Seite 24 · 4. Oktober 2015 · Sonntags-Zeitung GEMEINDEREPORT Die Gaben des Feldes Die Oberräder sind ganz groß im Gärtnern und Klöppeln • Von Doris Stickler Im »Gärtnerdorf« Oberrad sind Feldbau und Glauben stark verknüpft. Da läuft das Erntedankfest in seiner Bedeutung Weihnachten fast den Rang ab. O b Protestanten eine überdurchschnittliche Affinität zu Obst und Gemüse besitzen, hat vermutlich noch niemand erforscht. Der Frankfurter Stadtteil Oberrad bietet allen Grund, das einmal zu tun. Denn es könnte mit der 1530 dort eingeführten Reformation zusammenhängen, dass sich die ansässigen Viehzüchter plötzlich auf den Anbau von Obst und vor allem Gemüse verlegten. Diese Verknüpfung drängt sich geradezu auf: In dem »Gärtnerdorf«, wie Oberrad sich nennt, sind bis heute alle Gärtner evangelisch. Pfarrerin Anne-Katrin Helms ist jedenfalls noch nie einem katholischen Gärtner begegnet. Außerdem sorgt die Provenienz der Frankfurter Spezialität für einen engen Bezug. Experten schreiben der Grünen Soße hugenottische Wurzeln zu. Da verwundert es kaum, wenn in der Erlösergemeinde das Erntedankfest seit jeher herausragenden Stellenwert besitzt und hinsichtlich der Besucherzahlen selbst Weihnachten in den Schatten stellt. Daran änderte auch nichts, dass die meisten der einst mehr als 300 Gartenbaubetriebe in den vergangenen Jahren aufgeben mussten. »Die Wertschätzung für die Gaben des Feldes ist bei den Oberrädern tief verankert«, weiß Helms. »An Erntedank kommen Gemeindemitglieder, die ich sonst nie sehe.« Auch etliche Katholiken und sogar Menschen von außerhalb feierten mit. Als die Pfarrerin vor zwei Jahren das Amt in Oberrad übernahm, war ihr im Prinzip zwar klar, was sie erwartet. Mit den Bergen an Obst, Gemüse und Blumen, die am ersten Sonntag im Oktober den Altarraum schmücken, hatte sie dann aber doch nicht gerechnet. Ebenso wenig mit den vielen Helferinnen und Helfern, ohne deren Unterstützung das volksfestähnliche Ereignis gar nicht zu stemmen wäre. Neben der aufwendigen Dekoration der Erlöserkirche gibt es für alle Gäste ein Mittagessen, werden Angebote für Kinder sowie ein Markt mit kunsthandwerklichen Erzeugnissen und selbst gemachten Leckereien organisiert. Die Erlöse dienen stets karitativen Zwecken und fließen in diesem Jahr in die Flüchtlingshilfe. Traditionell stehen zudem ein Orgelkonzert und der Auftritt des 1911 gegründeten Posaunenchors auf dem Programm. Als Spross einer Gärtnereifamilie brachte Simon Gatzke an Erntedank schon als Steppke mit seinem Opa Feldfrüchte zur Kirche. »Das ist bei Oberräder Gärtnern Ehrensache«, versichert der 15-Jährige, der große Stücke auf die eingeschworene Gemeinschaft der hier ansässigen Landwirte hält. Bei Engpässen sei es selbstverständlich, sich gegenseitig zu helfen. Naturverbunden sind alle von Anfang an Dieser Geist spiegelt sich nicht zuletzt in der Gemeinde wider. Seit der Konfizeit fühlt sich Gatzke besonders wohl: »Die hat mir richtig Spaß gemacht.« Bei der Frage, ob er als Jugenddelegierter im Kirchenvorstand mitmischen will, musste er nicht lange überlegen. Seit Anfang September vertreten der Lokalpatriot und seine gleichaltrige Mitstreiterin Luise Faust die Belange ihrer Generation. Angesichts der vielen jungen Menschen – in den vergangenen Jahren wurden stets rund zwanzig Mädchen und Jungen konfirmiert – kommt Pfarrerin Helms und ihrer Kollegin Christiane Hoffmann der Austausch mit den Jugenddelegierten entgegen. Zumal sie planen, die Angebote für diese Altersgruppe auszubauen. Den Konfirmandenunterricht in monatliche Blocks mit praktischen Übungen zu verpacken und mit jeder Gruppe auf einen Segeltörn zu gehen, sind nur die ersten Schritte gewesen. Für die Kleinen ist mit musikalischer Früherziehung, Kinderchor, Blechwürmern und Mini-Club die Palette der Aktivitäten schon reicher bestückt. Pfarrerin Helms führte einen Kinderkirchentag mit Gottesdienst und allerlei Mitmachaktionen ein. Der zeitigte zu ihrer Freude einen unerwarteten Nebeneffekt: »Wir haben seitdem mehr Taufen.« Die größten Chancen, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, biete aber der Kindergarten. Wegen Personalmangels musste die Gemeinde dessen Kapazität von mehr als 100 auf 90 Plätze reduzieren. Wie es in Oberrad nicht anders sein könnte, legt die Einrichtung Wert auf Naturverbundenheit. Da beim vor Ort gekochten Mittagsmahl fast ausschließlich lokale und regionale Produkte auf dem Teller landen, melden viele Eltern ihren Nachwuchs allein des gesunden Essens wegen an, wie Helms in Erfahrung brachte. Sie selbst ersteht ihre frischen Lebensmittel natürlich auch in örtlichen Gärtnereibetrieben. Die Pfarrerin schätzt die dörfliche Atmosphäre und würde nie mit einer Stelle im Stadtgebiet tauschen wollen. »In Oberrad leben noch viele Großfamilien, Tradition wird groß geschrieben und in der Gemeinde gibt es einen Kreis von Leuten, die sich ewig kennen und von denen niemand freiwillig wegziehen würde.« Die rund 500 Protestanten, die dem Stadtteil seit Inbetriebnahme der Nordwestlandebahn am Frankfurter Flughafen den Rücken kehrten, taten das eher gezwungenermaßen. Die verbliebenen 2700 Gemeindemitglieder schaffen es wie Pfarrerin Helms, sich mit dem Fluglärm halbwegs zu arrangieren. Pfarrerin Christiane Hoffmann wohnt ohnehin andernorts, da sie seit 2010 nur eine halbe Stelle bekleidet – zumindest offiziell. Inoffiziell verbringt die Theologin weit mehr Stunden in Oberrad. Neben den üblichen Aufgaben schlucken die Kooperationen mit den Schwestergemeinden im Planungsbezirk und ökumenische Projekte wie Friedenslicht-Aktionen und die in der Jesuitenhochschule St. Georgen beheimatete Teestube für Flüchtlinge einiges an Zeit. FRANKFURT-OBERRAD ■ Erlösergemeinde Oberrad Pfarrerinnen Anne-Katrin Helms und Christiane Hoffmann Melanchthonplatz 60599 Frankfurt Telefon: 0 69/65 23 11 E-Mail: [email protected] benen Handarbeit gehuldigt. Geklöppelt wird in Hessen sonst nur noch an zwei anderen Orten. Warum sich diese Leidenschaft in der Gemeinde eingenistet hat, weiß niemand so genau. Die Gruppen – darunter eine für Kinder ab neun Jahren – existieren schon eine halbe Ewigkeit. Wie Hoffmann mit Verwunderung festgestellt hat, ist Klöppeln nicht nur bei älteren Damen beliebt. Etliche Jugendliche seien begeistert dabei, auch die Jugenddelegierte Luise Faust, und sogar einzelne Herren möchten es nicht mehr missen. »Sie sagen, dass Klöppeln sie beruhigt.« Eine andere Tradition darf im gemeindlichen Kirchenjahr dagegen niemals fehlen: das Grüne-Soße-Essen im Frühjahr, das ein Pendant zu Erntedank ist. Glaubensgespräche im Zeichen der Reformation Im kommenden Jahr wird die Ökumene um eine neue Facette erweitert. Die Erlösergemeinde, die katholische Herz-Jesu-Gemeinde und St. Georgen bringen mit Blick auf 500 Jahre Reformation Glaubensgespräche auf den Weg. Helms und Hoffmann waren perplex, als Hochschulrektor Ansgar Wucherpfennig ihnen den Vorschlag für die Reihe unterbreitete. Wann sie starten wird, steht noch nicht fest, auf alle Fälle werden die Pfarrerinnen frühzeitig den Gemeindesaal buchen. Der ist nämlich auch bei nichtgemeindlichen Gruppen begehrt und wird regelmäßig etwa vom Nachbarschaftszentrum Ostend, Folkloretänzern und dem Vokalensemble Frankfurt-Oberrad genutzt. Dreimal in der Woche wird dort zudem einer fast ausgestor- DREI FRAGEN AN ... ... Kirchenvorstandsvorsitzende Angela Franz: Was macht einen Gottesdienst zu einem Traumgottesdienst? ? Diese Frage stellte ich meiner zehnjährigen Tochter. Hier ihre Antwort: Ich mag Abendmahl, viel Singen und wenn Geschichten, zum Beispiel die Weihnachtsgeschichte oder die Ostergeschichte, erzählt oder gespielt werden. Was würden Sie spontan mit einer 20 000-Euro-Spende anfangen? Foto: Doris Stickler ? In Oberrad stellt Erntedank sogar Weihnachten in den Schatten: Reichhaltig geschmückt wird auch an diesem Wochenende der Altar in der Erlöserkirche sein. Sehr zum Gefallen des Jugenddelegierten Simon Gatzke und Pfarrerin Anne-Katrin Helms. Flüchtlinge in unsere Gemeinde holen und ihnen mit dem Geld einen Neustart ermöglichen. ? Welches ist Ihr liebstes Kirchenlied? »Stille Nacht«.
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