LESEPROBE Susan Wiggs: Mit dir für immer Band 25892 Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH Originaltitel: Starlight On Willow Lake Übersetzer: Ivonne Senn 1. KAPITEL Mason Bellamy schaute zu dem Berg hinauf, der seinen Vater getötet hatte. Der Name des Berges war so unschuldig – Cloud Piercer, Wolkendurchstecher. Das üppige Licht der neuseeländischen Wintersonne warf seinen Zauber über den Augenblick. Schneebedeckte Hänge glühten im unglaublichen Rosa und Dunkelviolett eines seltenen Edelsteins. Die Neuseeländischen Alpen mit ihren Granitadern und dem Gletschereis bildeten einen atemberaubenden Hintergrund vor einem Himmel, der so klar war, dass es in den Augen brannte. Ein knochiger weißer Funkturm, dessen Satellitenschüssel Signale aus dem Weltall empfing, erhob sich auf einem nahe gelegenen Gipfel. Die einzige andere Störung der Schönheit der Natur befand sich oben auf dem Hang – ein schwarzgelbes Tor mit dem Hinweis: „Nur für Profis“. Daneben prangte ein rundes Zeichen zur Anzeige der Lawinengefahr, dessen Zeiger auf „mittel“ stand. Er fragte sich, ob jeden Tag jemand den ganzen Weg hier heraufkam, um die Nadel auf dem Schild einzustellen. Vielleicht hatte sein Vater letztes Jahr die gleiche Überlegung angestellt. Vielleicht war das der letzte Gedanke gewesen, der ihm durch den Kopf gegangen war, bevor er unter zweihunderttausend Kubikmetern Schnee begraben wurde. Nach Aussage von Zeugen aus der Stadt am Fuße des Berges war es eine trockene Lawine gewesen, deren Pulverschneewolke jeder Einwohner von Hillside Township hatte sehen können, sobald er hinaufschaute. Der Unfallbericht besagte, dass es einen Moment gedauert hatte, bis man die Lawine hörte. Dann aber hatte man das Donnern im Umkreis von mehreren Meilen vernommen. Bei den Maori aus der Gegend rankten sich viele Legenden um den Berg. Die Eingeborenen respektierten seine drohende Schönheit genauso wie seine tödliche Natur. Ihre Mythen waren erfüllt von belehrenden Geschichten über Menschen, die von ihm verschluckt worden waren, um die Götter zu besänftigen. Seit Generationen forderte der stolze Fels, der das ganze Jahr über in Schnee gehüllt war, die waghalsigsten Skifahrer der Welt heraus. Die strahlende Nordseite war Trevor Bellamys Lieblingsabfahrt gewesen. Und seine letzte. Trevors letzter Wunsch, den er in seinem Testament verfügt hatte, war es, der Mason hierher ans andere Ende der Welt geführt hatte, mitten hinein in den Winter auf der südlichen Erdhalbkugel. Im Moment war ihm jedoch alles andere als kalt, denn bei der Ersteigung des Berges war er ordentlich ins Schwitzen geraten. Er zog den Reißverschluss seines Parkas auf. Diese Piste war nur für die zugänglich, die gewillt waren, sich von einem Helikopter zu einem Landeplatz auf dreitausend Metern Höhe bringen zu lassen und dann auf Skiern, die mit besonderen AntiRutsch-Überziehern ausgestattet waren, mehrere Hundert Meter weiter hinaufzustapfen. Er schnallte seine Skier ab und zog die mit einem Klettverschluss befestigten Überzieher von den Unterseiten, um sie sorgfältig in seinem Rucksack zu verstauen. Dann betrachtete er erneut den Berg. Dabei spürte er, wie das Adrenalin durch seinen Körper kreiste. Wenn es darum ging, an gefährlichen Orten Ski zu fahren, war er ganz der Sohn seines Vaters. Das Geräusch rhythmischen Scharrens zog seine Aufmerksamkeit auf den Weg, den er gerade erklommen hatte. Er schaute hinüber und hob überrascht einen Skistock. „Hier drüben, Kumpel.“ Adam Bellamy legte das letzte Stück des Weges zurück. Mit einer Hand schirmte er seine Augen gegen die tief stehende Sonne ab. „Du hast gesagt, du würdest mir ordentlich Dampf machen, und das hast du“, rief er. Seine Stimme hallte über das eisige Terrain. Mason grinste seinen jüngeren Bruder an. „Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Aber sieh dich an. Du schwitzt noch nicht mal.“ „Methionin. Für die Arbeit werden wir alle drei Monate auf unsere Stoffwechselkondition getestet.“ Adam war Feuerwehrmann mit einer Statur, die es ihm ermöglichte, seine achtzig Pfund schwere Ausrüstung Treppen hinaufzuschleppen. „Cool. Mein einziges Ausdauertraining besteht darin, morgens die letzten Meter zu sprinten, um meine U-Bahn nicht zu verpassen.“ „Das harte Leben eines internationalen Finanzmanagers“, sagte Adam. „Einen Moment, ich hole schnell meine kleine Geige raus.“ „Wer sagt denn, dass ich mich beschwere?“ Mason nahm seine Brille ab, um etwas Antibeschlagspray aufzutragen. „Ist Ivy auch in der Nähe? Oder hat unsere kleine Schwester unterwegs ein Team aus Bergführern engagiert, die sie den Berg hinauftragen, damit sie ihn nicht auf ihren Skiern erklimmen muss?“ „Sie ist nah genug, um dich zu hören“, sagte Ivy, die in diesem Moment auf dem Bergkamm erschien. „Und befinden die Bergführer sich nicht derzeit im Streik?“ Sie trug einen umwerfenden türkisgrünen Parka und eine weiße Skihose, dazu eine Gucci-Sonnenbrille und weiße Lederhandschuhe. Ihr blondes Haar quoll wild und windzerzaust unter ihrem Helm heraus. Vor Masons innerem Auge blitzte das Bild ihrer Mutter auf. Ivy sah ihr so ähnlich. Er verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er an Alice Bellamy dachte. Ihre letzte Abfahrt war ebenfalls hier auf diesem Berg gewesen. Aber anders als Trevor hatte sie überlebt. Wenngleich einige behaupteten, das, was ihr zugestoßen war, sei wesentlich schlimmer, als zu sterben. Ivy stapfte auf ihren Skiern zu ihnen. „Hört mal, ihr zwei. Ich will es nur vorher gesagt haben: Wenn ich die Erde eines Tages verlasse, erwarte ich nicht, dass meine erwachsenen Kinder ihr Leben riskieren, nur um meine Asche zu verstreuen. Stellt sie einfach in der Schmuckabteilung von Neiman Marcus ab. Das reicht mir völlig.“ „Den Wunsch solltest du lieber aufschreiben“, sagte Mason. „Woher willst du wissen, dass ich das nicht schon längst getan habe?“ Sie zeigte auf Adam. „Hilf mir mal, diese Überzieher von den Skiern abzumachen, ja?“ Nacheinander hob sie ihre Skier an und steckte sie aufrecht in den Schnee. Adam entfernte mit geübter Hand die Folien unter den Laufflächen. Dann tat er dasselbe bei seinen Skiern und stopfte die Überzieher in seinen Rucksack. „Das ist wahnsinnig steil, genau, wie Daddy es immer beschrieben hat.“ „Hast du Schiss?“ Ivy zog den Kinnriemen an ihrem Helm fest. „Bin ich jemals vor einer Piste zurückgeschreckt?“, erwiderte Adam. „Ich werde es jedoch langsam angehen lassen. Keine verrückten Tricks.“ Alle drei ließen sie den Blick über die wunderschöne Abfahrt schweifen, die im Licht der spätnachmittäglichen Sonne unglaublich friedlich vor ihnen lag. Es war das erste Mal, dass sie sich an diesem Platz aufhielten. Als Familie waren sie an allen möglichen Orten zusammen Ski gefahren, aber nie hier. Dieser besondere Berg war die spezielle Domäne ihres Vaters und ihrer Mutter gewesen. Sie standen in der Reihenfolge ihrer Geburt – Mason, der Erstgeborene, derjenige, der ihren Vater am besten kannte. Adam, drei Jahre jünger, hatte Trevor am nächsten gestanden. Und Ivy, noch in den Zwanzigern, war das sprichwörtliche Baby der Familie – angebetet, anspruchsvoll, scheinbar zerbrechlich, aber mit dem Herzen einer Löwin. Sie hatte die Zuneigung ihres Vaters so sicher dominiert, wie die Sonne die Dämmerung dominierte, auf eine Weise, wie nur eine Tochter es konnte. Mason fragte sich, ob seine Geschwister jemals die Dinge über ihren Vater erfahren würden, die er wusste. Und falls ja, würde das etwas an ihren Gefühlen für ihn ändern? Sie standen nebeneinander, ihr Schweigen mächtiger als jede Unterhaltung, die sie hätten führen können. „Es ist unglaublich“, sagte Ivy nach einer langen Pause. „Die Bilder werden dem nicht gerecht. Vielleicht war Dads letzter Wunsch gar nicht so verrückt. Das hier ist womöglich der hübscheste Berg aller Zeiten und ich werde ihn mit meinen beiden besten Kumpels erleben.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, Mom könnte hier sein.“ „Ich werde alles filmen“, sagte Adam. „Wir schauen es uns dann gemeinsam an, wenn wir nächste Woche wieder in Avalon sind.“ Ein Jahr nach dem Unfall versuchte ihre Mutter, sich an ein neues Leben an einem neuen Ort zu gewöhnen – ein kleines Städtchen in den Catskills am Rande des Willow Lake. Mason war sich sicher, dass das nicht das Leben war, das Alice Bellamy sich für sich vorgestellt hatte. „Hast du ihn?“, fragte Adam. Mason schlug sich mit der flachen Hand an die behelmte Stirn. „Verdammt. Ich habe ihn vergessen. Warum wartet ihr beide nicht hier, während ich nach unten fahre, mir die Asche schnappe, mich vom Helikopter wieder raufbringen lassen und dann noch einmal das letzte Stück auf Skiern hochsteige?“ „Sehr lustig“, sagte Adam. „Natürlich habe ich ihn.“ Mason setzte seinen Rucksack ab und wühlte darin herum. Dann zog er ein in ein marineblaues Tuch eingeschlagenes Gefäß heraus. Er wickelte es aus und reichte das Tuch Adam. „Ein Bierseidel?“, fragte Ivy. „Was anderes habe ich nicht gefunden“, erwiderte Mason. Der Seidel war unglaublich kitschig. Mason hatte ihn während seiner Collegezeit erstanden. Er war bunt bemalt mit einer Szene, die einen lachenden Falstaff zeigte, und hatte einen Deckel aus Zinn. „Die verdammte Urne, in der sie ihn angeliefert haben, war zu groß. Die hätte niemals in mein Gepäck gepasst.“ Mason verschwieg seinen Geschwistern lieber, dass die Hälfte der Asche auf dem Fußboden seines Wohnzimmers in Manhattan gelandet war. Trevor Bellamy von der Urne in den Bierseidel zu bekommen war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte. Erschrocken von der Vorstellung, dass sein Vater in den Fasern seines Teppichbodens steckte, hatte er die verschüttete Asche aufgesaugt und war jedes Mal zusammengezuckt, wenn eins der größeren Teile geräuschvoll in den Beutel gesogen worden war. Dann hatte er es nicht über sich gebracht, den Staubsaugerbeutel einfach in den Müll zu werfen, also war er auf den Balkon hinausgegangen und hatte die Überreste auf der Avenue of the Americas verstreut. An dem Tag hatte ein leichter Wind geherrscht und die pingeligste Nachbarin des Hochhauses hatte ihren Kopf aus dem Fenster gesteckt und mit erhobener Faust gedroht, den Hausmeister über seinen Verstoß zu informieren. Der Großteil der Asche war wieder auf den Balkon zurückgeweht. Mason hatte schließlich abgewartet, bis der Wind abgeflaut war, und die Reste dann mit einem Besen vom Balkon gefegt. Also hatte es nur der halbe Trevor Bellamy in den Bierseidel geschafft. Was angemessen war, wie Mason fand. Ihr Vater war ja auch zu seinen Lebzeiten immer nur halb da gewesen. „Ich habe damit kein Problem“, sagte Adam. „Dad hat sein Bier geliebt.“ Mason hielt den Bierseidel hoch. Er hob sich stark gegen das schwächer werdende Licht des nachmittäglichen Himmels ab. „Ein Prosit“, sagte Adam. „Salut“, sagte Mason auf Französisch, der Sprache, die ihr Vater wie eine Muttersprache gesprochen hatte. „Cin cin.“ Ivy, die Künstlerin der Familie, bevorzugte Italienisch. „Take your protein pill and put your helmet on“, zitierte Mason eine Zeile aus David Bowies Song Space Oddity. „Legen wir los.“ Ivy setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Mom fährt so gerne Ski. Es ist traurig, dass sie es nie wieder tun wird.“ „Ich nehme es auf, damit sie es sich anschauen kann.“ Adam zog mit den Zähnen einen seiner Handschuhe aus und hob die Hand, um die Kamera anzuschalten, die an seinem Helm befestigt war. „Wollen wir ein paar Worte sagen?“, fragte Ivy. „Würde es dich aufhalten, wenn ich Nein sage?“ Mason entfernte das Klebeband, das den Deckel des Bierseidels fixierte. Ivy streckte ihm die Zunge heraus. Dann schaute sie zu Adam und sprach in die Kamera: „Hey Mom. Wir wünschten, du könntest jetzt bei uns sein, um dich von Dad zu verabschieden. Wir haben es alle auf den Gipfel des Cloud Piercer geschafft, genau, wie er es gewollt hat. Es ist irgendwie surreal, hier im Winter zu stehen, während dort, wo du bist, am Willow Lake, gerade der Sommer beginnt. Es fühlt sich an wie … ich weiß nicht … als hätten wir die Zeit zurückgedreht.“ Ivys Stimme zitterte vor unterdrückten Gefühlen. „Wie auch immer, hier bin ich mit meinen beiden großen Brüdern. Daddy hat es geliebt, wenn wir drei zusammen waren, Ski gefahren sind und Spaß hatten.“ Adam drehte den Kopf, damit die Kamera die majestätische Aussicht um sie herum aufnehmen konnte. Die zerklüfteten Felsen der Neuseeländischen Alpen, die über die gesamte Länge der Südinsel verliefen, hoben sich scharf gegen den Himmel ab. Mason fragte sich, wie es an dem Tag gewesen war, an dem seine Eltern hier Ski gefahren waren. Ihre letzte gemeinsame Abfahrt. War der Himmel so blau gewesen, dass es in den Augen geschmerzt hatte? Hatte die kalte Luft in der Lunge gebrannt? War die Stille allumfassend gewesen? Hatte es irgendein Anzeichen gegeben, dass der Schnee der gesamten Bergfront sie unter sich begraben würde? „Sind wir so weit?“, fragte er. Adam und Ivy nickten. Er betrachtete das Gesicht seiner kleinen Schwester, dessen Ausdruck vor Trauer um ihren Vater weich geworden war. Sie hatte ihm besonders nahegestanden und sein Tod hatte sie schwer getroffen – vielleicht noch schwerer als ihre Mutter. „Wer ist der Erste?“, fragte Adam. „Ich kann nicht“, sagte Mason. „Ihr, äh, wollt nicht in die Wolke fahren, wenn ihr wisst, was ich meine.“ Er zeigte auf den Bierseidel. „Oh, stimmt“, sagte Ivy. „Dann fährst du als Letzter.“ Adam drehte die Kamera so, dass sie bergauf zeigte. „Fahren wir einer nach dem anderen, um nicht eine weitere Lawine auszulösen, okay?“ Es war eine bekannte Sicherheitsmaßnahme, in lawinengefährdeten Gebieten mit großem Abstand die Pisten hinunterzufahren. Mason fragte sich, ob sein Vater davon gewusst hatte. Er fragte sich auch, ob sein Vater diese Regel wissentlich missachtet hatte. Er bezweifelte, dass er seine Mutter je danach fragen würde. Was vor einem Jahr an diesem Berg passiert war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ivy setzte die Sonnenbrille ab und küsste den Bierseidel. „Bye, Daddy. Flieg in die Ewigkeit, okay? Aber vergiss nicht, wie sehr du hier auf Erden geliebt wurdest. Ich werde dich für immer in meinem Herzen behalten.“ Sie fing an zu weinen. „Ich dachte, ich hätte alle Tränen aufgebraucht, aber ich schätze, das stimmt nicht. Ich werde immer eine Träne für dich verdrücken, Daddy.“ Adam wackelte mit seinen behandschuhten Fingern vor der Kamera. „Yo, Dad. Du warst der Beste. Ich hätte mir nicht mehr wünschen können. Abgesehen von mehr Zeit mit dir. Bis später, Kumpel.“ Jeder von ihnen hatte einen anderen Trevor Bellamy gekannt. Mason konnte sich nur wünschen, dass der Vater, den er gekannt hatte, derjenige gewesen wäre, der bei Ivy ihre Zärtlichkeit und Loyalität hervorgerufen hatte oder Adams Heldenverehrung. Er kannte eine andere Seite ihres Dads, aber nie würde er derjenige sein, der die Erinnerungen seiner Geschwister an ihn zerstörte. Adam schob sich durch das Tor, auf dem die Warnung stand, dass die Piste nur für erfahrene Skiläufer geeignet war, und fuhr den Berg hinunter, wobei seine Kamera alles aufnahm. Ivy wartete einen Moment und folgte dann in sicherer Entfernung. Dank Adam, dem Vorsichtigen unter ihnen, trugen sie alle eine Ausrüstung mit Notsignalen und einem Lawinenairbag, der sich im Falle eines Lawinenabgangs automatisch öffnen würde. Ihre Mutter hatte am Tag des Unfalls auch so einen Airbag getragen. Ihr Vater nicht. Adam glitt erfahren und kontrolliert den Hang hinunter. Den steilen Teil meisterte er mit Leichtigkeit und zeichnete eine gewundene Spur in den unberührten Pulverschnee. Ivy folgte ihm elegant und machte aus seiner S-Kurve eine Doppelhelix. Ein leichter Windhauch bewegte die eisige Luft. Mason beschloss, dass den verdammten Berg zu erklimmen zu harte Arbeit gewesen war, um jetzt die konservative Route nach unten zu nehmen. Er war schon immer der Waghalsigste von ihnen gewesen und entschied sich mit fröhlicher Unbekümmertheit für die Abfahrt, die sein Vater vermutlich genommen hatte. „Los geht’s“, sagte er in die klare Leere hinein und öffnete mit dem Daumen den Deckel des Bierseidels. Die kalte Luft musste dem Steingut ordentlich zugesetzt haben, denn ein Stück brach ab und schnitt durch den Handschuh in seinen Daumen. „Autsch.“ Er ignorierte den Schnitt und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. War noch etwas von der Essenz seines Vaters übrig? War Trevor Bellamys Seele irgendwo in den bescheiden aussehenden Überresten gefangen und wartete darauf, auf dem Berggipfel freigelassen zu werden? Sein Vater hatte sein Leben gelebt. Und er hatte ein Vermächtnis aus Geheimnissen hinterlassen. Für seine Freiheit hatte er den ultimativen Preis bezahlt und seine Bürde auf den Schultern eines anderen geparkt – auf denen seines ältesten Sohnes. „Gute Reise, Dad“, sagte Mason. Mit den Skistöcken in der einen Hand, den Arm mit dem Bierseidel hoch in die Luft gestreckt, stürzte er sich kontrolliert den Berg hinunter. Einen Moment lang hörte er die Stimme seines Vaters: Lehne dich in die Angst, mein Sohn. Daher kommt die Kraft. Die Worte schwebten aus der Vergangenheit zu ihm herüber, aus einer Zeit, als alles noch unkompliziert gewesen war, als Dad einfach Dad gewesen war, der ihm beibrachte, einen Berg hinunterzufahren, und der mit ungezügelter Freude gejubelt hatte, wenn er, Mason, eine steile Abfahrt gemeistert hatte. Das war vermutlich der Grund, warum er Sportarten vorzog, die das Adrenalin bei ihm in Wallung brachten, bei denen er auf dem schmalen Grat zwischen Angst und Triumph balancieren musste. Die Asche bildete hinter ihm eine Wolke, wurde von einer Bö nach oben gewirbelt und über dem Antlitz von Trevors geliebtem, aber tödlichem Berg verstreut. Was wir am meisten lieben, kann uns umbringen. Vielleicht hatte er den Spruch irgendwo einmal gehört. Oder er war ihm gerade erst eingefallen. Je schneller Mason fuhr, desto weniger wurde er von so unbequemen Dingen wie Gedanken gestört. Das war das Schöne am Skifahren in gefährlichen Gebieten. Erfüllt von der Aufregung der Fahrt, nahm er nur am Rande wahr, dass Adam die Kamera auf ihn gerichtet hatte. Er konnte nicht widerstehen, ein wenig anzugeben und eine Spur in einem frischen, unberührten Schneebett zu legen, die sich wie eine Schlange den Berg hinunterwand. Als er einen zerklüfteten Felsen entdeckte, dessen Seite sich perfekt für einen Sprung eignete, hielt er darauf zu. Lehne dich in die Angst, mein Sohn. Er richtete seine Skier aus und sprang über den Rand. Ein paar Sekunden lang flog er durch die Luft. Der Wind fuhr unter seinen Parka und machte ihn für einen Moment zu einem menschlichen Kite. Die steile Landefläche raste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Als er aufkam, schwankte er etwas, schaffte es aber, nicht hinzufallen und den Bierseidel weiter in der Hand zu behalten. Er lachte kurz auf. Wie war das, Dad? Wie habe ich das gemacht? Auf die eine oder andere Art war sein gesamtes Leben eine Vorstellung für seinen Vater gewesen – im Sport, in der Schule, im Beruf. Nun hatte er sein Publikum verloren und das war unglaublich befreiend. Deshalb fragte er sich, wieso jetzt Tränen seine Skibrille beschlagen ließen. Als die Piste flacher wurde und seine Geschwindigkeit sich auf natürliche Weise verlangsamte, sah er, dass Ivy hektisch mit den Armen wedelte. Was nun? Er raste auf sie zu und bemerkte, dass Adam sein Handy am Ohr hatte. „Was ist los?“, fragte er. „War mein monumentaler Lauf nicht gut genug? Oder postest du das Video bereits online?“ Trotz der kalten Luft war Ivys Gesicht bleich. „Es ist Mom.“ „Am Telefon? Grüß sie schön von mir.“ „Nein, du Trottel. Ihr ist etwas zugestoßen.“ 2. KAPITEL Für Mason war Geld ein Werkzeug, kein Ziel. Und wenn er von einem entlegenen Bergdorf zu einem internationalen Flughafen musste, war er froh, genügend davon zu haben. Innerhalb weniger Stunden nach der abgebrochenen Ascheverteilaktion saßen sie in der First-class-Lounge in der Abflughalle von Christchurch und warteten auf ihren Flug nach New York. Von dort würden sie mit einem Privatjet in nördlicher Richtung am Hudson River entlang nach Avalon fliegen. Er hatte seine Assistentin angewiesen, ein Wasserflugzeug aufzutreiben, damit sie auf dem Willow Lake landen und vor dem Steg am Haus ihrer Mutter festmachen konnten. Die gesamte Reise würde ungefähr vierundzwanzig Stunden dauern. Dank der Zeitverschiebung würden sie am selben Tag landen, an dem sie abflogen. Die Reise kostete irgendetwas um die dreißigtausend Dollar, was er ohne mit der Wimper zu zucken bezahlte. Es war nur Geld. Er hatte ein Händchen dafür, so leicht Geld zu machen, wie andere Männer am Wochenende in ihrer Garage Vogelhäuschen bauten. Adam telefonierte gerade mit jemandem in Avalon. „Wir sind auf dem Weg“, sagte er und schaute auf die Uhr in der Lounge. „Wir sind da, wenn wir da sind. Okay, wartet einfach auf uns.“ „Hast du Genaueres erfahren?“, wollte Mason wissen, nachdem Adam aufgelegt hatte. „Sie ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich das Schlüsselbein gebrochen“, erwiderte sein Bruder. Er steckte das Handy zurück in die Tasche. „Es ist ein Wunder, dass sie sich nicht den Schädel aufgeschlagen hat oder von ihrem motorisierten Rollstuhl überfahren worden ist.“ „Ich kann nicht glauben, dass sie hingefallen ist“, sagte Ivy mit zittriger Stimme. „Und was zum Teufel machte sie überhaupt oben an einer Treppe?“, wollte Mason wissen. „Der gesamte untere Bereich des Hauses ist doch extra für sie umgebaut worden.“ „Wenn du sie öfter als nur alle Jubeljahre mal besuchen würdest, wüsstest du, dass inzwischen der Fahrstuhl installiert worden ist“, erwiderte Adam. Adam kümmerte sich um die tägliche Pflege ihrer Mutter, die auf dem Grundstück am See wohnte. Mason hatte die Rolle des Finanzberaters übernommen und regelte die Finanzen und die logistischen Probleme, eine Rolle, die genau nach seinem Geschmack war. Er wischte den Kommentar seines Bruders beiseite. „Ich verstehe nur nicht, wie sie es geschafft hat, die Treppe hinunterzufallen. Sie ist eine Tetraplegikerin in einem Rollstuhl. Sie kann sich nicht rühren.“ „Sie kann ihre Lippen bewegen und ihren Rollstuhl mit ihrem Atem steuern“, sagte Ivy. „Außerdem arbeitet sie mit ihrer Physiotherapeutin daran, ihre Arme an den Ellbogen zu strecken, was ihrer Mobilität hilft.“ „Ich verstehe trotzdem nicht, was sie überhaupt oben gemacht hat.“ Masons Herz schlug so heftig, dass seine Brust schmerzte. Er und seine Mutter hatten ihre Differenzen, aber wenn es darauf ankam, fühlte er nichts als Liebe und Trauer. Und jetzt einen Anflug von Panik. „Bist du sicher, dass es ihr gut geht?“, fragte Ivy und stelle das Tablett mit Cappuccino und Croissants auf den Tisch in der Ecke, in der sie saßen. „Ja, abgesehen von ihrer üblichen Verbitterung und Wut“, sagte Adam. „Jesus.“ Mason strich sich durchs Haar. „Nein, der diensthabende Pfleger heißt José.“ Adam las eine E-Mail auf seinem Handy. „Feuer den Scheißkerl sofort“, befahl Mason. „Das muss ich nicht“, erwiderte Adam. „Er hat von sich aus gekündigt. Sie haben alle gekündigt. Keine ihrer Hilfen hat mehr als ein paar Wochen durchgehalten.“ „Er hätte es nicht verhindern können“, meinte Ivy. „Laut Mrs Armentrout hat Mom den Fahrstuhl nach oben genommen, ohne jemandem Bescheid zu sagen.“ „Armentrout? Die Haushälterin?“, fragte Mason. „Dann sollte sie auch gefeuert werden.“ „Du bist derjenige, der sie eingestellt hat“, merkte Adam an. „Meine Assistentin hat sie eingestellt. Mit meiner Zustimmung.“ „Und sie ist großartig. Außerdem ist es die Aufgabe des Pflegers, auf Mom aufzupassen, nicht die der Haushälterin.“ „Sie braucht Hilfe, aber keine Dauerüberwachung“, sagte Ivy. „Vielleicht doch, wenn sie sich heimlich in den ersten Stock schleicht.“ Mason verbrachte mehr Zeit mit Gedanken an ihre Mutter, als alle sich vorstellen konnten. An dem Tag vor einem Jahr hatte seinen Vater die endgültige Tragödie ereilt. Alle – ihn eingeschlossen – sagten, dass ihre Mutter Glück hatte, da sie überlebte. Sie empfand das jedoch nicht so. Von dem Augenblick an, in dem man ihr gesagt hatte, ihre Wirbelsäulenverletzung bedeutete, dass sie nie wieder gehen, geschweige denn Ski fahren, Salsa tanzen, von Klippen springen, einen Triathlon laufen oder selbst ein Auto fahren würde, hatte sie gegen ihr Schicksal gewütet. Jeder, der sich traute, ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie Glück hatte, am Leben zu sein, riskierte, von ihrer scharfen Zunge verletzt zu werden. Nach mehreren Operationen, medikamentösen Therapien und intensiven RehaMaßnahmen hatte Alice eingewilligt, nach Avalon zu ziehen, um sich an ihr neues Leben als Witwe und Querschnittsgelähmte zu gewöhnen und so viel Unabhängigkeit zu erlangen, wie ihr möglich war. Avalon war die Stadt, in der Adam lebte, direkt am Ufer des schönsten Sees im gesamten Ulster County, mit dem Zug nur ein paar Stunden von New York City entfernt. Jedes der drei Bellamy-Kinder spielte seine Rolle. Adam, ein Feuerwehrmann mit einer Zusatzausbildung als Rettungssanitäter, wohnte im Bootshaus des Anwesens, das Mason nach dem Unfall für seine Mutter gekauft hatte. Adam war gut darin, sich um Menschen zu kümmern, und es war eine Erleichterung, zu wissen, dass ein Familienmitglied vor Ort war, um nach ihrer Mutter zu sehen. Mason war dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass seine Mutter alles hatte, was sie benötigte, um ihr neues Leben in Avalon aufzubauen. Er hatte sie mit einem großzügigen Grundstück versorgt und das Haus, das groß genug war, um Personal zu beherbergen, für ihre Bedürfnisse umbauen lassen. Das historische Anwesen lag am sonnengetränkten Ufer des Willow Lake. Es waren einige Umbauten nötig gewesen, damit ihre Mom sich dort mit ihrem elektrischen Rollstuhl gefahrlos fortbewegen konnte. Unter anderem waren die Türen verbreitert und eine Gegensprechanlage und ein Fahrstuhl eingebaut worden. Durch den Garten führten mehrere befestigte Wege. Außerdem gab es ein privates Fitnessstudio für ihre Physiotherapie, einen geheizten Pool, eine Sauna und ein Spa, ein Bootshaus sowie einen Steg mit Rampen und Flaschenzügen. Sie hatte alles an Personal, was sie brauchte, darunter einen balinesischen Koch, der mit dem Cordon Bleu, dem blauen Band der Franzosen für hervorragende Kochkünste, ausgezeichnet worden war, einen Fahrer und eine im Haus wohnende Pflegekraft. Jeder hatte seine Rolle. Mason hatte gedacht, dass es funktionierte, aber offensichtlich gab es jetzt keine Pflegekraft mehr. „Was meintest du, als du gesagt hast, alle haben gekündigt?“, fragte er Adam. „Wie ich schon sagte, das würdest du verstehen, wenn du sie mal besuchtest. Ivy lebt an der Westküste und schafft es trotzdem, öfter vorbeizuschauen als du, obwohl du in der Stadt wohnst.“ Ivys Rolle war etwas undefinierter, aber genauso wichtig. Manchmal kam es Mason so vor, als trage sie ihren Teil bei, indem sie einfach nur bezaubernd und liebevoll und unterstützend war. Sie war zehn Jahre jünger als er und ein Mensch, der einen Raum betrat und ihn sofort mit Licht erfüllte. Während der ersten Tage nach dem Unfall war Ivy für ihre Mutter so wichtig gewesen wie reiner Sauerstoff. „Mom braucht meine Gesellschaft nicht“, erklärte er. „Ich habe ihr das beste Haus gekauft, das wir finden konnten, habe ihr alles Personal besorgt, das sie benötigt, habe das Haus für sie und ihren Rollstuhl umbauen lassen. Ich weiß nicht, was zum Teufel ich sonst noch tun könnte.“ „Manchmal muss man gar nichts tun“, sagte Ivy. „Manchmal ist einfach da zu sein alles, was sie braucht.“ „Nicht von mir.“ Er prüfte den Kalender auf seinem Handy. „Die Operation zum Richten ihres Schlüsselbeins hat sie also schon hinter sich. Wie lange wird sie im Krankenhaus bleiben müssen?“ „Vermutlich nicht lange“, sagte Adam. „Wir werden mehr wissen, wenn wir uns mit den Ärzten unterhalten.“ Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Hör mal, ich wollte dir das eigentlich heute Abend beim Essen erzählen. Du wirst dich die nächsten Monate um Mom kümmern müssen – vielleicht auch länger.“ Mason winkte ab. „Ich kann nicht mal für ein paar Stunden bleiben. Ich soll übermorgen mit Regina nach Los Angeles fliegen“, erklärte er. „Sie hat ein Treffen mit einem ziemlich einflussreichen neuen Kunden organisiert.“ Er fand es nicht angebracht zu erwähnen, dass Regina – die sowohl seine Kollegin als auch seine Freundin war – und er dieses Mal ein paar Tage Surfurlaub in Malibu mit eingeplant hatten. „Das wirst du absagen müssen“, sagte Adam schlicht. „Du musst bei Mom bleiben.“ „Was zum Teufel meinst du damit, ich muss bei ihr bleiben?“ „Im Haus am See wohnen. Deine Geschäfte von dort aus führen.“ Mason zuckte zurück. „Was soll das alles?“ „Ich muss für eine Weile fort“, erklärte Adam. „Eine Spezialausbildung für die Arbeit.“ Sofort wandte Mason sich an Ivy. Sie hob abwehrend beide Hände. „Mein Stipendium in Paris, erinnerst du dich? Das, worauf ich die letzten fünf Jahre hingearbeitet habe? Es fängt nächsten Monat an.“ „Verschieb es.“ „Na klar. Ich erkläre dem Direktor des Institut de Paume, mir einen Platz frei zu halten.“ Ivy schob ihre Sonnenbrille hoch und fixierte ihn mit einem intensiven Blick. „Du bist dran, Bruder.“ „Okay, meinetwegen, aber ich werde nicht in die Catskills ziehen. Meine Assistentin wird eine andere Pflegekraft suchen, die bei ihr einziehen kann.“ „Verdammt“, sagte Adam. „Mom braucht Familie. Sie braucht dich.“ Mason hatte eine lange Reihe von Pflegekräften, materiellen Dingen und Komfort für seine Mutter organisiert. Er hatte keine Kosten gescheut – Fahrstühle, Hilfsmittel –, für Alice Bellamy war nichts zu teuer. Dank ihm fehlte es ihr an nichts.
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