Semantisches Empowerment als erste Frage der Gerechtigkeit

 Henning Hahn
Franziska Dübgens Dissertationsschrift verbindet die post-koloniale
Kritik am westlichen Entwicklungsverständnis mit der jüngsten
Theoriebildung zu globaler Gerechtigkeit. Im Hintergrund ihrer
Ausführungen steht »ein Unbehagen an der Art und Weise, wie Entwicklungszusammenarbeit heute operiert, welchen Rechtfertigungen
sie folgt und was für Effekte sie hat« (269). Das Ziel ihrer Forschung
besteht darin, »dieses Unbehagen gerechtigkeitstheoretisch einzuholen und in ein normatives Vokabular zu übersetzen.« (269)
Dieses Vorhaben wird in drei Schritten umgesetzt: Den Ausgangspunkt bildet eine Dekonstruktion der verborgenen Beherrschungsstrukturen im westlichen Diskurs über Weltarmut und Entwicklung; im
Zentrum der Schrift steht dann zweitens die Weiterentwicklung der
jüngeren kritischen Theorie in Richtung eines, wie Dübgen es nennt,
komplexen Verständnisses transnationaler Gerechtigkeit; und ausblickend werden Ansätze zu einer solidarischen Politik als konkrete
Alternativen zur gegenwärtigen Entwicklungspolitik skizziert.
Um es vorweg zu sagen: Dübgens Verbindung der post-kolonialen
Theorieperspektiven mit dem globalen Gerechtigkeitsdiskurs und insbesondere ihre Auseinandersetzung mit nicht-westlichen, vornehmlich
afrikanischen Philosophinnen und Philosophen macht ihr Buch zu
einem äußerst lesenswerten Stück der jüngeren kritischen Theorie.
Dies wird insbesondere im ersten Teil deutlich, in dem sie in den
diskursiven Idiomen von Armut und Entwicklung eine post-koloniale
Grundhaltung freilegt. In diesen Diskursen werden Bewohnerinnen
und Bewohner des globalen Südens abwechselnd als unterentwickelte Mängelwesen infantilisiert oder als »ein DollarFranziska Dübgen (2014): Was ist gerecht? KennWesen« (232) enthumanisiert.
zeichen einer transnationalen solidarischen Politik,
Dahinter steht die semantische
Frankfurt/M. / New York: Campus. 330 S., ISBN 978Aufspaltung zwischen Barmher3-593-50099-7, EUR 39,90.
zigen (Geberstaaten) und BittDOI: 10.18156/eug-2-2015-rez-4
stellern (Entwicklungsländern),
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Semantisches Empowerment als erste Frage
der Gerechtigkeit: Franziska Dübgens Polylog
über transnationale Solidarität und post-koloniale Kritik
worin sich nicht einfach nur Herablassung ausdrückt, sondern eine
subversive Form politischen Herrschaftsdenkens Gestalt annimmt.
Das Bild von bedürftigen, erst noch zu entwickelnden Ländern werde
letztlich dazu eingesetzt, Übergriffe und Vormundschaft zu legitimieren. Dübgens genereller Verdacht lautet daher, dass
Entwicklungs- und Kreditprogramme gezielt dazu beitragen, Dependenzen zu festigen, geopolitische Einflussbereiche zu erschließen
und nicht-wettbewerbsfähige Volkswirtschaften an das neoliberale
Wirtschaftssystem anzuschließen, um Rohstoffe und Human Capital
auszubeuten.
Es ist dieser Zusammenhang zwischen der semantischen Konstruktion von Armut auf der einen und politischer Beherrschung auf der
anderen Seite, der sich auch im Zentrum von Dübgens Gerechtigkeitsansatz wiederfindet. Zusammengefasst vertritt sie eine komplexe
Theorie transnationaler Gerechtigkeit (vgl. 142), in der politische,
ökonomische und epistemische Beziehungen eigenständige Gerechtigkeitsfelder markieren (vgl. 154). Den Theorierahmen liefert die
gegenwärtige Führungsetage der kritischen Theorie, repräsentiert
durch Rainer Forst, Iris Young und Nancy Fraser. Dübgen folgt ihnen
vor allem darin, dass sie die Bedeutung politischer Gerechtigkeit
gegenüber materieller Umverteilung hervorhebt. Insbesondere teilt sie
Youngs Kritik an distributiven Gerechtigkeitstheorien. Demnach gehe
es weniger darum, gerechte Verteilungsmuster zu konstruieren, als
darum, die Frage nach der Macht zu stellen, wer wie über reale
Verteilungsprozesse mitbestimmen kann. Darin folgt sie Forsts
grundlegender Forderung, den Erfahrungen und Narrativen ausgegrenzter Gruppen Gehör in der öffentlichen Rechtfertigungsarena
zu verschaffen (vgl. 160). Und mit Fraser hebt sie hervor, dass der
Anspruch auf Repräsentation – in der Doppelbedeutung von
semantischer Darstellung und politischer Vertretung – auf einen
erweiterten Demos auszuweiten ist, der alle strukturell Beherrschten
einbezieht.
Frasers normativer Leitbegriff lautet: partizipatorische Parität, eine
Teilnahmegleichheit, die nach Dübgen aber nicht bloß politisch zu
verstehen sei, sondern auch als Kriterium an das ökonomische
Gerechtigkeitsfeld angelegt werden könne. Denn auch der Anspruch
auf Umverteilung basiere auf dem fundamentalen Recht, seine
Interessen in der Öffentlichkeit als Gleicher artikulieren zu können.
Darum ist es kein Widerspruch, wenn Dübgen im Hinblick auf
transnationale Gerechtigkeit eine Wiederkehr ökonomischer Teilhabeforderungen beobachtet (vgl. 184) und selbst (mit Henry Oruka) vom
Vorrang des ökonomischen Gerechtigkeitsfeldes spricht (vgl. 194).
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Denn auch hier gilt, dass distributive Gleichheit kein Selbstzweck ist,
sondern dass ein Anspruch auf ein menschliches Minimum (vgl. 194)
als Voraussetzung eines demokratischen Egalitarismus gerechtfertigt
wird, also als materielle Voraussetzung dafür, sich als Gleicher
politisch einbringen zu können.
Wenn Dübgen ökonomische Gerechtigkeit somit als gleichursprünglich mit politischer Gerechtigkeit bezeichnet, kaschiert das
ein wenig, dass ökonomische Ansprüche vorwiegend aus Sicht
politischer Teilhabe gerechtfertigt werden. Ansätze, die mit Grundbedürfnissen oder glücksegalitaristisch argumentieren, lehnt sie
ausdrücklich ab, weil darin ein »Zeitgeist zum Ausdruck« komme, der
die Frage nach Gerechtigkeit »depolitisiert« und »Fragen der
Messbarkeit […] machtvergessen technisiert« (204).
Das dritte, epistemische Gerechtigkeitsfeld bezieht sich schließlich
auf die Art und Weise, wie soziale Verhältnisse diskursiv präsentiert
werden (216). Ihre Überlegungen folgen hier insbesondere Miranda
Frickers Konzeption epistemischer Ungerechtigkeit. Für Dübgen
besteht ein »interepistemisches Unrecht« darin, dass die vorherrschenden Begriffsordnungen (symbolische Repräsentationen,
diskursive Formationen oder Rechtfertigungsnarrative) immer schon
ideologisch wirksam werden, also soziale Ausschlüsse legitimieren
oder Machtverhältnisse verschleiern. Vor diesem Hintergrund bedeutet globale Gerechtigkeit zunächst einmal epistemisches
Empowerment: Die Befähigung der weltweit Unterdrückten, ihr
strukturelles Beherrschtwerden begreifen und eine eigene Sprache
des gerechtfertigten Protestes in Anschlag bringen zu können. Statt
um Hilfe zu bitten, sollten Arme die oftmals subtilen Formen ihrer
Unterdrückung begreifen und selbst für ihre Ansprüche streiten
lernen.
Dübgen hat die politischen, ökonomischen und epistemischen
Gerechtigkeitsfelder als eigenständige Kontexte der Gerechtigkeit
eingeführt. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass sie nicht
nur einen Primat der Politik gegenüber Umverteilung verteidigt,
sondern dass sie mit dem Aspekt epistemischer Gerechtigkeit eine
noch fundamentalere Kategorie eingezogen hat. Die erste Frage der
Gerechtigkeit wäre dann die nach der semantischen Macht, den
eigenen Standpunkt artikulieren und dann auch politisch vertreten zu
können. Bestätigt wird dieser Eindruck, wenn Dübgen mit Fraser
Repräsentation als »übergeordnete Kategorie der Metagerechtigkeit«
(236) beschreibt. Gerade weil es unterschiedliche berechtigte
Gerechtigkeitsanliegen gebe, sei es letztlich entscheidend darauf zu
achten: »Wer spricht? Wer wird gehört?« (236)
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Im Abschlusskapitel zeigt Dübgen dann exemplarische Formen
transnationaler Solidarität auf. Solidarität mit den Armen dieser Welt
bedeute die Ermöglichung einer transformativen politischen Praxis, in
deren Zuge dominierende Sichtweisen irritiert und marginalisierte
Ansprüche aus dem Verborgenen hervorgeholt und öffentlich
artikuliert werden. Als Beispiele dienen ihr Schlingensiefs Operndorfprojekt in Burkina Faso und das Weltsozialforum. Auch wenn ihre
Theorie in idealer Perspektive auf eine globale Demokratisierung
zuzulaufen scheint, kann sie damit auch unter nichtidealen
Bedingungen zeigen, wie eine politisch-epistemische Ermächtigung
glücken könnte.
Was es vor allem lohnenswert macht, Dübgens Studie zu lesen, ist
die Tatsache, dass sie nicht einfach nur eine vorhandene Theorieentwicklung weiterführt oder verteidigt. Von Anfang an zielte die
Theoriebildung zu globaler Gerechtigkeit darauf, Armut nicht einfach
nur als Unglück, sondern als Ungerechtigkeit zu erfassen und durch
diese semantische Verschiebung Anspruchshaltungen zu erzeugen.
Nach Peter Singer sollten wir über Weltarmut nicht mehr länger unter
dem Gesichtspunkt der Barmherzigkeit, sondern im Bewusstsein
einforderbarer Gerechtigkeitspflichten sprechen. Thomas Pogge
schärfte dann den Blick dafür, dass Armut das Resultat einer
ungerechten globalen Grundstruktur ist, für die wir politisch mitverantwortlich zeichnen. Schließlich haben uns die von Dübgen aufgerufenen Protagonistinnen und Protagonisten der neueren kritischen
Theorie darauf aufmerksam gemacht, dass Weltarmut als eine Frage
struktureller und nicht zuletzt diskursiver Machtasymmetrien verstanden werden muss.
Was Dübgens Arbeit in meinen Augen noch einmal aus dieser
Entwicklung heraushebt, ist, dass sie nicht bei der Forderung nach
politisch-diskursiver Emanzipation stehen bleibt, sondern selbst eine
andere, nämlich polyloge Art der Theoretisierung präsentiert – das ist
eine Theorie, die als Korrektiv eine Reihe nicht-westlicher, meist
afrikanischer Philosophinnen und Philosophen zu Wort kommen lässt.
Ganz sicher wird die Frage fortbestehen, ob nicht auch ihr Ansatz
einer eingeschränkten Sichtweise auf Gerechtigkeit und Armut folgt,
die sich vor dem Hintergrund eines westlichen Demokratieverständnisses herausgebildet hat und ihrerseits wichtige Vorzüge materieller
Entwicklungshilfe verbirgt. Entwicklungshilfe immer schon als ein
Vehikel post-kolonialer Beherrschung zu betrachten, folgt einer
ideologiekritischen Kultur des Generalverdachts, die meines Erachtens noch einmal mit Blick auf unterschiedliche Ansätze und Fälle
ausdifferenziert werden müsste. Im Resultat lässt sich aber sagen,
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dass Dübgen dieser Kritik bereits selbstreflexiv entgegenkommt und
dass sie zurecht einfordern kann, ihren grundsätzlich vorgetragenen
Verdacht im Einzelfall zu prüfen.
Henning Hahn, *1972, Dr. habil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Forschungsschwerpunkt Ethik der Globalisierung, Universität Kassel,
und Gastprofessor am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der
Kollegforschergruppe Iustitia Amplificata, Freie Universität Berlin
([email protected]).
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Zitationsvorschlag:
Henning Hahn (2015): Rezension Semantisches Empowerment als erste Frage der Gerechtigkeit: Franziska
Dübgens Polylog über transnationale Solidarität und postkoloniale Kritik (Ethik und Gesellschaft 2/2015: Depression und subjektivierte Arbeit).
Download unter: https://dx.doi.org/10.18156/eug-2-2015rez-4 (Zugriff am [Datum]).
ethikundgesellschaft
ökumenische zeitschrift für sozialethik
2/2015: Depression und subjektivierte Arbeit
Alexander Hirschfeld: Arbeit und psychische Erschöpfung:
Zur Genese und Entwicklung des Konzepts Burnout
Greta Wagner: Arbeit, Burnout und der buddhistische Geist
des Kapitalismus
Stefanie Graefe: Subjektivierung, Erschöpfung, Autonomie:
eine Analyseskizze
Martin Schütte: Depression, Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit:
Empirische Befunde
Ralf Kronig: Praxisbericht zu betriebspolitischen Handlungsmöglichkeiten bei SAP SE
Martina Frenzel, Stephan Siemens: Die Teamanalyse als
Instrument der betrieblichen und gewerkschaftlichen Burnout-Prävention
Andrea Fergen: Neue Arbeitswelt – alter Arbeitsschutz. Die
Anti-Stress-Initiative der IG Metall
Matthias Möhring-Hesse: ... und wieder nicht befriedet. Die
neue-alte Widersprüchlichkeit subjektivierter Arbeit
Torsten Meireis: The Circle: Die neue Kolonisierung des
inneren Menschen