Seite 1/3 Rote gelbe grüne blaue … Exakt so war auch die Jungfrau zu ihrem Kind gelangt. Durch einen Mann. Und, ganz ehrlich, egal was die Typen behaupten – die Wahrheit ist, sie denken sich nichts dabei. Oder zumindest nichts Nettes … GAR NICHTS. So hatte ich es nun. Das Gärtchen, welches mir »ein Freund der Familie« vermacht hatte. Ich muss schon sagen: Tolle Familie, tolle Freunde. Die Idee, nach Nordgrönland auszuwandern, gewann deutlich an Attraktivität. Mitte 20, mit einem erfolgreichen, aber sinnlosen Studienabschluss am Rande des Prekariats lebend, liebeskummerverheulten Augen und leuchtenden Idealen sieht man die Welt halt anders. Aber ich hatte es nun, das Gärtchen. Ich kaufte mir ein Buch mit Praxistipps für den Hobbygärtner und sah meine Zukunft plötzlich golden durch die Entwicklung von Garten-Apps. Der wilde Charme entpuppte sich als Giersch, die romantische Gartenbank als morsch, das rustikale Regenfass als undicht, der Zaun als nicht gesetzeskonform, die Blumen waren blasser als meine Tattoos, die Maulwürfe zäher als die einzige Rindsroulade, die ich jemals gekocht habe. Beeindruckt schielte ich zu dem akkuraten Rosenbogen, der den Eingang des Grundstücks links schützte und schlich mich stets leise an dem rasenschulgleichen Vorgarten mit dem Schild »Videoüberwachter Bereich« des rechten Grundstücks vorbei. Dafür schloss ich schnell Freundschaft mit der Katze von gegenüber – da wusste ich noch nicht, dass der Tiger Maulwürfe verschmähte … Jedoch lernte ich so Herrn Huber kennen und er versorgte mich von da an mit Werkzeugen sowie Wissen. Sein Garten war von einer perfekten, hohen, blickdichten Hecke umgeben und das große, stets verschlossene Holztor zierte eine riesige Kuhglocke, deren tiefen Ton ich liebte, so oft ich ihn hervorlockte. Um ehrlich zu sein, das war oft. Und Herr Huber war irgendwie immer da. Kam, öffnete das Tor ein kleines bisschen, nickte wenn er mich erkannte – das Kopfwackeln war eh so eine Eigenheit von ihm – und ich konnte meinen Wunsch äußern, mein Problem schildern, meine Panik loswerden. Wobei, in letzteren Zustand geriet ich nur ein einziges Mal, als mir in MEINEM eigenen 1 Seite 2/3 Garten eine echte Schlange über den Weg kroch. Das war der Moment, als meine gesellschaftspolitischen Ideale schwer litten – ich teile ja gerne, aber NICHT mit einer Schlange. Er hatte immer einen Rat, wusste stets Bescheid. So aß ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Salat aus Gänseblümchen und Löwenzahn, erntete eigene Radieschen, sang den selbst gesäten bunten Blumen vor, betete für Regen und setzte Brennnesselsud an. Tempus fugit. Es war ein wunderschöner Sommerabend voll warmer Düfte und dem Zirpen der Grillen, als ich noch schnell zum Gießen zu meinem Gärtchen radelte und ein Kärtchen an meinem Gartentor fand: »Herr Manfred Huber lädt Fräulein Henriette anlässlich der ersten 100 Tage gelungener Nachbarschaft zu einem Freundschaftsfest ein. Freitagabend, 19:00 Uhr, Weg 6/2.« Die mit schwarzer Tinte geschriebenen Buchstaben waren überraschend rund und weich, das Papier handgeschöpft. Ich war ebenso gerührt wie erfreut. Was sollte ich anziehen? Was mitbringen? Mit dem nötigen Ernst vereinbarte ich einen Friseurtermin, erstand ein antiquarisches Exemplar der Jubiläums-Schrift des Vereins für Gartenbau und Kleintierzucht NeuRössen von 1925, durchwühlte meinen Kleiderschrank nach dem geblümten wadenlangen Sommerkleid, das sich noch irgendwo in meinem Besitz befinden musste und schwatzte meiner Großmutter ein Fläschchen selbstgebrannten Obstler von besagtem »Freund der Familie« ab. Pünktlich um 19:00 Uhr setzte ich die Kuhglocke in Schwung, gar ein bisschen aufgeregt, wie vor einem Rendezvous. Bei diesem Gedanken musste ich laut lachen, und genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür – weit, zum ersten Mal. Mit einer kleinen Verbeugung bat mich Herr Huber hinein. Ich übergab meine Präsente und musterte heimlich seinen Anzug – tatsächlich!! – der nicht mehr modern, aber weder abgetragen noch schmuddelig war – so wie die Umgebung. Ich stand auf einem gepflasterten Weg, der spitz auf eine schmale Öffnung in einer überkopfhohen, dichten Buchsbaumhecke zulief. Links und rechts von mir war Rasen, mehr nicht. Ich zögerte, aber Herr Huber schickte mich mit einer auffordernden Handbewegung vorwärts, durch die Hecke hindurch – hinein in einen Irrgarten. Unwillkürlich streckte ich die rechte Hand aus, 2 Seite 3/3 berührte die Hecke und setzte mich in Bewegung. Bei jeder Abzweigung bog ich, die Hand stets in Kontakt mit der Hecke, nach rechts. Gelangte ich in eine Sackgasse, wandte ich mich um und ging zurück bis zu der nächsten Abzweigung nach rechts. Es war unglaublich! Das unglaublichste war, dass in jeder Sackgasse auf Stäbe aufgesetzte Bierflaschen standen, in den unterschiedlichsten Formen, Größen und Farben, manche noch mit Etiketten, die meisten allerdings aufgrund der Feuchtigkeit nackt, aber dafür teilweise bemalt oder dekoriert, es gab zudem jede Menge Blumenbilder aus Bierdosen und -krügen, nicht zu vergessen die Formationstänze aus Flaschenöffnern, und als ich endlich den Zielplatz erreichte, saß Herr Huber schon dort, auf einer Bank aus Bierfässern, umrundet von Flaschenbäumen, bewacht von einem Minotaurus aus Kronkorken. Er beobachtete mich, wie ich mit offenem Mund – leider, eine bescheuerte Angewohnheit, von der ich mich nicht lösen kann – starrte und entdeckte und noch mehr starrte und noch mehr entdeckte. Mir fehlen selten die Worte, aber das hier … das hier … »Das hier…«, setzte ich an und brach wieder ab, fasziniert von der Anwesenheit der Unendlichkeit, die ich schon so lange nicht mehr verspürt hatte. Mein zweiter Ansatz war glücklicher: »Das hier ist einfach unglaublich!« Er zuckte abwiegelnd mit den Schultern und meinte: »Unglaublich?! Ach, SIE wollte einen eigenen Irr-, ICH einen Biergarten.« Pause. »So ist die Ehe …« 3
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