Klare Worte 16.04.16

Thema.
| Samstag, 16. April 2016 | Seite 3
«Spotlight»: Ein ausgezeichneter, bewegender Film zeigt, warum es uns Journalisten trotz allem braucht
Nachrichten aus der Räuberhöhle
Von Markus Somm
Kurze Zeit, nachdem Marty
Baron zum Chefredaktor des
Boston Globe ernannt worden
war, lud ihn Kardinal Law, der
oberste Vertreter der römischkatholischen Kirche in Boston,
zu einem Gespräch ein.
Freundlich, weise, gütig: Was
immer man sich unter einem
Kirchenfürsten vorstellt, Bernard Francis Law war
es. Gegen Ende der Plauderei in einer gediegenen
Bibliothek bot Law dem Journalisten an, für ihn
jederzeit erreichbar zu sein, da schliesslich zwei
grosse Institutionen der Stadt zusammenarbeiten
müssten. «Rufen Sie mich einfach an!» Und er
lächelte. Baron, ebenso höflich, wenn auch weniger weise, entgegnete: «Danke, aber ich ziehe es
vor, wenn wir als Zeitung unabhängig bleiben.»
Law blickte sonderbar. Zwar liess er sich nichts
anmerken, doch sein Lächeln war kein Lächeln
mehr, sondern wirkte nun wie eine Drohung – als
ob er Baron mitteilen wollte: «Auch Sie werden
noch erfahren, wer in Boston das Sagen hat.» Man
verabschiedete sich – und Baron, der in Florida
aufgewachsen war und dort vorher eine Zeitung
geleitet hatte; der in Boston niemanden kannte,
hier weder Familie noch Freunde hatte; der überdies Jude war, also ein Aussenseiter, ging aus dem
Haus.
Kirche ohne Gott
Wenig später deckte der Boston Globe auf, dass
die katholische Kirche von Boston jahrzehntelang
davon gewusst hatte, dass etliche ihrer Priester
Kinder sexuell missbraucht hatten. Statt die Priester zu bestrafen, beteiligte sich die Kirche daran,
die Verbrechen zu vertuschen; statt die Priester zu
entfernen, versetzte man sie dauernd und liess
damit zu, dass immer mehr Kinder immer wieder
zu Opfern ihrer Seelsorger wurden. Ein Priester
allein, so stellte ein Gericht nachher fest, hatte
130 Kinder vergewaltigt. Es war wohl einer der
grössten Skandale der katholischen Kirche seit der
Reformation, der jetzt, im Jahr 2002, bekannt
wurde – und er löste ähnliche Enthüllungen in vielen anderen Ländern aus. Selten zuvor war die
römisch-katholische Kirche moralisch derart ins
Zwielicht geraten.
Kardinal Law, der Erzbischof von Boston, sah
sich gezwungen, zurückzutreten, auch wenn dies
nie so ausgedrückt wurde. Der Papst rief ihn nach
Rom und versorgte ihn mit einem prestigereichen
Amt. Er wurde Erzpriester der Patriarchalbasilika
Santa Maria Maggiore. Martin «Marty» Baron
dagegen, den man in Boston so kühl empfangen
hatte, blieb bis 2012 Chefredaktor und erwarb
sich einen legendären Ruf. Seine Journalisten
erhielten den Pulitzer-Preis für ihre Recherchen.
Heute führt Baron als Chefredaktor die Washington Post.
Wenn es eine Geschichte gibt, die zeigt, wie
wichtig eine gute Zeitung ist – für uns Bürger,
Leser und Zeitgenossen, wenn es einen Stoff gibt,
Zeitzeichen
Gutes tat, nun so kritisch betrachtet werden sollte.
Unsere Kirche, deine Kirche: «Wie kannst du uns
das nur antun?», fragten diese Freunde und
Bekannten, als sie noch meinten, es gehe ein paar
ehrgeizigen Journalisten bloss darum, eine gute
«Story» zu schreiben, eine «These» zu belegen, die
sich nicht belegen liess; eine «Kampagne» wurde
moniert, solange man nicht glauben wollte, was
den Journalisten selber das Herz brach.
den ich meinen Journalisten ans Herz legen
möchte, falls sie sich manchmal fragen, ob ihr
Beruf angesichts der fortschreitenden Zeitungskrise in einigen Jahren noch existiert, ja, ob es
überhaupt Sinn macht, diesen Beruf auszuüben:
Dann ist es diese Geschichte aus Boston. Sie ist
grauenhaft und triumphal zugleich. Grauenhaft,
weil unzählige Kinder aufs Schlimmste gequält
wurden; manche sollten sich nie mehr davon
erholen, sie verfielen den Drogen oder brachten
sich aus Scham und Verzweiflung um. Triumphal
ist diese Geschichte aber, weil eine Handvoll Journalisten dem verbrecherischen Treiben der
scheinbar Frommen ein Ende setzte. Wer die
Geschichte nicht kennt, kann sie sich derzeit in
einem hervorragenden Film von Tom McCarthy
und Josh Singer ansehen. Der amerikanische
Film, «Spotlight» genannt, läuft nach wie vor in
den Basler Kinos. Er kommt den tatsächlichen
Ereignissen sehr nahe.
Furchtlos
Was mir vielleicht am meisten Eindruck
machte, ist Marty Baron und seine Art, bei vollem
Bewusstsein, mit ruhiger Hand in ein Wespennest
hineinzugreifen. Gewiss, als Chefredaktor ist man
versucht, sich mit diesem Helden zu identifizieren, doch der Mann ist so anders als ich, nämlich
nüchtern und wortkarg, dass es nicht daran liegen
kann. Vielmehr bewunderte ich seinen Mut:
Obwohl und gerade weil er ein Fremder war in
diesem katholischen Milieu, wo man hinter seinem Rücken über ihn tuschelte, weil er jüdisch
war und zu allem Überfluss noch unverheiratet
(ist er gar schwul?), trieb er seine Journalisten an,
diesen Missbräuchen in der Kirche nachzugehen,
die als vermeintliche Einzelfälle galten.
Allein der Lokaljournalismus
erfordert jenen Mut,
den Marty Barons
Leute bewiesen.
Zu Anfang waren seine Leute nämlich alles
andere als begeistert. In der Regel, so beschieden
sie ihm arrogant, wählten sie ihre Themen selber
aus, die sie untersuchten. Weil diese Leute dem
berühmten Rechercheteam des Boston Globe
angehörten, das Spotlight heisst (Scheinwerfer),
glaubten sie, sich dieses Selbstbewusstsein leisten
zu können. Widerwillig, skeptisch, abgeklärt: «Wo
ist die Geschichte?» «Das ist doch nichts Neues.»
«Haben wir längst schon geschrieben.» – Alle
diese nur scheinbar schlauen Methoden, einen
Auftrag abzubiegen und eine Geschichte abzuwürgen, wandten sie an – ohne Erfolg. Marty
Baron, nüchtern und wortkarg, gab keinen Millimeter nach. Fassungslos ob der Tatsache, dass
sich hier ein Chef traute, Chef zu sein, zogen sie
sich nach der Sitzung in ihre Büros zurück, schlossen die Tür hinter sich und begannen erst einmal
gemeinsam darüber zu fluchen, dass anscheinend
nun ein Chef eingezogen war, der sich daran-
Die Macht des gedruckten Wortes. Der Boston
Globe brachte einen Erzbischof zu Fall. Szene aus
dem Film «Spotlight», derzeit in den Basler Kinos.
machte, den Boston Globe in die Luft zu sprengen.
Denn natürlich waren sie nicht naiv. Die sechs
Journalisten des «Spotlight»-Teams, alle, so
scheint es, katholisch, wussten, wozu sie ihr jüdischer Chef aufgefordert hatte: den Tempel, in dem
sie selber aufgewachsen waren, auszutreiben. Zur
«Räuberhöhle», wie Jesus Christus einst den von
Kaufleuten und Wechslern frequentierten Tempel
bezeichnet hatte, war die Kirche inzwischen
selber geworden.
Dennoch ergriff die Reporter bald die journalistische Leidenschaft – und in einer sehr überzeugenden Art und Weise, präzis und kurzweilig,
erzählt der Film, wie die Reporter nach und nach
entdeckten, dass es sich eben nicht um Einzelfälle
handelte, sondern um eine hohe Zahl von Verbrechern. 87 Priester allein in der Erzdiözese Boston!
Was sich aber als schlimmer erwies: Dem kriminellen Tun setzte die katholische Kirche nichts
entgegen, obwohl sie Bescheid wusste. Es hatte
System. Und das System durchsetzte die ganze
Kirche, es reichte bis an die Spitze. Kardinal Law
selber, so konnte der Boston Globe nachweisen,
war über die Missbräuche im Bild – und unternahm nichts.
Geheime Treffen
Um diese Fakten zu erhärten, hatten Marty
Barons Leute Monate aufgewendet. Geheime Treffen, seltsame Anwälte, korrupte Beamte, eine Kirche, die überall ihre Spione und Gehilfen zu
haben schien, die verschleierten und schön redeten: Es war eine gigantische Arbeit, die den Journalisten auch persönlich zu schaffen machte, weil
sie die eigenen Leute, Schulkameraden und
Freunde, vor den Kopf stiessen, die nicht verstehen wollten, warum die Kirche, die doch so viel
Wer hat Mut?
Jeder Journalismus, der etwas auslöst, beginnt
lokal – und allein der Lokaljournalismus erfordert
jenen Mut, den Marty Barons Leute bewiesen.
Denn auch die Macht, die man kritisch begleitet,
ob Politiker oder Institutionen, ob Parteien oder
Unternehmen, ist am stärksten vor Ort. Wer Putin
von Zürich aus bekämpft, wer Obama von Basel
aus kritisiert: Ihm dreht niemand einen Strick. Es
ist ein gefahrloses Unterfangen. Wer dagegen im
eigenen Milieu, in der eigenen Stadt Missstände
aufdeckt, ist zunächst ein Brunnenvergifter, dann
ein Nestbeschmutzer, schliesslich ein Schurke.
Beliebt wird er nie, auch wenn alles zutrifft, was
er herausgefunden hat. Gedankt wird ihm noch
weniger dafür, dass er den Kehricht, der in den
Strassen herumstand, abgeräumt hat.
Aber es stimmt eben auch: Es braucht diese
Leute, die sich um ihren schlechten Ruf nicht
scheren. Auch das lehrt der Film «Spotlight».
Zuerst war nur Marty Baron mutig gewesen, als
ob ihm nichts etwas anhaben konnte, bald waren
es alle seine Journalisten. Wer je erlebt hat, wie es
sich anfühlt, wenn man im Gegenwind der Wohlmeinenden und Etablierten steht: In diesem Film
wird er sich wiedererkennen. Als die grossen Lastwagen, auf deren Planen Boston Globe prangte,
mitten in der Nacht losfuhren, um die Zeitung
auszuliefern, die endlich den Einwohnern von
Boston bekannt machte, worunter Tausende von
Kindern in ihrer Stadt gelitten hatten, als diese
Lastwagen losgeschickt wurden wie ein Heer, das
in den Krieg zieht, wie die rollenden Panzer der
Wahrheit: Da war ich zu Tränen gerührt. Ich gebe
es zu, auf die Gefahr hin, sentimental zu erscheinen. Noch nie haben mich Lastwagen so bewegt.
Weil sie so unübersehbar vor Augen führten, welche Macht selber eine solche Zeitung wie der
Boston Globe einst darstellte. Nur darum war diese
Zeitung auch in der Lage, eine noch formidablere
Macht wie die heilige, römische Kirche herauszufordern. Wenn ich an die Digitalisierung denke
und die vielen originellen Blogger und Websites,
die ohne jeden Zweifel am Entstehen sind,
beschleicht mich ab und zu der dunkle Gedanke:
Werden sie je so mächtig sein wie die Zeitungen
von gestern und heute? Haben die Gnädigen Herren und die heiligen Kirchen je noch so viel zu
befürchten?
Sobald Marty Barons Leute ihre Fakten zusammenhatten, baten sie den Kardinal um eine Stellungnahme: Kein Kommentar, hiess es aus der
Kirche. «Rufen Sie mich einfach an!», hatte der
Kardinal in glücklicheren Zeiten gesagt. Marty
Baron rief nicht an, sondern liess drucken.
Bazillus
Máximal stillos:
Königin Máxima
Von Sigfried Schibli
Deutschland hat wieder einen Anlass
zur Lieblingsbeschäftigung vieler Zeitgenossen gefunden: Empörung über
nationalsozialistische Symbolik. Nachdem der russische Opernsänger Evgenij
Nikitin vor Jahren seine Karriere unterbrechen musste und nicht in Bayreuth
singen durfte, nachdem man auf seiner
Brust eine dem Hakenkreuz ähnliche
Tätowierung entdeckt hatte, steht jetzt
die niederländische Königin Máxima
im Fokus. Bei ihrem Besuch in Nürnberg – immer dieses Frankenland! – fiel
Beobachtern der Mantel der aus Argentinien stammenden Regentin auf. Auf
diesem ist ein Ornament zu sehen, das
an ein Hakenkreuz erinnert. Dass vom
Zentrum des Ornaments kleine Strahlen wie von einer Sonne abgehen,
macht das Zeichen nicht weniger problematisch. Während die Verwendung
des Hakenkreuzes in Deutschland seit
1945 verboten ist, spazierte die Königin
in ihrem originellen Mantel seelenruhig durch die Stadt der einstigen
Reichsparteitage und liess sich feiern.
Es wird nicht an klugen Menschen fehlen, die wissen, dass die Swastika älter
als der Nationalsozialismus ist und
schon vor 10 000 Jahren in Asien vorkam. Dort galt sie als Glückssymbol.