(Schleswig-Holstein) – Abiturprüfung 2015 Aufgabe 1

Kernfach Deutsch (Schleswig-Holstein) – Abiturprüfung 2015
Aufgabe 1: Interpretation eines literarischen Textes
Thema:
Vom Sturm und Drang zur Klassik – Goethes Lyrik
Arbeitsgrundlage:
1. Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832): Reisezehrung (1807/08)
2. Ursula Krechel (*1947): Episode am Ende (1977)
Aufgaben:
1. Interpretieren Sie das Gedicht Reisezehrung von Johann Wolfgang von Goethe.
(60 %)
2. Vergleichen Sie es unter selbst gewählten Gesichtspunkten mit Ursula Krechels
Episode am Ende. (40 %)
Erlaubte Hilfsmittel:
– ein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung
Johann Wolfgang von Goethe
Reisezehrung
Entwöhnen sollt’ ich mich vom Glanz der Blicke,
Mein Leben sollten sie nicht mehr verschönen.
Was man Geschick nennt, lässt sich nicht versöhnen,
Ich weiß es wohl und trat bestürzt zurücke.
5
10
Nun wusst’ ich auch von keinem weitern Glücke;
Gleich fing ich an von diesen und von jenen
Notwend’gen Dingen sonst mich zu entwöhnen:
Notwendig schien mir nichts als ihre Blicke.
Des Weines Glut, den Vielgenuss der Speisen,
Bequemlichkeit und Schlaf und sonstge Gaben,
Gesellschaft wies ich weg, dass wenig bliebe.
So kann ich ruhig durch die Welt nun reisen:
Was ich bedarf, ist überall zu haben,
Und Unentbehrlichs bring ich mit – die Liebe. (104 Wörter)
Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Gedichte,
Bd. 2: 1800 –1832. Hrsg. von Karl Eibl, Darmstadt 1998, S. 253
2015-1
Ursula Krechel
Episode am Ende
5
10
15
20
Kaum hat der unbequeme junge Schriftsteller
die Schlösser seines Koffers zuschnappen lassen
kaum hat er seiner Freundin, der kurzweiligen
noch einmal über das Haar gestrichen, ich
komme ja wieder, bestimmt, sagt er, aber
mit seinem Kopf ist er schon weg.
Halte dich aufrecht, Mädchen!
Sie weiß nicht, ob sie weinen soll. Schließlich
hat sie keine Übung im Umgang mit Männern wie ihm.
Kaum ist er ins Taxi gestiegen, das hier sonnengelb ist
hat diese knappe Liebe und diese Stadt
mein Gott, diese wahnsinnige Stadt am anderen Ende
der Welt, in der einer wie er ein Mädchen braucht
wie das tägliche Brot, wie Toast, was sag ich
wie Buchweizenpfannkuchen mit Sirup
zuhause wird er es selbst nicht mehr glauben
hinter sich gelassen am Nachmittag
kaum ist im Flughafengebäude sein Körper
flüchtig abgetastet von einem Uniformierten
sitzt er schon im Flugzeug, Fensterplatz, Raucher
angeschnallt zwischen jetzt und später
macht es sich bequem in seinen fliegenden Schuhen
und schreibt ein Gedicht: kaum hab ich
die Schlösser meines Koffers zuschnappen lassen. (167 Wörter)
Aus: Ursula Krechel: Nach Mainz! Gedichte. Luchterhand 1977
2015-2
Hinweise und Tipps
r Die Aufgabe bezieht sich auf das Korridorthema „Vom Sturm und Drang zur Klassik
r – Goethes Lyrik“, das Ihnen aus dem Unterricht bekannt ist.
r Teilaufgabe 1 verlangt von Ihnen eine Gedichtinterpretation ohne vorgegebenen
r Schwerpunkt. Sie müssen daher inhaltliche, formale und sprachliche Elemente des
r Goethe-Gedichtes umfassend analysieren, strukturiert darstellen und zu einer schlüsr sigen Deutung führen. Es empfiehlt sich, eine strophenorientierte Interpretation vorr zunehmen: Stellen Sie zunächst die formale Gestaltung des Gedichtes dar und geben
r Sie kurze Inhaltsangaben zu den einzelnen Strophen. Schlagen Sie dazu Begriffe wie
r „Geschick“ (V. 3), die Ihnen nicht gebräuchlich sind, in dem zur Verfügung gestellr ten Wörterbuch nach. Ausgehend von den formalen und inhaltlichen Analyseergebr nissen können Sie Ihre Deutung entwickeln. Achten Sie hierbei darauf, auch die
r sprachlich-stilistische Gestaltung in ihrer Wirkung und Funktion mit einzubeziehen.
r Greifen Sie ebenfalls funktional auf Ihr literarhistorisches Wissen und Ihre Kenntnisr se zu Goethes Leben und Werk zurück, ohne jedoch eine einseitig biografische Deur tung des Gedichtes vorzulegen.
r In Teilaufgabe 2 ist ein Vergleich des Goethe-Gedichtes mit dem Gedicht von Ursula
r Krechel gefordert. Die Aufgabenstellung gibt ausdrücklich vor, dass Sie die Verr gleichsaspekte eigenständig wählen sollen. Diese sind daher zu benennen und zu ber gründen. Die gewählten Kriterien helfen Ihnen gleichzeitig, sich nicht in Details zu
r verlieren. Sie müssen zwar keine umfassende Analyse und Interpretation wie in Teilr aufgabe 1 vorlegen, doch sind eine genaue Lektüre des Krechel-Gedichtes und ein
r vertieftes Verständnis für die geschilderten Zusammenhänge notwendig, um die Texte
r miteinander vergleichen zu können. Beachten Sie, dass sowohl Ähnlichkeiten als
r auch Unterschiede auszuführen sind und dass diese auf inhaltlicher, formaler und
r sprachlicher Ebene vorhanden sein können. Am Schluss bündeln Sie Ihre Ergebnisse
r in einer kurzen Zusammenfassung.
Lösungsvorschlag
Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832) ist Deutschlands
großer „Dichterfürst“. Als junger Autor ist er prägend für die Erlebnisdichtung des Sturm und Drang, in der das schöpferische Aufbegehren des Individuums seinen Ausdruck findet. Mit seiner Reise
nach Italien 1786 –1788, die zur Begegnung mit der klassisch
griechischen Kunst führt, läutet Goethe die Ideale der Weimarer
Klassik ein: Schönheit, vollendete Form und der in sich ruhende,
gute Mensch. Das vorliegende Gedicht Reisezehrung (1807/08)
fällt bereits in die Übergangszeit zu seinem Alterswerk. Es thematisiert dabei nicht, wie der Titel erwarten ließe, das Reisen im Hinblick auf dessen materielle Erfordernisse (Verpflegung). Das
„ruhig[e] [Reisen] durch die Welt“ (V. 12) ist vielmehr eine Meta2015-3
Teilaufgabe 1
Einleitung: Hinführung zu Autor
und Werk
Epochenbezug
Deutungshypothese
pher für eine glückliche neue Lebensführung, die das Ich durch
Entsagung und Besinnung auf die im Inneren des Menschen
wohnende Liebe erreicht. Dass Reisezehrung in der Tradition
klassischer Dichtung steht, zeigt sich dabei in dem Streben nach
menschlicher Erneuerung, dem Ausweiten des Blicks vom Individuellen zum Allgemeinen und dem künstlerischen Anspruch auf
Harmonie von Inhalt und Form.
Das Gedicht folgt der festen Bauart des Sonetts: Die insgesamt 14
Verse sind in zwei Quartette und zwei Terzette aufgeteilt. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit der ersten beiden Strophen wird
dabei auf formaler Ebene gestützt: Beide Quartette kennzeichnet
ein umarmender Reim (abba, abba), der sich aus reinen („verschönen“ – „versöhnen“, V. 2 und 3) ebenso wie unreinen („Glücke“ –
„Blicke“, V. 5 und 8) Endreimen zusammensetzt. Die sich anschließenden Terzette sind durch einen verschränkten Reim (cde,
cde) miteinander verbunden. Alle vier Strophen weisen einen regelmäßigen 5-hebigen Jambus mit durchgehend weiblichen, also klingenden Kadenzen auf. Um diesen rhythmischen Gleichklang zu gewährleisten, finden sich wiederholt Apokopen wie „sollt’“ (V. 1)
und „wusst’“ (V. 5).
Hauptteil
Die ersten drei Strophen verweisen durch den überwiegenden Gebrauch des Präteritums auf ein vergangenes Geschehen, das abgeschlossen zurückliegt. Das lyrische Ich tritt gleich im ersten Vers
auf und stellt eine ihm schicksalhaft auferlegte Entsagung vor:
„[V]om Glanz der Blicke“ sollte es sich „[e]ntwöhnen“ (V. 1), sie
sollten sein Leben nicht länger „verschönen“ (V. 2). Unklar bleibt
an dieser Stelle jedoch, wessen glanzvolle „Blicke“ hier gemeint
sind. In Vers 8 wird dann zwar anstelle des Artikels das Possessivpronomen „ihre“ gewählt, doch bleibt auch so noch unbestimmt,
ob es sich – als Pluralform – um eine Gruppe (z. B. Freunde, Publikum) oder – als Singularform – um eine weibliche Person handelt.
Da später zusätzlich das Abweisen von „Gesellschaft“ (V. 11) angesprochen wird, liegt es allerdings nahe, dass in Abgrenzung dazu
eingangs die strahlenden Blicke der Partnerin bzw. Geliebten gemeint sind. Das in Strophe 1 personifizierte unversöhnliche
Schicksal („Geschick“, V. 3) dürfte vor diesem Hintergrund den
Bruch der Liebesbeziehung bedeuten, der das lyrische Ich in der
Folge „bestürzt“ (V. 4) zurücktreten ließ.
gedanklicher
Aufbau
Das folgende Quartett vertieft diese Abkehr, was sich nicht nur in
der Wiederholung des Objekts „Blicke“ (V. 8), sondern auch in der
erneuten Verwendung des Verbes „entwöhnen“ (V. 7) zeigt. Der
Akt des Aufgebens und Zurücklassens wird zudem durch das Enjambement (V. 6/7) betont. Im Zentrum der Strophe steht die Leere
2. Strophe
2015-4
Gedichtanalyse
und -interpretation:
formale
Gestaltung
1. Strophe