Dank Musik und Japan ein besserer Mensch

Kultur
Dienstag, 20. Oktober 2015 / Nr. 242 Neue Luzerner Zeitung Neue Zuger Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Urner Zeitung BIOGRAFIE
Prägte den Rock
und starb früh
Brian Jones,
am 2. Juli 1969
unter mysteriösen
Umständen mit
27 Jahren gestorben, war Gründer
der Rolling Stones. «Er verwandelte das Antlitz
des Rock ’n’ Roll.
Da gab es nichts mehr zu tun. In dieser
Welt benötigte man ihn danach nicht
mehr», sagte ein Enkel des Musikers dem
britischen Journalisten Paul Trynka. Dieser
hat ein gründlich recherchiertes Buch
über Jones geschrieben.
Frauen und uneheliche Kinder
Trynka, der seine Begeisterung für
Jones und den Versuch, die «offizielle»
Popgeschichte zu korrigieren, offen erkennen lässt, hat für das vielseitige Port­
rät 130 Insider – von Roadies über Familienmitglieder bis zu Kollegen – interviewt. «Die Zeitspanne zwischen dem
Erfolg und der Erkenntnis, dass sein
Leben ausser Kontrolle geriet, war
Schwindel erregend kurz», analysiert
Trynka, der chronologisch, unterhaltsam
und informativ das Drama aufrollt.
Gezeigt wird, wie Jones mit seiner
Vorliebe für US-Blues und Experimentierfreudigkeit den Sound der Stones und
der Rockmusik generell entscheidend
mitprägte. Anschaulich schildert Trynka
die Kinderjahre des späteren «bösen Buben des Rock», der mit Anfang 20 bereits
drei uneheliche Kinder mit drei unterschiedlichen Frauen hatte. Doch der
Fokus liegt auf der Musik.
Trynka hat Prominente wie Ginger
Baker befragt: «Brian brachte die Showeinlagen», erinnert sich der Drummer
(Cream) an ein frühes Konzert der Stones.
«Jagger stand rum und sang, während
Brian mit der Gitarre ins Publikum rannte. Mick lernte das von Brian.»
Oder Dick Taylor, temporärer Stone,
räumt mit dem Mythos auf, Richards
habe sich seinen Stil von Ry Cooder
abgeschaut. Die Open-G-Stimmung der
Gitarre, eine Blues-Stimmung mit einem
Country-Blues-Unterton, stamme von
Jones, meint sich Taylor zu erinnern.
Anfeindungen der Gesellschaft gegen
Jones, Razzien der Polizei, Frauen- und
Drogengeschichten sowie medial ausgeschlachtete Gerichtsverfahren nehmen
im Buch ihren Platz ein, doch ohne dass
der Autor sie unnötig aufbauscht.
WOLFGANG HAUPTMANN, APA
[email protected]
Paul Trynka: Sympathy For The Devil – Die
Geburt der Rolling Stones und der Tod von
Brian Jones. Hannibal, 368 Seiten, Fr. 31.90.
Dank Musik und Japan
ein besserer Mensch
ROMAN Die Luzern lebende
Bestseller-Autorin Federica de
Cesco erzählt von traumatischer
Jugend, dem Ersten Weltkrieg
und Läuterung. Dies engagiert
und mit sprachlicher Kraft.
ARNO RENGGLI
[email protected]
Mancher Leser und vor allem manche
Leserin mag die gebürtige Italienerin
Federica de Cesco (77) vor allem als
Autorin von Jugendbüchern präsent
haben. Damit hat ihr neues Buch nun
tatsächlich wenig zu tun. Und im Gegen­
satz zu ihrem letzten Roman, «Tochter
des Windes», der eher leichtfüssig be­
ginnt und erst gegen Ende heftig wird,
ist ihr neuer von Beginn an hart.
Im Wahnsinn des Krieges
Alexander, ein alter Mann, sieht in
Japan seinem Tod entgegen und will
sein Leben aufarbeiten. Als Student
meldet er sich 1914 freiwillig zur deut­
schen Armee. Dies auch als Flucht vor
dem aristokratischen Elternhaus. Dort ist
er vordergründig behütet aufgewachsen,
in Wahrheit in einem Milieu voller Herz­
losigkeit und konventioneller Zwänge.
Seine erste grosse Liebe wird buchstäb­
lich getötet, was in ihm ein enormes
Gewaltpotenzial zum Ausbruch bringt.
Den Wahnsinn des Krieges erlebt er
nun aber nicht etwa an der Westfront.
Es verschlägt ihn ins chinesische Tsing­
tau, wo die Deutschen als Kolonialisten
einen aussichtslosen Kampf gegen japa­
nische Invasoren führen. Nach einer
Orgie des Tötens und Sterbens, die Ale­
xander fast um den Verstand bringt,
gerät er in japanische Gefangenschaft.
Und dort dann ins Lager Bando. Dieses
wurde, soweit der historisch authentische
Background, bekannt für seine humane
Behandlung der Gefangenen sowie eine
Aufführung von Beethovens «Neunter»
durch die Gefangenen. Alexander, gegen­
über Mitinsassen und Lagerbesetzung
zunächst verstockt und renitent, öffnet
sich dank der Musik und der japanischen
Philosophie des Lagerkommandanten zu
einer neuen Sicht auf das Leben.
Schonungslos erzählt
Federica de Cesco nützt ihre sprach­
liche Kraft für schonungslose Schilde­
E
GEBURTSTAG
DER WOCHE
Sein letzter Hit wurde heuer mit einem
Grammy als «Song des Jahres» ausge­
zeichnet – zumindest quasi. Der Preis
ging zwar an Sam Smith, aber der
musste später einräumen, dass sein
Welterfolg «Stay With Me» allzu sehr
Pettys «I Won’t Back Down» von 1989
ähnelte. Künftig werde er den Amerika­
ner sogar als Co-Autor angeben, sagte
der Brite. Petty reagierte gelassen: Kann
ja mal passieren.
Mohair-Anzüge.» Dann sah er noch die
Beatles im Fernsehen, und für den
Teenager war klar: Eine Band musste her.
Die Band der Superstars
Schliesslich entstanden Tom Petty &
the Heartbreakers. Schon das zweite
Album 1978 war ein Grosserfolg, und
das dritte marschierte ein Jahr später
gleich zu Platin: mehr als eine Million
verkaufte Platten. In den Achtzigern
gehörten Petty und die Heartbreakers
zu den festen Grössen im Musikgeschäft
und spielten mit Grateful Dead und
anderen Rocklegenden zusammen.
Petty ist ein Ausnahmemusiker. An­
gefangen hat alles, als der Zehnjährige
aus Florida einem jungen Mann vor­
gestellt wurde. Der lebte sogar davon,
Musik zu machen: Es war Elvis Presley.
«Er sah unwirklich aus, als würde er
hell strahlen», sagte Petty Jahre später.
Faszinierend, geradezu spirituell gewe­
sen sei Elvis mit seiner Entourage: «Es
war wie eine Prozession in der Kirche.
Eine Schlange weisser Cadillacs und
Vom Ruhestand noch weit
entfernt: Tom Petty (65).
Keystone
Als die Republik
Roms unterging
dpa. Intrigen
und Durchstechereien: In «Dictator» beschreibt
Robert Harris
die wohl turbulenteste Zeit der
Römischen Republik. Es geht um
politische Machtspiele und die letzten 14 Jahre, in denen
Cicero als Politiker immer unbedeutender wird und die meisten seiner philosophischen Schriften verfasst.
Am Ende war der brillanteste Redner
um Spielball der mächtigen Feldherrn
geworden. Zuvor hatte Cicero als einer
der heimlichen Strippenzieher und begnadetsten Politiker gegolten, doch nach
der Ermordung Cäsars im Jahr 44 vor
Christus verfing auch er sich im Intrigengeflecht der untergehenden Republik.
Zwölf Jahre hat der Brite Harris an
seiner Roman-Trilogie über Cicero gearbeitet. Dies ist nun der dritte Teil. «Die
Grundlagen der Politik haben sich über
die vergangenen zwei Jahrtausende
kaum geändert», sagt er und verweist
auf die Parallen zu heute, etwa wenn
es um den Missbrauch von Macht geht.
Der Schluss des Romans ist weithin bekannt: Den Niedergang der Republik – als
die Gründung der Dreimännerherrschaft
von Oktavian, Antonius und Lepidus die
«res publica» endgültig beseitigte – hat
Cicero gerade einmal zehn Tage überlebt.
SACHBUCH
Alles über Wein
Stilmittel der Dialoge, die der alte Ale­
xander mit verstorbenen Familienmit­
gliedern und anderen Hauptfiguren sei­
nes Lebens führt. Aber als Transport­
mittel für die psychologischen Inhalte
funktionieren sie gut. Überhaupt hinter­
lässt der auch in historischen Betrach­
tungen sehr engagierte Roman über wei­
te Strecken einen nachhaltigen Eindruck.
bha. Weinredaktor Peter Keller
beantwortet in der
«NZZ am Sonntag»
Leserfragen. Hundert hat er vor
einigen Jahren in
einem Büchlein versammelt. Nun folgen «weitere 101
Fragen aus der Welt der edlen Tropfen».
Keller erläutert in verständlicher Sprache
die Macératon carbonique oder den Begriff Süssdruck, er erklärt, wie man ein
Weinglas richtig hält und wie die Mönche
des Domkapitels Chur der Rebsorte Completer zu ihrem Namen verhalfen.
Federica de Cesco: Die neunte Sonne.
Europa Verlag, 384 Seiten, Fr. 28.90.
Peter Keller: Wein? Keller!
Verlag NZZ, 151 Seiten, Fr. 31.90.
Die weltberühmte Autorin und Wahlluzernerin Federica De Cesco
mit ihrem Mann Kazuyuki Kitamura vor der Hofkirche.
Bild Philipp Schmidli
rungen, etwa von Alexanders Jugend
oder seinen Kriegserlebnissen. Dies
kontrastiert mit der subtilen Sicht auf
den spirituellen Reichtum Japans.
Aus ihrer Bewunderung dafür, die man
auch aus früheren Büchern kennt, macht
sie keinen Hehl. Ihre Nähe zu Japan ist
natürlich auch beeinflusst durch ihre
langjährige Ehe mit dem japanischen
Fotografen Kazuyuki Kitamura. Kritisie­
ren könnte man das etwas plakative
Und dann kamen die Traveling Wil­
burys. Superbands sind Gruppen, deren
Mitglieder schon vorher Stars waren. Als
der Ex-Beatle George Harrison 1988
rasch einen Song für die B-Seite einer
Single brauchte (so etwas gab es damals
noch), bat er ein paar Freunde ins Stu­
dio: Roy Orbison, Jeff Lynne von ELO,
Bob Dylan und Tom Petty. Sie nannten
sich die Traveling Wilburys und taten
so, als wären sie eine unbekannte Band
aus den Südstaaten.
Die fünf Musiklegenden legten ein
erfolgreiches Debüt vor, doch dann starb
Roy Orbison. Die übrigen vier machten
noch eine zweite Platte, dann war
Schluss. Immer wieder wurde über ein
neues Projekt gemunkelt, doch die letz­
te Hoffnung starb 2001 mit Harrison.
Ein Stück Musikgeschichte waren die
Wilburys da längst.
Grosse Hits
Die «Prozession» von Elvis
GESCHICHTE
Robert Harris: Dictator.
Heyne, 528 Seiten, Fr. 33.90.
Elvis-Fan und Herzensbrecher
r feiert heute seinen 65. Geburts­
tag und könnte sich in diesem
Alter längst zur Ruhe setzen.
Aber Rocker wie Tom Petty ge­
hen nicht in Rente. Und Herzensbrecher
schon gar nicht.
8
Petty war in den Neunzigern vom
Rock abgerückt und machte eher Pop.
«Learning To Fly» und «Into The Great
Wide Open» sind heute noch Hits und
eben «I Won’t Back Down». Sein letztes
Soloalbum («Highway Companion») ist
zwar fast zehn Jahre alt, aber es gibt ja
immer noch die Heartbreakers. Deren
letztes Album «Hypnotic Eye» schaffte
es 2014 auf Platz eins in den USA. Wer
denkt da an eine Pensionierung?
CHRIS MELZER, DPA
[email protected]
Schöngeister und ihre Pannen
A
ls junges Mädchen unternahm ich
Familienspaziergänge gerne le­
send. Hörbücher gabs damals noch
nicht. Ich packte den Schmöker ein­
fach vor meinen Bauch und latschte
Eltern und Bruder hinterher. Eines
Tages knallte ich mit dem Kopf gegen
eine Strassenlaterne. Da ging mir ein
Licht auf: Sich in schöngeistige Dinge
zu vertiefen, ist schön und gut. Aber
ohne Realitätssinn wirds gefährlich.
Manchmal vergesse ich diese früh
gelernte Lektion. Vor allem, wenn ich
mit Menschen unterwegs bin, die ähn­
lich ticken wie ich. Kürzlich nahm ich
mit einem Kunstkritiker den Schienen­
ersatzbus von Stans nach Hergiswil. Wir
schwebten im Orbit der internationalen
Kunstszene, warfen uns Grundsatz­
fragen an den Kopf und verliessen den
Bus, vertieft in allerlei abstrakte Ge­
danken – eine Station früher als geplant.
Solche Pannen passieren mir immer
wieder. Sie beweisen: Der ziellose Wan­
dermodus eines Taugenichts, wie ihn
Joseph von Eichendorff einst propagier­
te, ist mit unserem effizienten Trans­
portsystem wenig kompatibel.
Eine befreundete Schriftstellerin
mit starkem Hang zum Schöngeistigen
scheitert bereits an den kleineren
Dingen: Als ihr Freund sie darum bat,
eine Packung Ariel aus dem Keller zu
Julia Stephan
über verlorenen
Realitätssinn
ÜBRIGENS
holen, suchte sie den Keller fieberhaft
nach einer Engelsfigur ab.
Richtig umgehauen hat mich aber
ein befreundeter Theaterkritiker wäh­
rend eines gemeinsamen Ferienauf­
enthalts im Tessin. In einem abgele­
genen Fleck im Centovalli sinnierte er
zerknirscht vor verwaisten Mäuse­
babys minutenlang über die Frage, ob
er moralisch verpflichtet sei, die Num­
mer der Tierrettung zu wählen.
Für solche Fälle akuten Realitäts­
verlusts habe ich ein gutes Rezept:
Nehmen Sie mal wieder eine Axt zur
Hand, fällen Sie Bäume, schleppen Sie
Kisten. Oder helfen Sie dem Metzger
beim Tiereausweiden.
[email protected]