Wie können wir Wertekonflikte offen ansprechen und gleichzeitig über alles Trennende hinweg Lösungen finden? Eine Suche nach Antworten Von Elisa Rheinheimer-Chabbi Die Stimmung kippt. Wenn dieser Tage von Flüchtlingen die Rede ist, denken viele zuerst an die sexuellen Übergriffe in Köln. Flüchtlinge, Muslime, Araber und Nordafrikaner, die schon lange in diesem Land leben, verschmelzen dann schnell zu einer einzigen Melange des »feindlichen Fremden«. Für viele Deutsche scheint klar zu sein: Das sind die anderen. Die unsere Werte nicht teilen. Mit denen Integration nicht geht. Werte und Identität kamen in der Flüchtlingsdebatte lange Zeit kaum vor. Zu groß war die Angst, Rechtspopulisten Argumente für ihre Fremdenfeindlichkeit zu liefern. Nun ist sie plötzlich da, die Debatte über Werte, angekommen in einer Gesellschaft, in der das Motto »Anything goes« doch eigentlich Konsens ist, in der Moral und Anstand verstaubte Begriffe aus einer längst vergangenen Zeit sind. Aus der Politik kommen nun verschiedene Vorschläge, wie Flüchtlinge mit »unseren Werten« vertraut gemacht werden sollen. Horst Seehofer fordert, einen schriftlichen Regelkatalog auf die Kopfkissen in den Flüchtlingsunterkünften zu legen. Die SPD verteilt das Grundgesetz in arabischer Sprache. In einigen Kommunen hält die Polizei »Wertekurse« ab. Doch diese Vorschläge wirken oft hilflos. Wird man zum Demokraten, wenn man einen Regelkatalog auswendig lernt? Wohl kaum. Das Problem ist ein anderes: Was sind überhaupt »unsere Werte«? Die Diskussion über einen Verfassungsvertrag für Europa zu Beginn der 2000er-Jahre warf genau diese Frage auf. Eine Antwort wurde nicht gefunden; der Vertrag trat nie in Kraft. Unsere Werte – sind das Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Toleranz, Respekt, die Gleichberechtigung der Frau? Sicher – aber sind das nicht auch universelle Werte? Ist beispielsweise »Respekt« nicht ein Wert, den Syrer genauso wie Deutsche, Christen wie Muslime, Männer wie Frauen unterschreiben würden? Nur versteht jeder etwas anderes darunter; Respekt kommt bisweilen in unterschiedlichem Gewand daher. Oder ist der aus der Aufklärung erwachsene Mut zur Kritik – das Hinterfragen auch von scheinbar göttlichen Wahrheiten – ein »typisch deutscher« Wert? Eine klare Antwort, die alle Deutschen unterschreiben, gibt es nicht. Es ist diese Unsicherheit, die die Diskussion über vermeintlich deutsche und arabische Werte so kompliziert werden lässt. Brauchen wir zuerst eine innerdeutsche Debatte über unsere Werte, bevor wir darüber mit Zuwanderern in Dialog treten können? Oder kristallisiert sich erst in der Gegenüberstellung mit anderen heraus, was uns selbst wichtig ist? Verunsicherung liegt in der Luft. Aus Verunsicherung erwächst Angst. Und aus Angst wird Abgrenzung. »Wertedebatten sind oft Abgrenzungsdebatten, mit denen andere Gruppen ausgeschlossen werden. Die ›Wertegegner‹ sind dabei austauschbar: Fremde, Muslime, Andersdenkende«, erklärt Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam. »Die Diskussion ist durch Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Ein Weltbild, das ein ›Wir‹ und ›die Anderen‹ konstruiert, erschwert die notwendige Auseinandersetzung über Werte«, warnt er. Frauenkörper im Fokus der Wertedebatte Werte, so die weit verbreitete Ansicht, wurzeln in der Kultur oder Religion. Soziologen relativieren das. Die Entwicklung von Werten werde von sehr vielen Faktoren beeinflusst. Familie, Erziehungsstile, soziale Milieus und der Bildungsgrad spielten ebenso eine Rolle wie Religion und Kultur. »Einen einzigen dominierenden Faktor auf die Wertebildung gibt es nicht«, betont Schubarth. Doch die soziologischen Erkenntnisse und die gefühlte Wirklichkeit liegen bisweilen weit auseinander. Waren es in Köln nicht überwiegend Nordafrikaner und Araber, die Frauen belästigten? Das heißt doch wohl, dass da gewaltig was im Argen liegt mit dem Frauenbild von »denen«, oder? – Es interessierte nach den Silvestervorfällen kaum jemanden, dass mehr als 350 Syrer in Köln gegen Sexismus demonstrierten und sagten: Wir, arabische Männer, verabscheuen und verurteilen Gewalt gegen Frauen. Nur die wenigsten bekamen mit, dass Flüchtlinge einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel schrieben und betonten: »Auch für uns ist die Würde des Menschen unantastbar, ob Mann oder Frau.« Es ging unter, dass es syrische Männer waren, die eine Amerikanerin, die in der Silvesternacht begrapscht wurde, in Sicherheit brachten. Doch was bleibt, ist das Bild: Arabische Männer sind übergriffig, gefährlich, und sie haben ihre Triebe nicht unter Kontrolle. »Der Diskurs ist hoch emotional«, fasst Wilfried Schubarth zusammen. Die Debatte über Werte geht dabei oft entlang von Frauenkörpern. Dass Sexismus auch in unserer Gesellschaft ein Problem ist, kommt in dieser Debatte zwar vor, aber: »Wir verdrängen unsere eigenen Baustellen. Indem wir die Probleme auslagern, entlasten wir uns selbst«, sagt die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus. »Anstatt von der Gleichberechtigung der Frau als unserem exklusiven Wert zu sprechen, sollten wir lieber von Idealen reden. Damit wertet man andere nicht ab und tut auch nicht so, als wäre in unserer Gesellschaft alles in Ordnung.« Solch differenzierte Töne gehen in der allgemeinen Hysterie unter. Deutsche fürchten sich, ihre Töchter noch alleine auf die Straße zu lassen. »Diesen Arabern sind Frauen nichts wert«, glauben sie. Dasselbe Denkmuster funktioniert auch andersherum: Flüchtlinge, denen sich auf Werbeplakaten halbnackte Frauen entgegenräkeln, denken empört: »Diesen Deutschen sind Frauen nichts wert.« Klar ist: Sexuelle Übergriffe haben mit Werten nichts zu tun, sie sind eine Sache für Polizei und Justiz. Über Geschlechterrollen zu reden ist hingegen Teil einer Wertedebatte, die wichtig und notwendig ist. Um eine solche Diskussion zu ermöglichen, darf die »Verrohung der Streitkultur«, von der Wilfried Schubarth spricht, nicht anhalten. »In einer vergifteten Atmosphäre, die durch Unterstellungen und Verdächtigungen geprägt ist, kann sich keine differenzierte Streitkultur entwickeln«, sagt er und fordert eine möglichst sachliche, vorurteilsfreie Diskussion über Werte. Denn fest steht: Menschen haben unterschiedliche Werte. Wichtiger als die Frage, woher sie stammen, ist jedoch die Frage, wie man mit Wertekonflikten umgehen kann. Das Verständnis von Integration spielt dabei eine Schlüsselrolle. Auch Deutsche müssen Integration lernen »Die sollen sprechen wie wir, sich kleiden wie wir, essen und sich einrichten wie wir, laut oder leise sein wie wir, sich an Regeln halten, sich ordentlich benehmen«, schreibt Annette Treibel über das Integrationsverständnis der Deutschen in ihrem Buch »Integriert euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland«. Das, so Treibel, sei die Crux: Anpassung und Unauffälligkeit seien keine zentralen Kriterien der Integration. Sie plädiert dafür, den Blick zu weiten. »Integration in die Gesellschaft und Integration als Gesellschaft sind zwei Seiten einer Medaille«, ist die Soziologieprofessorin überzeugt. Der Titel ihres Buches bezieht sich daher nicht nur auf Neuzuwanderer: »Auch Deutsche müssen Integration lernen.« Natürlich stehe außer Frage, dass hier Regeln und Gesetze gelten, die von allen beachtet werden müssen. Zu erkennen, dass mir auch ähnlich sein kann, wer Özoguz mit Nachnamen heißt, sei aber noch immer eine große Aufgabe für die deutsche Gesellschaft. Die Diskussion um Werte ist ein Teilaspekt davon. »Die Fronten werden sich verschieben. Konservative Zuwanderer werden sich mit konservativen Einheimischen verbinden, liberale Flüchtlinge mit liberalen Deutschen – beispielsweise wenn es um Homosexualität geht«, ist Treibel überzeugt. Einwanderern und ihren Nachfahren auf Augenhöhe zu begegnen sei eine Voraussetzung dafür, sie als Verbündete zu gewinnen. Eine, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema Werte auseinandersetzt, ist Jeanette Ersoy. Sie arbeitet beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften, der seit über vierzig Jahren Paare mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund berät. Wie solche Paare mit Wertekonflikten umgehen, davon könne sich die Gesellschaft etwas abgucken, ist Ersoy überzeugt. Allem voran: »Die Bereitschaft, sich auf einen Menschen einzulassen.« In binationalen Ehen gebe es natürlich Schwierigkeiten, auch massive. Aber die Paare versuchten, gemeinsam etwas Neues zu schaffen. »Dazu gehören Offenheit, Toleranz, Neugierde – und manchmal auch ein Aushaltenmüssen«, sagt Ersoy. Rund 30 000 Paare berät der Verband jedes Jahr. Das sind 30 000 Menschen, die lernen müssen, sich füreinander zu öffnen. Dem anderen Wertschätzung entgegenzubringen. Ihn so zu nehmen, wie er ist. Und nicht zu erwarten, dass er so wird wie man selbst. Es sei jeden Tag aufs Neue ein Lernprozess. »Oft werden Konflikte in einer Ehe kulturalisiert«, berichtet Ersoy. Probleme auf die andere Kultur oder Religion des Partners zu schieben sei ein einfaches Erklärungsmuster für die Andersartigkeit, »aber da muss man aufpassen«, warnt sie. Oft gehe es schlicht um zwei Menschen mit Stärken und Schwächen. Der Soziologe Ali Fathi bestätigt: »Wir müssen uns als Menschen begegnen – nicht als Klischees.« Das geht jedoch leichter, wenn ein Gefühl von Sicherheit gewährleistet ist. Flüchtlingen fehlt diese Sicherheit, wenn sie hier ankommen. Für sie ist zunächst alles fremd. Darum sind besonders deutsche Muslime gefragt. Sie können eine Vermittlerrolle einnehmen, beispielsweise als Integrationslotsen, die Flüchtlingen das Leben in Deutschland erklären und ihnen zentrale Verfassungswerte näherbringen. Die Idee stammt von Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime. »Wir haben Integrationslotsen herangebildet, die insbesondere die arabische Sprache beherrschen wie ein Großteil der Flüchtlinge«, sagte Mazyek bereits im September vergangenen Jahres. »Unterstützung seitens der Politik und Behörden für dieses Vorhaben ist ausbaufähig«, sagt er heute ernüchtert. Der Islam werde oft immer noch eher als Problem denn als Teil der Lösung betrachtet. Eine ganze Reihe von Moscheen engagiere sich aber bereits seit 2013 in der Flüchtlingsarbeit, Muslime seien genauso ehrenamtlich tätig wie Nichtmuslime. Konflikte sind vorprogrammiert Ein Beispiel ist das Münchner Forum für Islam, das einen deutsch- und arabischsprachigen Leitfaden »für muslimische Migranten zu einem gelingenden Miteinander in Deutschland« veröffentlichte. Darin stehen Sätze wie: »Das Grundgesetz ist die gemeinsame, verbindliche Grundlage aller. Gott hat im Koran befohlen, der Autorität zu gehorchen, damit keine Anarchie in der Gesellschaft aufkommen kann.« Es werden Koranverse und Aussprüche des Propheten Mohammed zitiert, bevor die Autoren fortfahren: »Also wird befohlen, zum einen den Gesetzen Gottes und der Propheten Folge zu leisten, aber auch der politischen Führung, die unser Land gemäß dem Grundgesetz regiert. Dies sind keine konkurrierenden Systeme.« Sich das klarzumachen kann Deutschen wie Flüchtlingen gleichermaßen helfen, die Angst vor einem Werteverlust abzulegen. Das bedeutet nicht, dass Multikulti-Schönfärberei angesagt wäre. Wir leben nicht in einer »heilen Welt«. Konflikte sind vorprogrammiert, wenn viele unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen. Vielleicht wird die Forderung laut, dass in deutschen Kantinen Halal-Fleisch angeboten wird. Heißt das dann, dass wir Fremde im eigenen Land geworden sind? Vielleicht werden immer mehr Schwimmbäder reine Frauenöffnungszeiten einführen. Bedeutet das, dass der ungezwungene Umgang von Frauen und Männern in der Öffentlichkeit untergraben wird? Vielleicht wollen strenggläubige Muslime fremden Frauen nicht die Hand geben. Wird dann ein Aufschrei der Empörung durchs Land gehen – oder werden wir wie Jeanette Ersoy sagen: »Ich bleibe da gelassen. Wichtig ist doch, zu fragen, warum der Mann mir nicht die Hand gibt. Tut er das, weil er mich nicht respektiert – oder im Gegenteil, weil es für ihn ein Zeichen des Respekts ist, die Hand aufs Herz zu legen?« Wir müssen darüber streiten. »Das Diktat ›Ihr müsst euch anpassen! Ihr müsst eure Identität aufgeben!‹ hat noch nie funktioniert, und es wird auch in Zukunft nicht funktionieren«, sagt der Hamburger Soziologe Ali Fathi. »Stattdessen müssen wir Räume schaffen, in denen das Miteinanderreden möglich wird. Wenn ich die Werte der anderen gar nicht kenne, kann ich nicht darüber urteilen.« Klingt simpel – und doch auch wieder ein bisschen hilflos. Können Wertekonflikte allein durch Gespräche gelöst werden? Durch Stuhlkreisrunden und Begegnungscafés? »Unterschiede bringen Konflikte mit sich – aber das ist nicht der Untergang des Abendlandes«, sagt Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus. Aus soziologischer Perspektive sind Konflikte sogar förderlich für die Integration. »Das ist der springende Punkt: Integration ist nicht gleichzusetzen mit Harmonie«, betont Annette Treibel. Konflikte gehörten dazu, damit etwas Neues entstehen könne. Zugegeben: Das ist eine ernüchternde Botschaft. Aber: »Wir sollten Verschiedenheit mit etwas mehr Selbstbewusstsein angehen. Wir haben im Umgang damit im Laufe der letzten Jahre viel dazugelernt«, sagt Treibel. Wir brauchen eine neue Streitkultur zu Werten und Wertekonflikten. Offen, ehrlich, und ohne Scheuklappen. Wenn wir erkennen, dass Wertekonflikte nicht nur entlang nationaler, ethnischer oder religiöser Grenzen verlaufen, kann sich die aufgeheizte Stimmung im Land entspannen. Wenn ein deutscher Mann in einer Diskussion um Ehe und Familie einer syrischen Frau im Kopftuch beipflichtet, wenn sich ein junger Iraker mit einer Französin zusammentut, um für Frauenrechte zu kämpfen, dann ist die Wertedebatte ehrlich – und zielführend. Die Initiatorinnen der Kampagne »ausnahmslos«, die sich nach den Ereignissen von Köln gegen Sexismus und Rassismus wenden, sind ein gutes Beispiel dafür. Unter den Feministinnen sind Frauen, die Kopftuch tragen, solche, die queer sind, und »alte« Frauenrechtlerinnen. Sie heißen Katrin und Kübra, Hengameh und Helga. Es sind allesamt Deutsche, die mit ihrer Aktion zeigen: Es geht uns um die Wertschätzung von Frauen. Dafür stehen wir zusammen, egal wo wir oder unsere Vorfahren herkommen, egal welche Religion wir haben. In ein paar Jahren sind vielleicht auch Frauen unter ihnen, die heute als Flüchtlinge hier sind. Nur Mut, Deutschland! ê Vielleicht wollen strenggläubige Muslime fremden Frauen nicht die Hand geben. Ist das akzeptabel?
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