Der Mythos des verwöhnten Kindes - Schulpädagogik

Alfie Kohn [2015]
Der Mythos des verwöhnten Kindes
Erziehungslügen unter die Lupe genommen.
Mit einem Vorwort von Claus Koch.
Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl
Weinheim und Basel: Beltz
304 S., € 22,95 (D); € 23,60 (A)
ISBN 978-3-407-85757-6
Alfie Kohn setzt sich in diesem Band als Erziehungswissenschaftler kritisch mit dem
auseinander, was er als „Erziehungslügen“ entlarven möchte und macht sich stark für eine
Erziehung, in der Kinder ernst genommen und respektiert werden, in der sie zur Mündigkeit
erzogen werden. Er schaut dabei auf gängige Klischees über Erziehung, wie sie medial
verbreitet werden und sich damit als das durchsetzen, was auch als „Mem“ (vgl. 32)
bezeichnet wird – das sind Inhalte, die sich durch soziale Medien und andere Formen der
Kommunikation schnell verbreiten und von vielen als Wahrheiten angenommen werden,
auch wenn sie sich wissenschaftlich nicht beweisen ließen. Dabei geraten die folgenden
Themen in seinen Blick, denen nach einer Einleitung jeweils ein Kapitel gewidmet wird: Der
(angenommene) Zusammenhang von nachgiebigen Eltern und verwöhnten Kindern; die
Idee, dass Kinder vor allem gehorsam sein sollen; die Helikopter-Eltern; das Positive des
Scheiterns; die Frage des Sinns von Strafen, Noten und Wettbewerb; die Frage, ob Kinder
heutzutage zu viel Selbstwertgefühl haben; die Frage nach der Bedeutung von
Selbstdisziplin. Am Ende steht ein Kapitel, in dem er eine „Erziehung zur sanften Rebellion“
proklamiert.
Der Einleitung vorangestellt ist noch ein „Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe“ von
Claus Koch, in dem dieser auf die Frage der Übertragbarkeit auf die deutschen Verhältnisse
eingeht. Sehr eindrucksvoll belegt er hier und im Verlauf des Textes in Fußnoten, in denen er
auf vergleichbare Publikationen im deutschen Sprachraum verweist, immer wieder, dass
„sich mit Leichtigkeit [die Mythen, die Kohn anprangert] auch bei uns finden [lassen].“ (10).
Kohn stützt seine Argumentation auf ein Erziehungskonzept, das im Kern darauf zielt, die
Kinder bedingungslos zu akzeptieren für das, was sie sind, und nicht für das, was sie tun; sie
Entscheidungen treffen zu lassen, auf ihre Bedürfnisse zu achten, Orientierungshilfen zu
geben statt Gehorsam einzufordern; Fehlverhalten als Anlass zum Lernen und für das
gemeinsame Lösen von Problemen zu nehmen statt die Regelverletzung zu bestrafen; dabei
komme es immer darauf an, zu versuchen, die Hintergründe und Motive der Kinder zu
verstehen (vgl. 51f).
Auf diese Grundelemente kommt er bei der Beurteilung der „Erziehungsmythen“ immer
wieder zurück. Er kritisiert populäre Positionen, z. B. die des Clinton-Beraters Mark Penn,
der behauptet, dass Eltern heutzutage zu nachgiebig seien, dass Kinder früher „die Rute
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[bekamen] oder es wurden ihnen wenigstens die Leviten gelesen. Heute werden sie auf den
Arm genommen, bekommen Auszeiten, und es wird ausgiebig mit ihnen verhandelt.“ (Penn,
zit. n. Kohn, 32). Kohn hält dem entgegen, dass es durchaus entwicklungspsychologisch
erwiesen sei, dass Babys getröstet werden sollten, wenn sie weinen, dass auch das „Auszeit
geben“ als Strafe empfunden werde und dass ein Gespräch mit einem Kind über
geschehenes Unrecht nicht unbedingt den Charakter einer Verhandlung haben müsse: „Das
sind nur Penns rhetorische Girlanden, die uns veranlassen sollen, mit ihm zusammen die
Augen zu rollen bei der Idee, jemand könnte mit einem Kind, das etwas
Besorgniserregendes tut, reden wollen, statt es einfach zu bestrafen.“ (33).
In seiner Argumentation legt Kohn Wert darauf, seine Thesen mit wissenschaftlichen
Erkenntnissen zu belegen. Dies geschieht allerdings dezent mit Endnoten, in denen er auf
entsprechende Quellen verweist, er stellt hier nicht einzelne Studien explizit dar, verweist
eher auf andere Publikationen: „An anderer Stelle habe ich eine Reihe von Studien zu
diesem Thema ausgewertet…“ (49). Vermutlich ist das dem Versuch geschuldet, einen Text
zu verfassen, der populärwissenschaftliche Thesen für eine breite Elternschaft entkräftet,
und sich damit nicht primär an ein wissenschaftliches Publikum wendet, sondern an die
Leser_innen / Konsument_innen von Ratgeberliteratur. Diese wiederum könnten sich durch
eine zu wissenschaftliche, komplexe Darstellungsweise abgeschreckt fühlen. Kohns Text ist
leicht verständlich und gut lesbar, verfolgt die Vermittlung einer anderen pädagogischen
Haltung als die, die er in vielen kursierenden Texten entdeckt. Um diese pointiert zu
formulieren, greift er selbst bisweilen karikativ zu unterhaltsamen Überspitzungen: „…wie
kann man steif und fest behaupten, das Hauptproblem der heutigen Schul- und
Kindererziehung liege darin, dass zu selten bestraft würde oder dass wir uns zu sehr auf die
Perspektive unserer Kinder einließen? Es ist, als würde ein Zeitschrift auf ihrer Titelseite die
Schreckensmeldung verbreiten, die Menschen heutzutage würden viel zu viel lesen
(‚Bücherwahn! Bedeutet das den Untergang der elektronischen Unterhaltungsmedien?‘)…“
(35).
Er wägt inhaltlich allerdings durchaus ab, gibt sich nicht vorschnell mit scheinbaren
Dichotomien zufrieden, z. B. dass es nur entweder permissive oder autoritäre Eltern gäbe,
die er als „Reduzierung eines Regenbogens von Möglichkeiten auf Schwarz-Weiß“ (60)
sieht. So spricht er auch nicht einfach für oder gegen die so genannten „Helikopter-Eltern“
(88), über die so viel gelacht wird (Koch verweist hier in einer Fußnote auch auf den
deutschen Spielfilm „Frau Müller muss weg“ (69)), sondern stellt die Frage neu, nicht nach
dem Maß der Fürsorge und Aufmerksamkeit für das Kind, sondern nach deren Nutznießer
(77) und deren Qualität: „Möglicherweise geht es gar nicht so sehr ums Verhätscheln,
sondern um Kontrolle.“ (81) Letztere ist aber, so zeigt er auf, eher Ausdruck einer traditionellautoritären Kindererziehung – wie sie sich auch im chinesisch-amerikanischen Modell der
„Tiger-Eltern“ (83) ausdrücke, die ihre Kinder extremer Kontrolle und der ständigen
Forderung nach hohen Leistungen unterzögen – als einer zu permissiv-liberalen, der die
„Helikopter-Erziehung“ (66ff) häufig zugeordnet werde.
Aus schulpädagogischer Sicht könnte man nun sagen, dass sich dieses Buch primär mit
außerschulischer Pädagogik – Erziehung durch Eltern – befasse und damit für die
Schulpädagogik wenig relevant sei. Zum einen ließe sich dagegenhalten, dass es viele
Schnittstellen gibt, z. B. in der Elternarbeit, aber auch in allgemeinpädagogischen Fragen, es
geht an vielen Stellen um den Blick auf das Kind, der für alle an Erziehung Beteiligten wichtig
ist, zum anderen gibt es auch Kapitel in diesem Buch, die sich explizit auf Schulpädagogik
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beziehen, z. B. Kapitel 5 „‘Nur unter dieser Bedingung‘ Vom Unsinn von Strafen, Noten und
Wettbewerb“. Kohn geht mit Strafen hart ins Gericht: „Allerdings haben Strafen ein Problem:
Sie funktionieren nicht gut. […] Bestrafung kann in keiner Weise ethisches Wachstum,
Verantwortungsgefühl oder die Sorge um das Wohlergehen anderer befördern.“ (140) Kohn
wendet sich jedoch nicht nur gegen das Strafen, sondern auch gegen das Loben. Dabei geht
es ihm weniger um ein Zuviel an Lob im Sinne einer Inflation, sondern eher darum, dass Lob
immer auch eine Bewertung des Verhaltens des Gelobten beinhaltet und deshalb erscheint
es ihm als „übergriffige Intervention, die aller Wahrscheinlichkeit nach als manipulativ erlebt
wird, egal wie sie von der lobenden Person gemeint war. […] Ihr [der positiven Wertungen]
Haupteffekt besteht darin, dass sie Kinder abhängig davon machen, mehr solcher
Beifallsbekundungen zu erhalten.“ (141) Er plädiert eher dafür „ein Feedback [zu] geben, das
es […] ermöglicht, gründlicher und mit mehr Enthusiasmus zu lernen“ (149).
Kohn kritisiert auch die schulische und außerschulische Praxis, Kinder in einen ständigen
Wettbewerb (um Lob, Zuwendung, gute Noten) zu bringen, die dazu führe, „dass Kinder sich
Tag für Tag in der Schule und beim Spielen unzulänglich vorkommen müssen.“ (147) Er
fasst das seiner Meinung nach hinter der wenig empathischen Erziehung zur Konkurrenz
liegende Konzept in einem Akronym zusammen: BMGSD: Besser, man gewöhnt sich dran.
(vgl. 116ff) Er geht davon aus, dass viele pädagogische Irrtümer auf einer verfehlten
Annahme beruhen: „Um Kinder auf die schmerzhaften Dinge vorzubereiten, die ihnen später
möglicherweise widerfahren, ist es am besten, sie eine Menge Schmerzen spüren zu lassen,
solange sie klein sind.“ (116). Er hält diesem Erziehungskonzept entgegen, dass es Kindern
nicht helfe, mit schwierigen Situationen besser umgehen zu lernen, sondern sie nur ständig
in unangenehme Situationen bringe (vgl. 158). Unter diese schwierigen Situationen zählt er
bisweilen auch die Schule.
Die Grundidee Kohns ist, dass Unterstützung, Förderung des Selbstwertgefühls und der
kommunikativen Kompetenzen sowie der Fähigkeit zum „wohlüberlegten Skeptizismus“ und
zum „reflektierte[n] Rebellentum“ (238) in der Erziehung zum mündigen und seelisch
gesunden Menschen förderlicher sind als Wettbewerbsstrukturen, Belohnungsprinzipien,
Kontrolle und Machtausübung. Diese trifft für die schulische Pädagogik genauso zu wie für
die Erziehung durch die Eltern, auch wenn es offensichtlich nicht die Hauptintention des
Buches ist, die Schulpädagogik zu revolutionieren. Es ist dennoch lesenswert, sowohl für
den interessierten Laien als auch für (angehende) Pädagog_innen.
Koch fordert im Vorwort die deutschen Erziehungswissenschaftler auf, ein ähnliches Buch
über die deutschen Erziehungsmythen zu schreiben. Ich schließe mich dem Wunsch an und
würde noch hinzufügen, dass es lohnenswert wäre, die schulischen Erziehungsmythen dabei
noch stärker in den Fokus zu nehmen.
Dr. Catrin Siedenbiedel
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