1 Dr. Ulrike Murmann Predigt im Literaturgottesdienst in St

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Dr. Ulrike Murmann
Predigt im Literaturgottesdienst in St. Katharinen am 14.2.2016 zu Dörte Hansen
„Altes Land“
Liebe Gemeinde,
nach Annes und Leons Einzug in das Alte Bauernhaus von Vera Eckhoff werden die
drei zu Hausgenossen. Anne beginnt, ganz behutsam und allmählich, das Haus vor
dem Verfall zu bewahren und restauriert mit ihrem früheren Tischlermeister die
Fenster und Giebel, die Fassade und das Dach. Ihr kleiner Sohn Leon befreundet
sich mit Nachbarsjungen. Vera, die eine verschrobene und raubeinige
Einzelgängerin geworden ist, nimmt die Hilfe ihrer neuen Mitbewohner nach
anfänglicher Skepsis immer dankbarer an. Aus Flüchtlingen werden Mitbürger, aus
Fremden werden Hausgenossen – das alte Haus wird ihnen zur Heimat – wenigstens
für die gewisse Zeitspanne ihres Lebens:
„Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nennt`t ook noch sien“ (7).
Häuser überdauern uns und erzählen Geschichten von Heimatsuchenden und
Gestrandeten, von Familienschicksalen in Kriegs- und Friedenszeiten.
Dörte Hansen verwebt in ihrem Roman „Altes Land“ die Flüchtlingsgeschichte von
Vera, die nach dem 2. Weltkrieg als kleines Kind an der Hand ihrer Mutter auf den
Hof im Alten Land Schutz suchte und dort hängen blieb, mit dem Lebensweg ihrer
Nichte Anne, die man auch als eine Heimatlose oder Heimatsuchende bezeichnen
könnte: Sie wurde von ihrem talentierten jüngeren Bruder vom Klavier vertrieben und
damit aus der bewundernden Obhut ihrer ehrgeizigen Mutter. Sie brach ihr
Musikstudium ab, um auf die Walz zu gehen und eine Tischlerlehre zu beginnen. Sie
flieht aus ihrer Wohnung in Hamburg - Ottensen, nachdem sie entdeckt, dass ihr
Ehemann sie betrügt: Sie ist „ein Mensch auf Wanderschaft … Ankommen, glänzen,
abhauen, wie früher bei Jugend musiziert“, so stellt sie fest, „aber es [geht] viel
schwerer mit einem kleinen Jungen auf dem Arm“ (80).
Mir ist zu diesem Roman jener Satz aus dem Epheserbrief eingefallen, den wir eben
schon gehört haben:
So sind wir nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen
und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da
Jesus Christus der Eckstein ist (Eph 2, 19f.).
Er reflektiert das Leben der ersten christlichen Gemeinden, die sich im Umfeld der
jüdischen und der griechischen Welt bildeten und natürlich zunächst als Fremdlinge
angesehen wurden. Bis ins 4. Jahrhundert wurde immer wieder davon berichtet, dass
Christen wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet wurden. Die Namensgeberin
unserer Kirche, die heilige Katharina, hat dieses Schicksal auch erlitten. Die Christen
der ersten Generationen waren Flüchtlinge und Fremdlinge in den Ländern, in die sie
aufbrachen. Sie flohen vor Verfolgung und Not, vor Hunger und Armut. Das
Christentum wäre keine Weltreligion geworden, wenn sich damals nicht Menschen
auf den Weg über das Mittelmeer gewagt hätten, um mit ihren Familien Schutz und
Aufnahme in fremden Ländern zu finden. Die Fremden, das sind nicht nur die
Anderen, sondern in christlicher Tradition sind sie ein wesentlicher Teil unserer
eigenen Existenz.
Daran muss ich oft denken, wenn ich die heutigen Flüchtlingsströme sehe und mir
vorstelle, welche Schrecken sie in den Kriegsgebieten erleben müssen, wie viel Leid
und Tod ihre Kinder schon ansehen und ertragen müssen und wie groß ihre
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Sehnsucht nach einem Ort der Sicherheit und des Friedens sein muss. Leider
verlängert sich für viele Flüchtlinge die Unsicherheit und Angst in unserem Land.
Wenn sie es denn bis nach Deutschland geschafft haben, finden sie zwar Aufnahme
in Zelten, Turnhallen oder Containerdörfern, aber sie warten Monate auf die
Bearbeitung ihres Asylantrags. Sicherlich haben Sie, liebe Gemeinde, auch die
Berichte über katastrophale Zustände in einigen zentralen
Erstaufnahmeeinrichtungen gelesen – dafür kann man sich nur schämen. Unser
wohlhabendes und wohl verwaltetes Land ist nicht in der Lage, diesen Zustrom zu
bewältigen. Und die Stimmen derer werden immer lauter, die gar keine Fremden bei
sich dulden wollen.
In vielen unserer Kirchengemeinden sieht es anders aus. Zusammen mit anderen
Initiativen und Organisationen engagieren sich Christinnen und Christen für die
Migranten: Sie geben Deutschunterricht und organisieren Kinderbetreuung und
Sportangebote. Sie begleiten minderjähriger Flüchtlinge und kämpfen für kleinere
Flüchtlingswohnunterkünfte. Sie wollen ihren Beitrag leisten, damit Integration
gelingen kann – und das bedeutet: Nicht nur die Zugereisten müssen unsere
Sprache und Kultur kennen lernen, sondern auch wir ihre. Denn wir sind alle, so
vielfältig unsere Herkunftsgeschichten mittlerweile sind, Mitbürger in dieser Stadt, die
uns nicht gehört, und auf dieser Erde, die uns nicht gehört, sondern die wir gemäß
dem Schöpfungsauftrag Gottes bebauen und bewahren.
So deute ich diese Worte aus dem Epheserbrief, liebe Gemeinde: Zunächst einmal
sind wir alle Hausgenossen Gottes, Mitbewohner auf seiner Erde, Kinder dieses
einen Schöpfergottes. Daraus folgt der humanistische Gedanke, dass jeder Mensch
ein Recht hat, auf dieser Welt zu leben, und zwar unversehrt. Jeder Mensch hat ein
Recht auf Nahrung und Kleidung, auf Bildung und Arbeit, auf ein religiöses und
kulturelles Leben. Auf dieser Erde ist das Christentum ist eine Religion unter vielen.
Es gehört zu seinem Wesen, dass es die Vielzahl anderer Religionen nicht verurteilt,
sondern die religiöse Vielfalt achtet. Wir glauben an den einen Gott, der sich uns in
Jesus Christus gezeigt hat (er ist der Eckstein), und der durch seinen Geist unter uns
wirkt. Wir können daraus aber nicht folgern, dass dieser eine Gott sich anderen
Völkern nicht auf andere Weise zeigt und unter ihnen einen anderen Glauben wirkt.
Deswegen suchen wir den Dialog zwischen den Religionen.
Viele Christen beziehen sich dabei auf das Gebot Gottes im Alten Testament, das wir
vorhin hörten: „Der Herr, euer Gott, schafft Recht den Waisen und Witwen und hat
die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die
Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“ (Dtn 10,
18f.). Die Fremdlinge stehen unter dem Schutz Gottes, betont die Bibel.
Andere berufen sich auf Jesus Christus, der gesagt hat: „Was ihr getan habt einem
von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Jesus war
in gewisser Weise selbst ein Obdach- und Heimatloser, darauf angewiesen, das
andere ihn aufnahmen. So überliefert der Evangelist Matthäus das Jesuswort: „Die
Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der
Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8, 20). Und über dem
Eingang unserer Kirche steht das Wort aus dem Hebräerbrief: „Wir haben hier keine
bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14). In einem
übergeordneten Sinn sind wir alle nur Pilger auf Erden und haben unsere wahre
Heimat nicht hier, sondern im Himmel bei Gott. Diesen Gedanken möchte ich Ihnen
heute mitgeben, liebe Gemeinde.
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Ich weiß nicht, welchen Ort Sie Heimat nennen? Wann und wo haben Sie
heimatliche Gefühle und welche Bedeutung haben diese für Ihr Leben? Ist es Ihre
Wohnung oder Ihr Haus, eine Stadt oder eine Landschaft? Ist es der Ort, an dem Sie
geboren wurden und an dem Sie aufgewachsen sind, oder die Stadt, der Sie heute
leben? Zu meiner Heimat gehören Meer und Mövengeschrei, Winde und
Wolkengebilde, Deiche und Kirchen – und eben auch jener Ort im Himmel, der mir
durch Jesus Christus verheißen ist. Aber Heimat ist auch da, wo man Freunde hat oder eben Familie.
Letzteres gilt wohl für die Frauen in Dörte Hansens Buch. Das verwitterte alte Haus
führt sie zusammen und wird zur Heimat der Heimatlosen. Bis Anne bei ihr
auftauchte, hatte Vera in dem Haus nichts ausgebessert, sie hatte nichts Neues
erworben und nichts Altes entsorgt. Sie lebte darin, als gehörte es ihr nicht. Nun lebte
es wieder auf, frische Farbe wurde aufgetragen und frische Luft hereingelassen.
Veras Haus begann wieder zu atmen und Vera auch.
Die Inschrift an seinem Giebel ist weise und wegweisend: „Dit Huus is mien un doch
nich mien, de no mi kummt, nennt`t ook noch sien.“
Da, wo wir hinkommen, schlagen wir Wurzeln, bauen Häuser oder erhalten sie –
zugleich aber ahnen wir, dass wir nirgends wirklich zu Hause sind, sondern
unterwegs zu einem Ziel, das nicht auf Erden zu finden ist. Unser Ziel ist Gott, wir
sind seine Hausgenossen und Erben, heute und in Ewigkeit.
Amen.