Die furchtlose Alte - Internationales Frauencafé Schwabach

Die
furchtlose Alte
Margareta Bannmann
Märchenhaftes für Erwachsene
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Märchen aus Japan
E
s war einmal eine arme, alte Frau,
die besaß auf dieser Welt nicht viel mehr als einen kleinen Garten
und ein noch kleineres Haus.
Tagaus, tagein zerstieß sie Reiskörner zu Mehl für Klößchen.
Die dämpfte sie und verkaufte sie für geringes Geld.
Jeder liebte die Klößchen der Alten,
waren sie doch in der ganzen Stadt die süßesten.
Eines Tages rutschte ihr ein Teller voller Reisklößchen aus der Hand,
und die kleinen runden Klöße kullerten geradewegs zur Tür hinaus,
den Weg hinab, die Straße hinüber, in den Wald hinein,
und rollten und rollten immerzu,
bis sie an einen Baum stießen und liegen blieben.
Die Alte lief ihren Klößen nach;
und als sie sich gerade vor dem Baum bückte, um sie auszusammeln,
schnappte sie ihr jemand vor der Nase weg
und flitzte noch tiefer in den Wald hinein.
„Heda!“ schrie die Alte, „das ist mein Essen!“
Ein Oni hatte ihre Klöße stibitzt, das war ihr klar;
weiß doch jeder Mensch in Japan, dass in den Wäldern die Onis hausen.
Das sind kleine haarige Wesen mit Hörnern,
die immer, immer hungrig sind und Süßes über alles lieben.
Die meisten Leute lassen sie gewähren.
Doch die Alte war so zornig, dass sie dem diebischen Oni nachsetzte.
Sie verfolgte ihn bis zu einem Loch, das in einen Hügel führte
und weiter durch einen Tunnel bis tief ins Erdinnere hinab.
Da fand sie sich plötzlich in einer großen, weiten Höhle voller Onis.
Die kauten mit vollen Backen an ihren Klößen,
grinsten über beide Ohren und leckten sich die Lippen vor Wohlbehagen.
„Welche Köchin macht so köstliche süße Klöße?“ fragte der Ober-Oni.
Das Lob freute die Alte und einen Moment lang vergaß sie,
dass die Onis ihr eigenes Abendessen verschlungen hatten.
„Ich habe diese Klöße gekocht!“ meldete sie stolz.
Der Ober-Oni verneigte sich vor der Alten,
und alle anderen Onis jubelten.
Kaum sah sie aber die Mäuler schleckenden Onis,
da fiel der Alten wieder ein, dass die ja gerade ihr Essen vertilgt hatten.
„Ja, ich war, die den Reis geerntet hat“, sagte sie.
„Ich war es, die den Reis zerstampft, das Mehr zu Teig bereitet
und den Teig zu kleinen, runden Knödeln geformt hat.
Ich habe die Klößchen gekocht, aber nicht für euch, sondern für mich!
Und nun bin ich immer noch hungrig, ihr ungehobelten kleinen Räuber!“
-1-
Betrachtungen zum Märchen
Die furchtlose Alte
gerät durch ihr alltägliches Tun
in eine missliche Lage,
die aber mit ihrer Arbeit zu tun hat.
Im Grunde ist sie erfolgreich,
gleichzeitig wird sie aber Opfer ihres Erfolgs.
Es sind Kräfte entfesselt,
derer sie nicht so einfach Herr werden kann.
Ihre Lösungs-Strategien sind vorbildlich:
vor allem behält sie ihren Mut und sinnt auf Lösungen.
Dabei fallen ihr Schwachpunkte auf,
an denen sich vielleicht ansetzen lässt.
Indem sie für ihre eigene innere Ruhe und Harmonie sorgt
- singend –
entdeckt sie eine weitere Besonderheit der Geisterchen:
sie schlafen bei ihrem Gesang ein,
die Gier und das Geschrei hat ein Ende!
Nun kommt alles auf das Zusammenwirken der Möglichkeiten an:
Das Rudern mit dem großen roten (kraftvollen) Zauberlöffel,
den muss man ergreifen
und geschickt anwenden.
Ein Willens-Instrument,
das wohl nicht zufällig einen Drachenkopf hat.
Dazu braucht es die Geschicklichkeit,
die Gier der Onis zu nutzen
- die fressen alles, auch die Fische –
und so wird der Kahn wieder flott.
So kommt man wohlbehalten aus der Stress-Höhle heraus,
hat den roten Löffel behalten,
der nun erst für den RICHTIGEN Erfolg sorgt.
Den Onis sei Dank –
aber sicher ist sicher:
gib ihnen täglich ein paar Klößchen!
Ihr möchtet gern auch so einen großen, roten Löffel?
Wer das Märchen ganz versteht,
hat ihn schon gefunden.
-5-
„O weh“, sprach da der Ober-Oni, und alle anderen Onis verstummten.
„Gute Alte, Eure Klößchen waren so köstlich,
dass wir unsere Manieren völlig vergaßen.
Seid so gut, und bleibt als unser Gast.
Wollt Ihr nicht Euer Essen gleich hier in unserer Küche zubereiten?“
fragte er, „Ihr könnt ganz viele Klößchen machen,
dann essen wir alle zusammen Klöße zur Nacht!“
Da hüpften und jubelten die Onis.
Ihre Stimmen hallten laut in der hohen, weiten Höhle;
sie rieben sich ihre Bäuche und schrieen:
„Mehr Klöße! Noch mehr Klöße!“
Die Alte folgte dem Ober-Oni in die Oni-Küche.
„Gute Güte!“ dachte sie bei sich,
„da bin ich nun, in einer Höhle allein mit diesem Oni-Pack.
Wie komme ich jemals wieder hier heraus?“
Doch ihr war nicht bange.
„Ich werde darüber nachdenken und ganz gewiss einen Ausweg finden.“
Durch die Küche der Onis strömte ein unterirdischer Fluss.
In den tauchte der Ober-Oni einen Eimer
und füllte einen großen Topf mit Wasser.
Er hängte den Topf übers Feuer und gab der Alten ein Reiskorn.
„Wirf dieses Reiskorn ins Wasser“, forderte er sie auf.
„Das soll wohl ein Scherz sein!“ entgegnete die Alte,
„ein Reiskorn reicht nicht einmal einer Mäusefamilie zur Mahlzeit.
Willst du Klöße für all deine Verwandten,
so brauche ich viel mehr Reis dazu.“
Der Oni lachte und nahm einen langen roten Löffel,
in dessen Griff ein Drache geschnitzt war.
Einmal nur rührte er mit dem langen roten Löffel im Topf herum,
da wurden aus dem einen Reiskorn zehn.
„Nun versuch du es!“
Die Alte rührte den Reis mit dem langen roten Löffel um.
Aus den zehn Reiskörner wurden zwanzig.
Sie rührte wieder und die zwanzig wurden dreißig,
und bald schon war der Topf gefüllt.
„Das ist mir ja ein Wunderlöffel!“ lobte die Alte.
Sie kochte genug für alle.
Und während sie schweigend zu Abend aß,
lachten und schwatzten die Ois und stopften sich voll mit Knödeln,
als hätten sie seit Wochen nichts mehr gegessen.
Kaum aber hatten sie alles verspeist, schrieen sie nach mehr.
Ihre Stimmen schallten laut in der hohen, weiten Höhle,
aber der Alten war nicht bange.
-2-
„Hören die denn nie auf zu essen?“ fragte sie sich.
„Ich werde Tag und Nacht nichts anderes tun als kochen,
solange ich in dieser Oni-Höhle eingesperrt bin.
Doch ich werde nachdenken und einen Ausweg finden“.
Sie kehrte zurück in die Küche der Onis.
Jetzt füllte sie selbst den Topf mit Wasser.
Sie warf ein Reiskorn hinein und rührte mit dem langen, roten Löffel darin.
Genau wie zuvor wurden aus dem einem Reiskorn zehn.
Sie rührte den Reis weiter um.
Aus den zehn Reiskörner wurden zwanzig,
und bald war der Topf gefüllt.
Sie zerstampfte die Reiskörner,
formte den Teig zu Klößchen und dämpfte sie.
Dann servierte sie den Onis den nächsten großen Schub Klöße,
den sie genauso gierig verschlangen wie den allerersten,
und bald schrieen sie wiederum jubelnd nach mehr.
Diesmal erinnerte sich die Alte,
während sie zum Fluss ging und den Topf mit Wasser füllte,
dass die Onis nicht schwimmen können,
ja dass sie nicht einmal Boot fahren.
„Wenn ich ein Boot hätte, könnte ich den Fluss hinabfahren;
und könnte ich dem Fluss folgen,
dann fände ich auch einen Weg aus dieser Oni-Höhle“
Da fiel ihr Blick auf den großen Reistopf,
und sie heckte einen Plan aus.
Diesmal sang die Alte, als sie den Reis in den Topf warf,
und sie sang,
während sie den Reis mit dem langen, roten Löffel umrührte.
Sie sang, während sie den Reis zu Teig verarbeitete,
und sie sang, während sie den Teig zu Klößchen formte.
Den Onis gefiel der Gesang der Alten.
Ihre Stimme machte sie schläfrig.
Und als die Klöße servierbereit waren, lagen die Onis in tiefem Schlaf.
Da schleifte die Alte den Reistopf zum Fluss hinab,
kletterte hinein und stieß sich mit dem langen, roten Löffel vom Ufer ab.
Doch dabei war sie so aufgeregt, dass sie zu singen vergaß
und die Onis erwachten.
Als sie die Alte den Fluss hinab treiben sahen, schrieen sie los.
Das gesamte Oni-Pack kam zum Wasser gerannt:
„Mehr Klöße! Noch mehr Klöße!“
Nun gab es für sie nur eine Möglichkeit, die Alte aufzuhalten.
Die Onis knieten sich hin, um den Fluss leer zu trinken.
Sie schlürften und soffen,
dass ihnen die Backen nur so anschwollen vom Wasser.
Je mehr Onis den Strom ausschlürften,
desto schmaler und flacher wurde er.
Bald führt er kaum noch Wasser,
und das Boot der Alten verlor an Fahrt,
doch ihr war nicht bange.
„Mir wird schon etwas einfallen!“, sagte sie zu sich,
„ich werde aus dieser Oni-Höhle hinausfinden.“
Jetzt war nur noch so wenig Wasser in dem Fluss,
dass die Fische der Alten ins Boot sprangen.
Die packte sie und warf sie nach den Onis:
„Da, füllt eure Bäuche mit Fisch!“ rief sie,
und paddelte weiter mit dem roten Löffel.
Die hungrigen kleinen Onis öffneten ihre Mäuler,
um die Fische aufzuschnappen.
Dabei stürzte das Flusswasser aus den Schlünden hervor
und füllte den Strom wieder auf.
Schon trieb das Boot der Alten geschwind wie zuvor.
„Lebt wohl, Onis“, rief sie, „lebt wohl!“
Bald konnte sie die Onis nicht mehr sehen,
so sauste sie dahin auf dem eilenden Fluss in ihrem großen Reistopf.
Und nach einer Weile
strömte der Fluss durch eine Höhlenöffnung hinaus ans Tageslicht.
Die Alte stieg aus dem Topf, nahm den langen, roten Löffel
und rannte durch den Wald zur Straße, dann den Pfad hinauf,
rannte zu ihrem Haus und schmetterte die Türe hinter sich zu.
Dann fing sie an zu singen und machte sich flugs an die Arbeit.
Sie füllte ihren Reistopf mit Wasser,
warf ein Reiskorn hinein und rührte mit dem langen, roten Löffel um.
Und tatsächlich, aus dem einen Reiskorn wurden zehn.
Sie rührte wieder,
und tatsächlich, aus den zehn Reiskörnern wurden zwanzig.
So war der Topf bald gefüllt.
Mit Hilfe des langen, roten Löffels
bereitete die Alte jeden Tag so viele Klößchen,
dass die ganze Stadt davon satt werden konnte.
Sie richtete eine Wirtsstube ein,
und die Leute kamen von weit her, um ihre Klößchen zu essen.
Vom Verkauf der leckeren süßen Klößchen
wurde die Alte bald zu einer reichsten Frauen in Japan.
Allerdings spazierte sie jeden Abend,
nachdem sie ihr Wirtshaus geschlossen hatte,
hinunter zu dem Baum,
unter dem sie zum ersten Mal dem Oni begegnet war,
und stellte dort einen großen Teller Klößchen ab,
für all die hungrigen kleinen Onis.
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