitta nur Todesangst. Im Verhör sagte sie immer nur die Wahrheit, beteuerte immer wieder ihre Unschuld. Doch es half nichts. Keiner glaubte ihr. Die Fragen waren immer die gleichen. Die Schmerzen während der Folter unerträglich. Sie wollte nicht sterben. Jedoch auf dem durch ein Feuer glühend heißen Hexenstuhl im Folterraum hatte Brigitta ihren Widerstand aufgegeben. Als sie sagte, was der Vogt hören wollte, beendete der Nachrichter die Folter. Sie wurde von dem Stuhl, der ihre Haut aufgerissen und ihr Fleisch verbrannt hatte, heruntergehoben und in ihre Zelle getragen. Mit der Zeit wurden die Schmerzen durch Brandwunden, Zerrungen und Verletzungen geringer. Aber sie wusste auch, dass die unwahren Antworten, die sie sich aus Furcht vor weiteren Qualen zusammenreimt hatte, ihren Tod bedeuteten. Ohnmächtige Rachegefühle gegen ihre Peiniger schwirrten ihr durch den Kopf. Was konnte sie denn nur tun? Ja, wenn sie tatsächlich eine Hexe wäre, dachte sie, dann hätte sie geeignete Mittel, es dem heuchlerischen Vogt, dem erbarmungslosen Henker, den gleichgültigen Wächtern, dem klatschsüchtigen Dorf, dem undankbaren Karcher und seiner ebenso ungerechten Frau heimzuzahlen. Aber sie war keine Hexe. Schließlich beherrschte nur noch ein einziger Gedanke ihr Denken. Wenn sie schon zum Tode auf dem brennenden Scheiterhaufen verurteilt wurde, sollten auch einige vornehme Personen daran glauben müssen. Die, die für die ungerechten Verurteilungen, für die Anordnung der Folter, unerträgliche Schmerzen und Tod von Unschuldigen verantwortlich waren. Solche hochgestellte Personen, denen das schreckliche Schicksal einer unschuldig Verurteilten gleichgültig war. Die teure Pasteten aßen und süßen Wein tranken. Die rauschende Feste feierten, während sie in Rauch aufging. Den Vogt von Ortenberg konnte sie nicht belasten. Eine Behauptung, dass der Vogt ein Hexer sei, hätte jeder angezweifelt. Zu offensichtlich wäre es gewesen, dass eine solche Beschuldigung aus Rache geschah. Bei wem sollte sie ihn auch anzeigen, da der Vogt doch ihr Richter war. Aber die hochgestellten Räte im nahen Offenburg waren genauso für unmenschliches Leid und Schmerzen verantwortlich. Ihnen würde sie versuchen, das wegzunehmen, was sie am meisten liebten. Ihr eigenes Leben und ihre Familien. Vielleicht würden diese unseligen Verleumdungen aufhören, wenn Beschuldigungen, eine Hexe oder ein Zauberer zu sein, plötzlich auch die trafen, die vorher selbst über Leben und Tod entscheiden konnten. Ihr, der Hebamme, würde es nicht mehr helfen. Auch nicht ihrem Mann. Aber vielleicht unzähligen anderen. „Lieber Gott“, betete sie, „ich lade jetzt ungeheure Schuld auf mich. Ich lege falsches Zeugnis ab wider meinen Nächsten. Aber ich kann nicht anders. Wahrscheinlich helfe ich damit vielen anderen zu Unrecht Verurteilten. Vielleicht rette ich mehr arme Seelen, als ich jetzt mit meiner unehrlichen Aussage ins Verderben stürze. Und hoffentlich wird die Schuld, die ich jetzt auf mich lade, dann kleiner. Vergib mir, allmächtiger Gott. Vergib mir, was ich jetzt tue.“ So hatte die verzweifelte Hebamme aus Urloffen, die heute mit den beiden anderen Unglücklichen verbrannt worden war, in der hochnotpeinlichen 2 Befragung nur drei Tage vor ihrem Tod noch ein aufschlussreiches Geständnis gemacht. Sie hatte unter schmerzverzerrtem Gesicht, aber mit unbändigem Trotz in den Augen, ausgesagt, dass ausgerechnet im Gerichtsgebäude zu Offenburg, der ‚Pfalz’, die Hexen oft ihre Zusammenkünfte hielten. „Einmal“, so gestand sie, „bin ich mit dem Teufel auf einem Stecken zu einem guten Festmahl dahin gefahren. Viele stattliche Leute haben da gegessen, getrunken und getanzt, während ich im hintersten Winkel stehen musste, bis sie nach Abschluss des Festes alle ‚im Hui’ davongefahren sind. Erst danach habe ich mich an den Resten der vorher üppigen Tafel laben können.“ Wer die hohen Herren und schmucken Damen jedoch gewesen seien, konnte sie natürlich auch unter der Folter nicht sagen. Sie hatte sich in den Rats- und Zunftkreisen der Stadt Offenburg nie aufgehalten, hatte sie aufmüpfig zu Protokoll gegeben. Und Namen der Ratsmitglieder in Offenburg kannte sie keine. Dies hatte das Gericht eingesehen, nachdem ihr auch unter der furchtbarsten Folter immer noch keine Namen einfielen. Die Niederschrift dieser entlarvenden Aussage war dem Alten Rat3 der Stadt Offenburg durch einen Boten des vorderösterreichischen Vogtes auf Burg Ortenberg überbracht worden. In einem zusätzlichen Schreiben hatte der Vogt sein heuchlerisches Bedauern zur Kenntnis gebracht, dass das Hexenunwesen nun sogar im Rat der Stadt Offenburg um sich greife. Unverzügliches Handeln sei geboten, wolle man diese Hexenseuche eindämmen. Auch die Offenburger Zünfte wurden über diese Aussage der Brigitta Pfeifer, der ehemaligen Hebamme von Urloffen, informiert. Sie wurden gebeten, die Augen offen zu halten, um Schadenszauber und Unheil von der Stadt fern zu halten.
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