Interaktion Kommunikation Bei den etablierten Händlern herrscht teilweise eine grenzenlose Angst vor der Digitalisierung. Es gibt eine starke Verunsicherung, aber auch eine Verweigerungshaltung. Viele stecken den Kopf einfach in den Sand. Andere sind dem Kunden fast böse, dass er online einkauft. Aber den LEH bedroht der Onlinehandel doch noch nicht wirklich. Da haben Sie tendenziell Recht. Lebensmittel rangieren auf der Liste der am häufigsten online gekauften Waren hinter Büchern, Kleidern und Elektronik weit unten. Doch jetzt kommt mein großes Aber: Wenn Akteure im stationären Handel nur 1 Prozent Marge haben und 1 Prozent ihres Umsatzes an den Onlinehandel verlieren, haben sie ein Problem. Also müssen wir uns vor Amazon fürchten? Amazon Fresh verstärkt nur den Druck, unter dem der Markt ohnehin steht. Viele kleine Initiativen und Start-ups im Onlinebereich knabbern mit am großen Kuchen. Keiner nimmt sie bislang so richtig ernst, denn sie bearbeiten oft Spezialfelder wie vegan, regional oder free-from. Aber in Summe ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Knabbern auch den Großen wehtun wird. Erreicht die Krise des stationären Han- dels also auch die Lebensmittelbranche? Ich glaube fest an den stationären Handel. Einkaufen ist Gott sei dank eine sinnliche Sache. Aber der Handel muss sich mit dem Onlinethema befassen, sich darauf einlassen und sich richtig aufstellen. Und da rede ich noch gar nicht von den Chancen des Digitalmarketings und des Trackings. Wie soll sich der Handel denn aus Ihrer Sicht aufstellen? Bei aller Virtualität wird es zur neuen Schlüsselfertigkeit für den Handel, Beziehungen zum Kunden herzustellen. Es geht um einen Dialog mit den Kunden, im Geschäft, online und auf allen anderen Kanälen. Da sehe ich derzeit aber Beziehungsstörungen. aths dicker Speer. Wenn Händler nicht in die ganz andere Denke der Online-Communitys hineinwachsen, dann werden sie sich in Zukunft mit ihrem stationären Handel ziemlich schwertun, weil sie eine andere Sprache sprechen. Da sehe ich noch viele Große, die wie ein Supertanker dahinfahren und glauben, dass ihnen nichts passieren kann. Das ist ein fataler Irrtum. Und was sollten die Händler Ihrer Meinung nach tun? Sie und ihre Mitarbeiter müssen sich auf diese Denke einlassen, um den Konsumenten umfassend abzuholen. Das heißt nicht, dass der Kunde gleich alles online bestellt. Aber sie müssen mit ihm auf allen digitalen Kanälen in Interaktion treten. Inwiefern? Wir erleben doch alle, wie der Konsument immer komplexer wird und immer mehr wissen will. Schauen Sie sich Unverträglichkeiten, Veganismus oder Tierwohl an. Jede der daran interessierten Gruppen tauscht sich online darüber aus, wo es welches der von ihr bevorzugten Produkte gibt, und führt Expertendebatten. Die wenigsten Unternehmen sind aber in der Lage, mit diesen Gruppen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Vielleicht, weil sie nicht weit genug herunterkommen? Unterschätzen Sie nicht die kleinen Gruppen. Heutzutage ist Davids kleine Steinschleuder effektiver als Goli- Das ist alles? Nein, sie müssen auch in die Beratungsqualität investieren. Die Kunden kommen heutzutage durch Onlinerecherche und Preisvergleich extrem gut informiert in den Laden. Darauf müssen die Mitarbeiter reagieren können und zum Beispiel erklären, warum ein bestimmtes Produkt teurer ist als ein anderes. Da lässt der Handel seine Verkäuferinnen noch oft allein. Aber gut ausgebildete Mitarbeiter kosten viel Geld. Da kommt keiner drum herum. Bessere Mitarbeiter sind nun einmal der Schlüssel zu besserem Service. Und wenn der Kunde gut beraten wird, ist Expansion Trading-up Berechnungen Onlinehandel Beratung Marketing Digitalisierung „Auf allen Kanälen“ Herr Wutscher, Sie machen sich Gedanken, was den stationären Handel retten könnte. Muss er denn gerettet werden? Click and collect Lebensmittel Zeitung 21 Werner Wutscher, Ex-Vorstand von Rewe International, über die Angst vor der Digitalisierung, die Grenzen der Inszenierung und das Ende der Flächenexpansion. er auch bereit, über einen kleinen Mangel in Technik oder Inszenierung hinwegzusehen. modellen und steigenden Umsätzen noch gerechtfertigt gewesen sein. Aber mittelfristig ist das nicht haltbar. Sollte die Inszenierung nicht den stationären Handel retten? Zieht ein attraktives Ladendesign die Kunden nicht auf die Fläche? Ist damit auch Schluss mit Trading-up? Nein, die Inszenierung allein kann es nicht sein. Es ist unrealistisch zu glauben, dass die Kunden zu Ihnen strömen, nur weil Sie ein Disneyland des Genusses bauen. Ich bin überzeugt davon, dass es auf die Beziehung ankommt, darauf, dass ich meine Kunden mit Beratungsqualität umfassend abhole. Ist ein tolles Erlebnis auf der Fläche etwa unwichtig? Natürlich spielt auch die Inszenierung weiter eine Rolle, weil sie zur Emotionalisierung des Kunden beiträgt. Zum Teil gibt es seelenlose Läden, das muss aufhören. Aber bei der FrischeInszenierung hat sich in den vergangenen Jahren ja schon viel getan. Die Frage ist jetzt eher: Wie hole ich meinen Kunden ab? Die Themen sind Beziehung und Servicequalität. Sollten Händler ihr Geld also lieber nicht mehr in die Filialen investieren? Auf jeden Fall würde ich es nicht mehr in die Expansion stecken. Gerade in Österreich wurde in den vergangenen Jahren extrem viel investiert, obwohl bekannt war, dass wir eigentlich zu viele Filialen haben. Das mag in Zeiten hoher Zinsen mit Bauträger- Händler können ihre Filialen hochwertiger machen, wenn sie wollen, aber dafür müssen es weniger sein. Überlegen Sie mal: Allein ein Filialumbau in einer guten Lage in Wien kostet eine halbe bis eine Million Euro. Damit könnten Sie in der Digitalisierung schon viel bewegen. Aber warum sollte ich das Geld in einen Geschäftsbereich stecken, der nicht profitabel ist? Weil die Onlinewelt rasant wächst. Sie müssen den Konsumenten auf allen Kanälen bedienen, das erwartet er heutzutage einfach. Sie müssen ihm die Möglichkeit eröffnen, sich Sachen nach Hause schicken zu lassen, und zwar in einem Multichannel-Ansatz, also egal, ob der Kunde gerade im Internet oder bei Ihnen im Laden ist. Er muss die Wahlfreiheit haben, sich seinen Einkauf nach Hause schicken zu lassen. Sie müssen dabei aus der Filiale heraus kommissionieren, allein schon aus Kostengründen. Und wie bekommt der Handel die Lieferkosten in den Griff? Die letzte Meile abzubilden, ist für viele klassische Logistik-Unternehmen fast unmöglich. Wir haben einmal die Kosten pro Stopp im Großraum Linz durchkalkuliert und sind auf 42 Euro gekommen. Die Lösung liegt darin, mit einem Start-up eine Partnerschaft einzugehen, das die Leistung für ein paar Euro erbringt, weil es ein ganz anderes Modell fährt. Zum Beispiel? Der österreichische Drogeriefilialist Bipa stellt Bestellungen in Wien binnen 90 Minuten mit dem FahrradStart-up Veloce zu. In Wien gibt es auch einen Catering-Service, der aus Gemüse, das nicht den Qualitätsklassen entspricht, Suppen und Eingemachtes kocht und die Produkte mit dem Rad zustellt. Das schafft Authentizität und ist ein Stück weit Inszenierung. Es braucht solche kreativen Partnerschaften. und wenn Sie in zwei Stunden im Apartment sind, ist Ihre Ware schon da. Aber ich bin da vorsichtig: In diesen Ländern herrschen ganz andere Voraussetzungen, etwa was den Stundenlohn betrifft. Das muss alles zum eigenen Modell passen. Wo sehen Sie im Heimatmarkt die Benchmarks? Aber sie sind anregend. In der klassischen Struktur können Händler die Probleme nicht lösen. Sie müssen sich Anregungen aus kleinen Unternehmen holen. Es ist sinnvoll, diese Start-ups nicht als Bedrohung anzusehen, sondern ihre Leistungen ins eigene Angebot aufzunehmen. In Deutschland hat die Rewe sehr viel investiert, vor allem ins neue Team, hat viel experimentiert und ist gut unterwegs. In Österreich hat Bipa mit Click and Collect ein sehr kluges System aufgebaut, das wieder Frequenz in die Märkte bringt. Auch der Zustellservice innerhalb 90 Minuten in Wien ist sehr spannend. Sollte man sich nicht eher große ausländische Händler zum Vorbild nehmen? Welchen Rat haben Sie für die übrigen Händler? Im Ausland gibt es schon tolle Modelle. Da kommt zum Beispiel in England ein Mitarbeiter von Tesco und räumt Ihnen nach Plan Ihren Kühlschrank ein. Oder Sie klicken am Flughafen von Singapur durch Near Field Communication Produkte an, Man braucht sich überhaupt nicht zu Tode zu fürchten. Ich glaube felsenfest an den stationären Handel. Aber er muss die Digitalisierung offensiv angehen. lz 01-16 Das können doch aber allenfalls Ausnahmefälle sein. Das Gespräch führte Mathias Himberg. KÄRNTER KARRIERE Rewe, Recht und Rat FOTO: NEW VENTURE SCOUTING Lieferkosten JOURNAL Marge Verunsicherung LZ 1 8. Januar 2016 Amazon Technik Inszenierung Service Modell LZ 1 8. Januar 2016 Frische JOURNAL Start-ups 20 Lebensmittel Zeitung Werner Wutscher war von 2007 bis 2011 Mitglied des Vorstands von Rewe International. Als Chief Operative Officer (COO) leitete er die Bereiche Finanzen, Controlling, Revision, Strategie, Unternehmenskommunikation, Personal, Logistik und IT. Er kümmerte sich um Österreichs größte BioMarke „Ja natürlich“ und die Sanierung der Adeg AG. Geboren 1968 als Kärntner Bauernsohn, studierte er in Graz und Harvard Rechts- und Politikwissenschaften. Seine Kariere begann er 1994 im Büro des damaligen österreichischen Landwirtschaftsministers Dr. Franz Fischler. 2000 bis 2007 war er Generalsekretär des Landwirtschaftsministeriums und vertrat Österreich in Verhandlungen im Rahmen von EU, WTO und Kyoto-Protokoll. Nach seiner Zeit bei Rewe förderte Wutscher Startups und wurde 2012 in Österreich zum Business Angel des Jahres ernannt. Ein Jahr später gründete er die Beratungsfirma New Venture Scouting, die Brücken zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen schlagen will. In den Bereichen E-Commerce und Digitalisierung ist Wutscher an sieben Firmen beteiligt. Er ist verheiratet lz 01-16 und hat zwei Kinder.
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