Brandon Robshaw

Brandon Robshaw Der 999. 8 23ste Wunsch
C H I C K E N H O US E
i
Ein Buch, das alle Wünsche erfüllt
Sam hat ein Problem. Also eigentlich mehrere. Aber er ist
ja nicht auf den Kopf gefallen, also wünscht er sich gleich
1 Million Wünsche, als er eine Sternschnuppe sieht.
Und plötzlich wird alles, was er haben will, wahr. Sam
muss zwar erst ein bisschen rumexperimentieren, doch
dann hat er’s raus und konzentriert sich auf die wirklich
wichtigen Dinge: Riesenburger, Superkräfte, einen Job für
seine Mutter. Dass jede Veränderung Konsequenzen nach
sich zieht, war Sam allerdings nicht ganz klar …
Witzig, kurzweilig, originell – perfekte Lektüre für Jungen.
Brandon Robshaw hat englische Literatur und Philosophie in Oxford studiert und bereits zahlreiche Kinderbücher veröffentlich. Er ist Dozent für Kinderliteratur
und unterrichtet »Schreiben für Kinder« an mehreren
Universitäten. Wenn er nicht an seiner Doktorarbeit
sitzt, singt er im Chor, spielt Klavier und Ukulele und
läuft Marathon. Gemeinsam mit seiner Familie lebt er in
Walthamstow, England.
Brandon Robshaw Der 999. 8 23ste Wunsch
Kapitel 1
Die Leute reden oft von Schmetterlingen im Bauch. Schmetterlinge? Bei mir waren es … Hummeln! Flughunde! Vögel!
Hummer, die mit ihren Scheren schnappen!
Es war ein strahlender Morgen Anfang September und ich
war voll ausstaffiert mit meiner nagelneuen Schuluniform:
dunkelgraue Hose und Jackett, weißes Hemd, Krawatte
mit schrägen roten, schwarzen und weißen Streifen. Neue
schwarze Schuhe ohne die kleinste Schramme. Zwei Tage alter Haarschnitt. In meiner Adidas-Schultertasche steckte ein
neuer Taschenrechner neben einer Auswahl an Stiften, einem Geometrie-Set und meinem Mittagessen, bestehend aus
einem Käse-Krautsalat-Sandwich, einer Apfelsine und einem
Müsliriegel.
Ich saß in der Küche und versuchte, eine Scheibe Toast
runterzukriegen. Sonnenlicht strömte durchs Fenster, das
Radio lief und der Moderator klang irrsinnig gut gelaunt.
»Einen wunderschönen Montag allerseits!« und so weiter.
Der hatte gut reden. Er musste ja nichts weiter tun, als im
Studio rumzuhängen, Musik aufzulegen, vor sich hin zu
plaudern und ein Schweinegeld dafür einzusacken. Er musste nicht in eine riesenmegagroße neue Schule mit tausend
Kindern gehen.
Die alle größer waren als er.
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»Alles in Ordnung?«, fragte meine Mutter. Sie merkt immer, wenn ich was auf dem Herzen habe. Als könnte sie Gedanken lesen oder so. »Sehr aufgeregt?«
»Das sollte er auch sein!«, sagte Maeve. »Die fressen ihn
bei lebendigem Leib.«
Ben war so schockiert, dass er aufhörte, sich am Kopf zu
kratzen. »Bei lebendigem Leib? Die kommen ins Gefängnis,
wenn die das machen!«
»Das ist nur eine Redewendung«, sagte Mum. »Mach dir
keine Sorgen, Sam. Sie werden dich nicht bei lebendigem
Leib fressen.«
»Du weißt nicht, wie es da ist, Mum«, sagte Maeve. Sie
hatte das letzte Schuljahr dort beendet und fing nun am
Oberstufenkolleg an. »Da gibt es ein paar echte Psychos.«
»Sei still«, sagte Mum. »Und sei nicht so gemein. Mach
dir mal keine Sorgen wegen dieser Psychos, Sam. Geh ihnen
einfach aus dem Weg.«
»O ja, das ist eine super Idee, Mum«, sagte ich. Mit der
entsprechenden Betonung, versteht sich.
(…)
Es klopfte an der Haustür.
»Das muss Evan sein«, sagte ich.
Er stand in der Uniform der Mary Seacole Comprehensive School auf der Eingangsstufe. Es handelte sich um die
abgelegte Uniform seines großen Bruders. Die Hose reichte
ihm nicht mal bis zu den Knöcheln, die Jackettärmel nicht
bis zu den Handgelenken und das Jackett ließ sich vorne
nicht zuknöpfen. Evan ist ein bisschen übergewichtig. Nicht
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wirklich fett. Nur … na ja, er ist in Form und die Form ist
rund, wie mein Vater sagen würde.
»Was glotzt du denn so?«, fragte Evan. »Sehe ich wirklich
so blöd aus?«
»Nein, nein, nein«, sagte ich schnell. »Du siehst gut aus.
Obercool.«
»Keine doofen Witze, bitte!« Er klang ein bisschen beleidigt.
Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten. Andererseits
war ich jetzt, wo Evan so aufgeregt wirkte, merkwürdigerweise weniger aufgeregt. Ich hatte die Aufregung einfach weitergegeben, wie den Stab beim Staffellauf.
Mum kam in den Flur. »Hallo Evan. Viel Glück, ihr beiden!«
Maeve tauchte hinter ihr auf. »Das werden sie auch brauchen!«
(…)
Die Mary Seacole Comprehensive School befand sich in einem riesigen neuen Gebäude. Es war gelb gestrichen, mit
Stahlträgern an der Außenseite und großen Glasflächen zwischen den Mauern, durch die man die Treppen sehen konnte.
»Seltsam, oder?«, sagte ich zu Evan, als wir vor der Schule
standen und Hunderte Schüler an uns vorbeiströmten und
-drängelten. »Gerade waren wir noch die Größten und jetzt
sind wir wieder die Kleinsten.«
»Ja«, sagte Evan. »Wie in Gullivers Reisen. Als er von Liliput, wo alle winzig sind und er ein Riese, nach Brobdingnag
kommt, wo alle riesig sind und er ganz klein.«
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Evan sagt dauernd solche Sachen. Und er hatte nicht nur
den Film gesehen. Er hatte das Buch gelesen, jede Wette.
»Ja«, sagte ich. »Vermutlich.«
»Aber es wird schon werden«, sagte Evan. »Denk dran,
was Mrs Protheroe gesagt hat – über die strenge Anti-Mobbing-Vereinbarung der Schule.«
»Du hast Recht«, sagte ich. »Kein Grund, sich Sorgen zu
machen.«
Wir sahen uns an. »Tja«, sagte Evan, »dann gehen wir
besser mal rein.«
Am Schnuppertag hatten sie uns gezeigt, wo wir hinmussten. Wir waren in Mrs Protheroes Klasse in Raum G11 im
Erdgeschoss. Aber damals waren nur Siebtklässler da gewesen. Alles war ruhig und friedlich. Heute war es, als ob man
einen Bienenstock beträte.
»Bist du sicher, dass meine Uniform okay aussieht?«, fragte Evan.
»Also, äh, ja«, sagte ich. »Total.«
»Deine Haare stehen hoch.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich mag sie so.«
Und so gingen wir rein und bahnten uns den Weg durch
die vollen lauten Flure zu Mrs Protheroes Raum. Und wisst
ihr was? Es passierte überhaupt nichts Schlimmes oder Beängstigendes.
Bis zur Pause.
Evan und ich schlenderten an dem Platz entlang, wo einige
der großen Schüler Fußball spielten. Wir unterhielten uns
darüber, welcher Captain in Captain Invincible der beste war.
»Matt Lukovitz ist gut«, sagte ich. »Er ist lustig. Aber ich
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glaube, insgesamt ist doch Garrett Butcher mein Favorit,
weil –«
»Mein Dad sagt, Sidney Kronk war der beste.«
Das brachte mich in eine Zwickmühle. Ich hatte eine alte
Captain-Invincible-Folge mit Sidney Kronk gesehen und war
nicht wirklich beeindruckt gewesen. Aber ich wollte Evans
Dad nicht widersprechen, denn er war sehr krank. In den
letzten zwei Jahren musste er immer wieder ins Krankenhaus
und er konnte nicht mehr arbeiten. Ich hatte irgendwie das
Gefühl, es wäre total daneben, davon anzufangen, dass Evans
Dad mit Sidney Kronk total falschlag – wenn ihr wisst, was
ich meine. Ehe ich mir überlegen konnte, was ich sagen sollte, kam ein Fußball mit ungefähr 250 Stundenkilometern
auf uns zugeschossen und traf Evan mitten im Gesicht, so
dass ihm die Brille von der Nase flog.
»Yo!«, schrie eine furchterregende Stimme. »Gib uns unseren Ball zurück, du Trottel!«
Ein großer Junge mit bleichem Gesicht, schwarzem Haar
und kalten, harten Augen funkelte uns an.
Evan kroch auf Händen und Füßen umher und suchte
seine Brille. Blut tropfte ihm aus der Nase. Ich hob die Brille
auf und reichte sie ihm.
»Schieß den Ball rüber, du kleiner Penner!«
»Willst du dich vielleicht mal entschuldigen?«, fragte ich.
»Du hast ihm gerade voll ins Gesicht geschossen.«
»Dann sollte er uns mit seiner Hackfresse eben nicht in
die Quere kommen!«
Seine Kumpels lachten. Aber der Junge selbst sah nicht
so aus, als würde er das witzig finden. Er kam auf uns zu. Ich
warf den Ball zu ihm zurück, aber das interessierte ihn nicht.
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»Was ist dein Problem?«, fragte er.
»Du«, sagte ich. Es platzte einfach so aus mir heraus. Ich
wusste, das war selbstmörderisch, aber es stimmte einfach.
Er riss die Augen auf. Sein Gesicht war nun direkt vor
uns.
»Du? Du?«
Er machte eine plötzliche Bewegung mit seiner Hand,
als wollte er mich schlagen. Ich sprang zur Seite, aber dann
führte er seine Hand nur lässig zum Kopf und strich sich das
Haar zurück. Seine Kumpels prusteten los.
»Wen lassen die heutzutage nur alles an diese Schule?
Guckt euch bloß diese beiden Brote an. Der hier« – er bohrte Evan fest den Finger in den Magen, man konnte richtig
sehen, wie er verschwand – »ist so fett, dass es nicht mal eine
passende Uniform für ihn gab. Und der hier« – er stach mir
den Finger in die Rippen, dass es richtig wehtat – »hat Haare
wie ’ne Klobürste. ’Ne rote Klobürste!«
Seine Kumpels lachten noch mehr und kamen näher, umringten uns. Ich warf Evan einen irgendwie hilflosen Blick
zu. Genau in dem Moment, als er sich umwandte und mir
denselben Blick zuwarf.
»Wie heißt du?«, fragte der große Junge.
»Evan Carter«, murmelte Evan.
»Wie? Evan Kacker?«
Wie auf Kommando stürmisches Gelächter von seinen
Kumpels. Evan wurde rot.
»Und du?« Er wandte sich an mich. »Wie ist dein bescheuerter Name?«
»Wieso? Wie ist denn deiner?«
Ich weiß nicht, warum ich mich aufführte, als hätte ich
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Todessehnsucht. Ich glaube einfach fest daran, dass das Leben fair sein sollte, wisst ihr? Wenn er mich nach meinem
Namen fragen konnte, wieso konnte ich ihn dann nicht nach
seinem fragen? Ich weiß, dass das Leben nicht fair ist – Erwachsene behaupten das ja immer –, aber es sollte fair sein.
Seine Kumpels schnappten nach Luft. »Der braucht wohl
mal ’ne Lektion, Scorpus.«
Scorpus grinste verächtlich – als wenn seine Lippe an einer Seite von einer Schnur hochgezogen würde. »Ja, weil,
dafür ist die Schule ja da, ne? Lektionen lernen.« Er schubste
mich an die Wand. Ich konnte die Ziegelsteine an meiner
Wirbelsäule spüren. Und ich wünschte mir stärker, als ich
mir jemals irgendwas in meinem Leben gewünscht hatte, dass ich Superkräfte hätte wie in den Marvel-Comics.
Wenn ich Spider-Man wäre, könnte ich ihn mit all meiner
Spider-Man-Kraft niederschlagen und ihn dann in ein Netz
einspinnen. Und wenn ich der Unglaubliche Hulk wäre,
könnte ich ihn einmal über den ganzen Schulhof schleudern
und er würde an die Wand auf der anderen Seite klatschen.
Und wenn ich Thor wäre, dann würde ich meinen Hammer
nehmen und –
»Das kostet Strafe«, sagte Scorpus. »Fürs Frechsein. Her
mit deinem Essensgeld.«
»Lass ihn in Ruhe!«, sagte Evan. »Diese Schule hat eine
Anti-Mobbing-Vereinbarung –«
Ein wahrer Lachorkan.
Scorpus streckte mir die Hand entgegen. »Essensgeld.«
»Ich habe keins. Ich habe was zu essen mitgebracht.«
Einer seiner Kumpel, ein stämmiger Junge mit einer
blonden Strähne und einer gepiercten Augenbraue – was ei-
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gentlich gegen die Schulregeln verstieß –, kippte meine Adidas-Tasche aus. Taschenrechner, Geometrie-Set und Stifte
purzelten heraus – und meine Brotdose.
»Oh, was haben wir denn da?« Scorpus hob den Taschenrechner und das Geometrie-Set auf. »Er hat all seine kleinen
Instrumente dabei, ist das nicht süß?« Er ließ sie in seiner
Jackentasche verschwinden.
»Gib die wieder her!«
»Äh, wie soll ich das sagen? Nein!« Dann öffnete er die
Brotdose. »Und was haben wir hier? Käse? Ich hasse Käse.«
Er warf das Sandwich auf den Boden und zertrat es mit dem
Fuß, bis der ganze Krautsalat an den Seiten herausquoll. Er
warf die Apfelsine ein paar Mal hoch und fing sie wieder auf,
dann holte er mit dem Arm aus und ließ sie einmal über den
ganzen Schulhof sausen. Sie klatschte auf der anderen Seite
an die Wand – genau so, wie es ihm ergangen wäre, wäre ich
der Unglaubliche Hulk. Schließlich nahm er den Müsliriegel, sah ihn sich an und steckte ihn in die andere Tasche. Es
war einer mit Schokoguss.
»Ende der Lektion«, sagte Scorpus. »Die Lektion lautete:
Respekt zeigen. Verstanden?«
Ich hätte nur Okay sagen oder nicken müssen. Aber irgendwie … Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte Angst vor
ihm. Aber ich respektierte ihn nicht. Also starrte ich ihn nur
stumpf an.
»Ich sagte: Verstanden?«
»Ach komm«, sagte einer von Scorpus’ Kumpels. »Lass uns
weiterspielen, es läutet bald.« Es war ein schwarzer Junge mit
rasiertem Kopf. Und obwohl er wirklich tough aussah, klang
seine Stimme irgendwie so, als ob er Mitleid mit mir hätte.
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Scorpus wandte sich zu ihm um. »Ich komme, wenn ich
so weit bin, okay?«
»Guck mal – ein Lehrer!«, sagte Evan.
Eine Welle der Erleichterung durchspülte mich, als ich
einen glatzköpfigen Lehrer mit Brille und braunem Cordjackett in unsere Richtung kommen sah.
Scorpus fluchte. »Okay, lasst uns spielen. Ihr zwei« – er fixierte uns nacheinander mit einem Laserstrahl-Blick – »wenn
ihr irgendetwas sagt, seid ihr tot.« Er fuhr sich mit dem Finger quer über die Kehle. »Capito?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was capito
heißt.«
Scorpus machte einen halben Schritt vor und einen Augenblick lang glaubte ich, dass er wieder loslegen würde.
Aber der Lehrer war nun fast bei uns. Rasierter-Kopf zog an
Scorpus’ Arm und Scorpus trollte sich endlich.
»Puh!«, sagte Evan zittrig. »Das war furchtbar!«
»Was machen wir jetzt?«
»Na ja … du kannst was von meinem Essen abhaben.«
»Danke. Aber ich meinte, wir müssen das melden, oder?«
»Müssen wir?«
»Ja, Mrs Protheroe hat gesagt –«
»Ja, aber er hat gesagt –«
»Ja, aber Mrs Protheroe hat gesagt –«
»Ja, aber er wird uns umbringen!«
»Wird er nicht«, sagte ich. »Das werden sie nicht zulassen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Hör mal, sie haben die Anti-Mobbing-Vereinbarung.
Die müssen sie ja nun mal durchsetzen. Und überhaupt, wa-
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rum sollten wir ihn damit durchkommen lassen, dass er uns
so rumschubst und meine Sachen klaut? Das ist nicht fair!«
»Das Leben ist nicht fair«, sagte Evan.
»Tja, dann müssen wir eben versuchen, es fair zu machen«, sagte ich.
Also gingen wir zu Mrs Protheroe und ritten Scorpus in
die Na-ihr-wisst-schon-was. Und uns gleich mit, wie sich herausstellen sollte.
Kapitel 2
Als ich von der Schule nach Hause kam, fragte meine Mutter: »Und, wie war der erste Tag?« und so weiter und so fort.
Ich sagte, gut. Ich hatte keine Lust, das mit Scorpus und
seiner Gang zu erzählen. Irgendwie war mir das peinlich, obwohl ich gar nichts dafür konnte.
Am nächsten Tag wieder in die Schule gehen zu müssen
machte mir ernsthaft Sorgen. Mrs Protheroe hatte sich mit
Scorpus und uns zusammengesetzt und er musste mir meine
Sachen zurückgeben. Was er mit einem verächtlichen Grinsen im Gesicht getan hatte. Er sagte, es sei doch nur Spaß
gewesen, und sie sagte, das wiederhole sich hoffentlich nicht,
sonst bekomme er ernsthafte Schwierigkeiten.
Das hörte sich vielleicht alles ganz gut an. Aber kaum waren wir vor der Tür, hatte Scorpus uns angesehen und wie
der Schurke aus einer TV-Serie mit tiefer böser Stimme ge-
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knurrt: »Ich hab euch beiden Losern gesagt: Wenn ihr mich
verpetzt, bring ich euch um. Und ich halte immer Wort. Wir
sehen uns nach der Schule.«
In der letzten Stunde hatten wir Geschichte bei Miss
Spiggins und der Raum lag in der Nähe des Haupteingangs,
so dass wir die Schule schnell verlassen und den ganzen Weg
nach Hause rennen konnten, bevor Scorpus auftauchte. Immerhin, das war ja schon mal was. Aber wir konnten ihm
nicht ewig aus dem Weg gehen.
Wie sich herausstellte, hatten wir uns die absolut
schlimmste Person ausgesucht, mit der man sich anlegen
konnte. Wirklich. Es war, als hätten wir uns Dr. Doom oder
Darth Vader oder so jemanden zum Feind gemacht. Scorpus
war der reine Terror. Eine Legende. Er war der härteste Typ
der Schule und hatte letztes Jahr einen Schulverweis bekommen, weil er einen Lehrer angegriffen hatte. (…)
Als mein Vater abends von der Arbeit kam und mich fragte, wie es war, erzählte ich ihm deshalb auch, dass alles gut
war.
»Sie haben dich also nicht gefressen?«, frage Ben und
kratzte sich am Kopf.
»Nein, noch nicht«, sagte ich.
Mein Vater ließ sich in den Sessel sinken und seufzte.
»Ich bin froh, dass dein erster Schultag gut verlaufen ist,
Sam. Ich wünschte, ich könnte dasselbe über meinen Arbeitstag sagen.«
»Warum?«, fragte Mum. »Sie haben doch nicht …?«
»Doch, haben sie«, sagte mein Dad mit dieser tiefen, rauen Stimme, die er immer dann bekam, wenn es richtig ernst
wurde. »Roger Haggerston hat die Umstrukturierung für
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nächsten Monat angekündigt. Und meine Abteilung ist …
umstritten.«
Mum wirkte erschüttert. Geld ist bei uns zu Hause schon
immer ein bisschen knapp gewesen. Nicht so knapp wie bei
Evan, aber trotzdem. Irgendwie knapp. Wir sind keine von
diesen Familien, die sich Riesenplasmafernseher oder ein
neues Auto oder Fernreisen leisten.
»Was meinst du mit umstritten?«
»Ich meine umstritten – du weißt doch, was das bedeutet,
oder?«
(…)
Meine Mum sagte so was wie: »Was sollen wir bloß machen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte mein Dad bedrückt. »Wenn es
hart auf hart kommt, bekomme ich eine Abfindung, aber ich
weiß nicht, wie hoch die sein wird.«
»Wie können die das nur tun, nach sechzehn Jahren?«
»Die können tun und lassen, was sie wollen.«
Er klang so traurig und erschöpft, dass es sogar unserem
Hund auffiel. Er lief zu meinem Vater und legte ihm den
Kopf aufs Knie. Dad streichelte ihm die Ohren.
»Na los, Billiam. Soll ich mit dir Gassi gehen?«
Billiam fing an, rumzuspringen und rumzutollen. Dad
stand auf und holte die Leine.
»Ich komme mit«, sagte ich.
Ich wollte auch noch mal raus. Und vielleicht konnte ich
ja meinen Vater ein bisschen aufheitern.
Es sollte sich herausstellen, dass das eine fantastische Idee
von mir war.
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Es wurde gerade dunkel. Dad und ich gingen, ohne viel zu
reden, nebeneinanderher. Ich dachte daran, morgen wieder
in die Schule zu müssen, und er dachte vermutlich daran,
nicht mehr zur Arbeit zu müssen. Aber es war irgendwie
tröstlich, schweigend nebeneinanderher zu stapfen.
Plötzlich zeigte Dad nach oben. »Sieh mal da!«
Ein strahlender Silberstreif glitt über den samtigen blauen
Himmel.
»Ist das eine Sternschnuppe?«
»Ganz genau.«
»Und da kann man sich was wünschen?«
Dad lachte. »So sagt man, ja. Eigentlich ist es nur ein
Meteorit, der verglüht, wenn er in die Erdatmosphäre eintritt. Ein Felsbrocken aus dem All. Ich wüsste nicht, wie der
Wünsche erfüllen soll …«
»Also, ich wünsche mir was«, sagte ich. »Man weiß ja nie!«
»Dann schnell, bevor er verglüht!«
Ich sollte vielleicht klarstellen, dass ich in diesem Moment eigentlich nicht an den Wunsch glaubte. Ich glaubte
nicht wirklich, dass ein trudelnder Felsbrocken aus dem All
für mich die Welt verändern würde oder könnte. Es hatte nur etwas Tröstliches, sich das vorzustellen – so wie es
manchmal tröstlich ist zu beten, selbst wenn man nicht an
Gott glaubt.
Also sagte ich mir in Gedanken: Ich wünsche mir eine Million
Wünsche.
Die Sternschnuppe verschwand hinter den Bäumen.
Mein Dad fragte: »Hast du dir was gewünscht?«
»Ja, hab ich.«
»Was denn?«
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»Das sag ich lieber nicht. Sonst geht es nicht in Erfüllung.«
Mein Dad lächelte ein bisschen. Ein irgendwie müdes,
erwachsenes Lächeln. »Ich glaube, es geht sowieso nicht in
Erfüllung, Sam.«
»Nee, vermutlich nicht.«
Aber in Gedanken sagte ich: Ich wünsche mir, dass Scorpus
uns morgen nicht verprügelt. Und ich wünsche mir, dass Dad seinen
Job behält.
Was theoretisch bedeutete, dass ich noch 999.998 Wünsche übrig hatte.
Brandon Robshaw
Der 999.823ste Wunsch
Aus dem Englischen von Britt Somann
Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge – Vivien Heinz
Ca. 192 Seiten
Ab 9 Jahren
15 x 21 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-52079-1
Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr. 19,50
Erscheint im November 2015
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