Predigt über 1. Mose 32, 25-32 (Professor Dr. Jürgen Moltmann) 1 „Und Jakob blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht überwinden konnte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Der aber sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Der sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und Menschen gekämpft und hast überwunden. Und Jakob fragte ihn: Sage doch, wie heißt du? Der aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn. Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen. Als er an Pniel vorüberkam, ging die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte". Liebe Schwestern und Brüder, Nortonen aus jenen Jahren 1945-1948 hinter Stacheldraht und liebe Gemeinde hier in London, es ist eine Freude für mich, zusammen mit Hans Nickles diesen Gottesdienst zu gestalten: Ist er einer der ältesten Nortonen aus den Anfängen der Theologischen Schule 1945, so bin ich einer der Jüngsten aus ihrem letzten Semester 1948. Aber es ist dieselbe lange Gefangenschaft, die uns traf, und der gleiche Segen, mit dem wir aus jenen dunklen Jahren herauskamen. Die biblische Geschichte von Jakobs Kampf mit dem Engel des Herrn am Jabbok, die wir eben gehört haben, war für mich in jenen Jahren immer die Gottesgeschichte, in der ich meine eigene, kleine, menschliche Geschichte wiedergefunden habe. Wir kamen in die Schrecken des Kriegsendes und in das ausweglose Elend der Kriegsgefangenschaft hinein und haben mit Gott gerungen, um in den Abgründen von Sinnlosigkeit und Schuld zu überleben, und wir sind aus jenen Jahren mit „hinkender Hüfte" zwar, aber gesegnet herausgekommen. Unsere Seelen waren tief verwundet, als der Krieg endlich zum Ende kam, und nach den Jahren in Norton Camp sagten viele von uns: „Meine Seele ist genesen, denn ich habe Gott gesehen". Die Nacht der kalten Verzweiflung kam in den Arbeitslagern über uns, und quälende, bohrende Nachtgedanken haben uns heimgesucht, jeden auf seine Weise, und als wir herauskamen, sahen wir, daß „die Sonne aufgegangen war". Zur bleibenden Erinnerung gleichsam hat jeder von uns irgendwo „seine hinkende Hüfte", die Narben aus jener Zeit an Leib und Seele. Darum habe ich diese Geschichte gewählt, um mit ihr und in ihr geborgen unsere Geschichte zu erzählen, wie ich sie erlebt habe. Wenn wir nachts wach liegen und in die Schächte der Erinnerung hinabsteigen, dann ist plötzlich alles gegenwärtig, was doch schon so lange her ist; es ist, als gäbe es keine Zeit; die Schmerzen und der Segen bleiben in uns, denn sie gehen mit uns, wohin wir uns auch wenden. Aus der Fülle der Gesichter, die in einem dann auftauchen, nehme ich nur einige auf, um uns gemeinsam zu erinnern: I. Der Weg ins Elend 1. Die Entronnenen sind wir gewesen. Aus dem Massentod des Weltkrieges sind wir entronnen. Auf jeden, der das überlebt hat, kommen Hunderte von Toten. Wozu haben wir das überlebt und sind nicht tot, wie alle die anderen? Ich war als Luftwaffenhelfer im Juli 1943 in einer Batterie in Hamburg-Innenstadt und habe den Feuersturm, den die „Operation Gomorrah" der Royal Air Force im Osten Hamburgs entfachte, knapp überlebt. Der Freund, der neben mir am Kommandogerät stand, wurde von der Bombe zerrissen, die mich verschonte. In der Nacht habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien: Mein Gott, wo bist Du? Und die Frage: warum bin ich nicht auch tot? hat mich seitdem verfolgt. Wozu lebst Du? Was gibt Deinem Leben Sinn? Es ist gut zu leben, aber es ist schwer, ein Überlebender zu sein. Man muß die Last der Trauer tragen. Wahrscheinlich hat meine Theologie in jener Nacht begonnen, denn ich kam aus einer säkularen Familie und kannte den Glauben nicht. Die Entronnenen haben wohl alle ihr Überleben nicht als eine Gabe, sondern als eine Aufgabe angesehen. Gehalten am 13. August 1995 in der Bonhoeffer-Kirche in Forest Hill, London, zum Gedenken an die Theologische Schule Norton Camp 1945-1948 = abgedruckt in: Jürgen Moltmann, Die Quelle des Lebens. Der Heilige Geist und die Theologie des Lebens, Gütersloh 1997, Kap. 1. 1 1 2. Verlorene Hoffnungen - quälende Erinnerungen: Wir waren dem Tod entronnen, aber in Kriegsgefangenschaft. Ich war zuerst in dem elenden Massenlager 2226 in Zedelgem bei Ostende, dann im Arbeitslager 22 Kilmarnock/Ayrshire und kam erst im Juli 1946 ins Norton Camp. Kriegsende und Sommer 1945 brachten kaltes Entsetzen ins Lager: Alle deutschen Städte in Trümmern, 12 Millionen auf der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien. Viele standen vor dem Nichts und wußten nicht mehr wohin. Wir waren entronnen, aber hatten jede Hoffnung verloren. Manche wurden zynisch, manche krank. Wie „eiserne Ringe" legte sich die Ausweglosigkeit um die Herzen. Jeder versuchte, sein blutendes Herz hinter einem Panzer der Unberührbarkeit zu verstecken. Verlorene Hoffnungen: meine seelische Nahrung waren Goethes Gedichte gewesen und sein „Faust", den mir meine Schwester mitgegeben hatte, (der 'Taschenfaust' für Soldaten!). Diese Gedichte hatten die Gefühle des Jungen geweckt, und jetzt, in einer Baracke mit 200 anderen eingesperrt, sagten sie mir nichts mehr, obwohl ich sie mir oft aufsagte. Mein Traum war es gewesen, Mathematik und Physik zu studieren, Einstein und Heisenberg waren meine Helden. Dort aber zerbrach dieser Traum: Wozu das alles? Und dann diese schlaflosen Nächte, wenn die quälenden Erinnerungen an die Panzer, die uns am Rand der Schlacht von Arnheim überrollten, über mich kamen und ich schweißnaß erwachte; wenn die Gesichter der Toten erschienen und einen mit erloschenen Augen ansahen. Es hat bei mir wenigstens fünf Jahre gedauert, bis ich eine gewisse Heilung dieser Erinnerungen fand. In jenem Massenlager, wo man nur herumsaß und nichts anfangen konnte, war man jenen quälenden Erinnerungen besonders schutzlos ausgesetzt. Man war in jenen Nächten „allein" wie Jakob und rang mit Mächten und Gewalten, die einem finster und gefährlich vorkamen. Erst später und nachträglich wurde einem klar, wer da mit einem rang. „Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß..." Dann kam für mich das Schlimmste: Im September 1945 wurden wir im Lager 22 in Schottland mit den Bildern von Bergen-Belsen und von Auschwitz konfrontiert. Sie hingen in einer Baracke ohne Kommentar. Manche hielten das für Propaganda, andere rechneten die Leichenberge, die sie sahen, mit Dresden auf. Aber langsam und unaufhaltsam sickerte die Wahrheit in unser Bewußtsein und wir sahen uns im Spiegel der Augen der Opfer der Nazis. Hatten wir dafür gekämpft? War meine Generation als letzte in den Tod gejagt worden, damit die KZ-Mörder weiter töten konnten und Hitler ein paar Monate länger leben konnte? Manche waren so entsetzt, daß sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollten. Sie sind später in England geblieben. Für mich brach jedes Gefühl für Deutschland zusammen. Erst als der jüdische Freund meines Vaters, Fritz Valentin, Ende 1945 aus dem englischen Exil nach Hamburg zurückkehrte (er war Landgerichtspräsident, überzeugter Christ und später Gründer der Evangelischen Akademie Hamburg), fühlten mein Vater in französischer Gefangenschaft und ich in England die Pflicht, in dieses Land der Widersprüche zwischen Weimar und Buchenwald zurückzukehren. Zu den Depressionen über Kriegszerstörung und Gefangenschaft ohne absehbares Ende kam ein Gefühl der tiefen Scham hinzu, diese Schande mittragen zu müssen. Das war gewiß der schwerste „eiserne Ring", den wir tragen mußten und der uns die Luft abschnürte. II. Die unverdiente Wende Für mich kam die Wende von Erniedrigung zu neuer Hoffnung durch zwei Dinge: einmal durch die Bibel und dann durch menschliche Begegnungen. In dem schottischen Arbeitslager bekam ich zusammen mit anderen erstaunten Gefangenen von einem wohlmeinenden army chaplain zum ersten Mal eine Bibel. Manchen wären einige Zigaretten lieber gewesen. Ich las mit nicht viel Verstand, bis ich auf die Klagepsalmen stieß. Psalm 39 fesselte mich: „Ich bin verstummt und muß mein Leid in mich fressen... mein Leben ist wie nichts vor dir... Höre mein Gebet und vernimm mein Schreien und schweige nicht zu meinen Tränen, denn ich bin ein Fremdling, wie meine Väter waren". Das war mir aus der Seele gesprochen und rief meine Seele zu Gott. Dann kam ich an die Passionsgeschichte, und als ich den Todesschrei Jesu las: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?", wußte ich mit Gewißheit: Da ist der Eine, der dich versteht. Ich begann den angefochtenen Christus zu verstehen, weil ich mich von ihm verstanden fühlte: den göttlichen Bruder in der Not, der die Gefangenen mit sich nimmt auf seinem Weg in die Auferstehung. Ich faßte wieder Lebensmut, es hatte mich eine große Hoffnung ergriffen. Ich wurde auch ruhig, wenn andere „repatriiert" wurden und ich nicht. Diese frühe Gemeinschaft mit Jesus, dem Bruder im Leiden und dem Erlöser von Schuld, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ich habe mich nie für Christus „entschieden", wie das oft verlangt wurde, aber ich bin gewiß, daß er mich damals 2 und dort im schwarzen Loch meiner Seele gefunden hat. Die Gottverlassenheit Christi hat mir gezeigt, wo Gott ist, wo er in meinem Leben bei mir war und sein wird. Das andere waren die Freundlichkeiten, mit denen uns Schotten und Engländer, die früheren Feinde, entgegenkamen. In Kilmarnock nahmen uns die Bergarbeiter und ihre Familien mit einer Gastfreundschaft auf, die uns tief beschämte. Wir hörten keine Vorwürfe, uns wurde keine Schuld zugewiesen; wir wurden als Menschen angenommen, obwohl wir nur Nummern waren und die Gefangenenflecken auf dem Rücken trugen. Wir erfuhren Vergebung von Schuld ohne Schuldbekenntnis von unserer Seite, und das machte es uns möglich, mit der Vergangenheit unseres Volkes und im Schatten von Auschwitz zu leben, ohne zu verdrängen und ohne zu verhärten. Ich habe mit der Familie Steele noch lange Briefe gewechselt. Das andere Erlebnis, das mich völlig umkrempelte, war die erste internationale SCM-Konferenz in Swanwick/Derby im Sommer 1947, zu der eine Gruppe von POWs eingeladen wurde. Wir kamen dorthin und trugen noch unsere Uniformen aus dem Krieg. Wir kamen „mit Furcht und Zittern". Was sollten wir zu den Kriegsgreueln und den Massenmorden in den KZs sagen? Aber wir wurden als Brüder in Christus willkommen geheißen und durften mit jungen Christen, die aus aller Welt, sogar aus Australien und Neuseeland gekommen waren, zusammen essen und trinken, beten und singen. Nachts sind mir manchmal die Tränen gekommen. Dann kam eine Gruppe von holländischen Studenten und wollte offiziell mit uns sprechen. Mir wurde wieder angst, denn ich hatte in der Schlacht um die Brücke in Arnheim in Holland gekämpft. Die holländischen Studenten eröffneten uns, daß Christus die Brücke sei, auf der sie zu uns kämen, und daß sie ohne Christus nicht mit uns sprechen würden. Sie berichteten vom Terror der Gestapo, dem Verlust ihrer jüdischen Freunde und der Zerstörung ihrer Häuser. Auch wir konnten auf diese Brücke treten, die Christus von ihnen zu uns gebaut hatte, und die Schuld unseres Volkes bekennen und um Versöhnung bitten. Am Schluß umarmten wir uns. Das war für mich eine Stunde der Befreiung. Ich konnte aufatmen und fühlte mich wieder wie ein Mensch und kehrte fröhlich in das Lager hinter Stacheldraht zurück. Es kümmerte mich nicht mehr, wie lange die Gefangenschaft dauern würde. Norton Camp selbst galt in manchen englischen Kreisen zwar als „re-education camp" junger Leute für ein besseres Deutschland. In Wahrheit aber war es ein großzügiges Geschenk der Versöhnung für ehemalige Feinde und als solches einzigartig. Ich kam im Juli 1946 ins Lager. Mein Notabitur galt nichts mehr. Ich mußte noch einmal auf die Schulbank. Die Entscheidung, ob ich Lehrer und Pfarrer werden sollte, wurde mir durch die Erlebnisse mit der Bibel und auf der Konferenz in Swanwick abgenommen. Im Lager bin ich oft abends am Zaun entlang gegangen und habe auf die Kapelle auf dem Hügel geblickt-. „Ich kreise um Gott, den uralten Turm..." Ich war noch auf der Suche, aber ich spürte, daß Gott mich zog und ich ihn nicht suchen würde, wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Am 15. August 1946 schrieb ich meiner Familie: „Die meisten Tage beschließe ich auf seltsame Weise. In unserem Lager liegt ein mit großen, alten Bäumen bewachsener Hügel. Er bildet eigentlich den Mittelpunkt des Lagerlebens, denn es steht dort eine kleine Kapelle, in der man zu Abendandachten zusammenkommt, um den Tag mit einem Lied und einer Sammlung zu neuem Leben zu beschließen. Dort sitze ich abends gern und schaue durch die 'romanischen' Fenster in den dämmernden Abend auf den See und die Felder hinaus. Vielleicht ist dieses ganze Gefangensitzen wie ein großer Kirchgang zu betrachten..." Wir liebten die Kapelle sehr. Sie übte einen ganz einzigartigen Zauber auf uns aus. III. Der Segen von Norton Camp Norton Camp war für uns eine Art klösterlicher Klausur „excluded from time and world", wie Gerhard Noller 1948 in seinem Abschiedsbrief schrieb. Der Tag begann um 6:30 mit einem Trompetensignal (weil uns bei Gefangennahme die Uhren abhanden gekommen waren) und endete 22:30 mit dem Abschalten des Lichts durch die Engländer. Wir hatten auf einmal Zeit, viel Zeit und standen als geistig total Ausgehungerte vor einer wunderbaren Bibliothek, die der YMCA eingerichtet hatte. Ich habe damals alles gelesen: Gedichte und Romane, Mathematik und Philosophie und jede Menge Theologie und das buchstäblich von morgens bis abends. Es war mir alles, besonders die Theologie, fabelhaft neu. Der YMCA druckte auch Bücher für die Gefangenenhilfe. Ich besitze davon noch Nygren, Eros und Agape, und Bonhoeffer, Nachfolge. Mein erstes dogmatisches Buch war Reinhold Niebuhr, Nature and Destiny of Man, das mich tief 3 beeindruckte, obwohl ich es kaum verstand. Es gingen uns geistige Welten auf, die uns im Dritten Reich verboten waren. Wir lasen die Emigrationsliteratur und die neue englische und amerikanische Literatur. Die Stundenpläne der Semester waren reich, und wir wollten schließlich alles hören. Bei Walter Haaren und Gerhard Noller lernte ich Hebräisch. Gerhard Friedrich führte uns ins Neue Testament ein. Und dann kamen die auswärtigen Besucher: Anders Nygren blieb 14 Tage und lehrte uns systematische Theologie, Professor Soe aus Kopenhagen tat das Gleiche für die christliche Ethik. Werner Milch, Emigrant, später in Marburg, stellte uns auf hinreissende Weise eine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts dar. Fritz Blanke kam aus Zürich und Matthew Black aus Schottland. Ich traf ihn später in St. Andrews wieder. Gewiß waren wir ein „Vorzeigelager" und das nicht ohne Grund, aber wir wurden auch durch die Besuche und Ansprachen von Birger Forell, John Mott, Willem Visser't Hooft und Martin Niemöller und anderen reich beschenkt und geehrt. Nicht zuletzt denke ich an die bewegenden Predigten unserer Lagerpfarrer Rudolf Halver und Wilhelm Burkert. Es waren die ersten Predigten meines Lebens und ich könnte manche davon heute noch wiedergeben, besonders Halvers Predigt über die „magna peccatrix" vom 10. August 1947. Ich sehe vor mir den langen Zug der Gefangenen auf dem Weg in die Kirche von Cuckney oder zur methodistischen Kirche von Frank Baker, den ich später in Duke University, Durham, USA, wiedertraf. Nachts krochen wir manchmal durch das Loch im Zaun hinten rechts, um im Park des Duke of Portland Holz für den Kanonenofen zu holen, der in der Mitte der Baracke stand. Wieviel Zeit hatten wir für die Nachtgespräche im Feuerschein des Ofens, wenn das Licht längst abgeschaltet war! Ich habe später nie wieder so intensiv geistig gelebt wie in dem letzten Semester der Theologischen Schule in Norton Camp. Es war eine wunderbare, reich gesegnete Zeit. Wir haben empfangen, was wir nicht verdient haben, und wir haben von der Fülle Christi genommen „Gnade um Gnade". IV. Mit hinkender Hüfte, aber gesegnet Was wie ein grimmiges Schicksal aussah, als es begann, wurde für uns zu einem unverdient reichen Segen. Es begann in der Nacht des Krieges, und als wir nach Norton Camp kamen, ging uns die Sonne auf. Wir kamen mit verletzten Seelen, und als wir gingen, war „meine Seele genesen". Gewiß haben wir nicht wie Jakob an jener Stätte am Jabbok „Gott von Angesicht gesehen". Das ist nach der biblischen Tradition nur wenigen „Gottesfreunden" vorbehalten, allen anderen aber erst für den großen Tag der Auferstehung verheißen, wenn wir schauen „von Angesicht zu Angesicht" und „erkennen, wie wir erkannt sind". Es war umgekehrt: Gott hat uns angesehen mit den „leuchtenden Augen" seiner ewigen Freude. Segen und der Geist des Lebens haben ihren Ursprung immer im „leuchtenden Angesicht" Gottes (Psalm 51,13; Psalm 139, 7; 4Mos 6, 24-26), so wie das Gericht Gottes im „verborgenen Angesicht Gottes" (hester panim) und die Verwerfung im „abgewendeten Angesicht Gottes" gründen. Was wir erlebt haben, war für viele von uns die Wendung vom „verborgenen Angesicht" zum „leuchtenden Angesicht Gottes". Wir haben seine Verborgenheit und Ferne mit Schmerzen erfahren und wir haben gespürt, daß er uns mit „leuchtenden Augen" angesehen hat, und haben die Wärme seiner großen Liebe erfahren. Wir sind nach 50 Jahren hier zusammengekommen, um den verborgenen und so barmherzigen Gott zu preisen über allem, was wir von ihm erfahren haben. Wir sind auch gekommen, um dankbar an die Menschen zu denken, die uns Gefangenen mit so viel Vergebungsbereitschaft und Gastfreundschaft entgegengekommen sind. Wir werden Birger Forell und John Barwick nicht vergessen, die Norton Camp eingerichtet haben, und bleiben dem YMCA verbunden, der jene großzügige Kriegsgefangenenhilfe organisiert hat, die uns aufgerichtet hat. Ich schließe mit Psalm 30,12 und bekenne: „Herr, du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen, du hast mir meinen Sack ausgezogen und mich mit Freude gegürtet, auf daß dir lobsinge meine Ehre. Herr, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit". Amen. 4
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