leben des galilei - Saarländisches Staatstheater Saarbrücken

Theaterpädagogisches Begleitmaterial zur Inszenierung von Martin Nimz
LEBEN DES GALILEI
Bertolt Brecht
Premiere am 26. September 2015
für Schulklassen ab Stufe 10 (15+)
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Liebe Pädagoginnen und Pädagogen,
Am 16. fanuar 1-6L0 konnte Galileo Galilei mit Hilfe des Fernrohrs beweisen, dass sich
die Erde um die Sonne dreht und damit die Erde keine Sonderstellung im Universum
einnimmt. Die Folgen seiner Entdeckung, dass der Mensch frei von göttlicher Vorsehung
für sein Schicksal selbst verantwortlich ist, setzen sich bis heute in unserem
kapitalistischen Gesellschaftssystem und unseren Vorstellungen darüber, wer wir sind
und was in unserem Leben erreichen wollen, fort,
AmZ{.April 1990 wurde das von Edwin Hubble erfundene Teleskop in den Weltraum
geschickt, das in der Folge bewies, dass unsere Galaxie nicht die einzige im Universum
ist. Es scheint, sobald die Antwort auf eine Frage gefunden wird, öffnet sich die Tür zu
tausend neuen Fragen. Nicht nur in der Astronomie, sondern auch in der modernen
Gentechnik und Atomforschung, stoßen Wissenschaftler immer wieder auf einen letzten
Rest, der nicht erklärt werden kann. ,,Das Auge, das siehg kann sich selbst nicht sehen".
Es stellt sich die Frage: Ist die Wissenschaft die Disziplin, mit der die letzen Fragen
unsers Seins beantwortet werden können? Ist es vielleicht der Raum ,,zwischen" den
Dingen, den wir nicht erfassen können, in dem sich die Antworten für die Grundlagen
aller Existenz finde lassen? Die Inszenierung von LEBEN DES GALILEI von Martin Nimz
am SST, lenkt, insbesondere durch ihr Bühnenbild, den Fokus gerade aufdas
,,dazwischen", auf die Beziehungen der Figuren zueinander, als Hintergrund, der ihren
Gedanken und Einsichten erst Gestalt gibt.
Die Wissenschaft wie das Theater leben nicht zuletztvon der Fähigkeif die eigene
Position zu verändern, um neue Perspektiven zu gewinnen. Die Inszenierung von Martin
Nimz, ist eine Einladung hierzu. Das vorliegende Begleitmaterial möchte Sie und Ihre
Schülerlnnen in diesem,,Experiment" unterstützen. Es enthält HintergrundInformationen zum Zugriff des Regieteams, sowie Diskussions- und Spielvorschläge, die
sich direkt an die Schülerlnnen als aktive Zuschauer richten, Alle Vorschläge sind
variable für fugendliche ab 15 fahren gestaltbar. Den einzelnen Vorschlägen ist jeweils
angefügt, ob sie sich für eine Vor- oder Nachbereitung des Theaterbesuchs oder für
beides eignen. Alle Inhalte sind nah an der Inszenierung gehalten. Als Anlagen finden
Sie Auszüge aus der Enzyklika von Papst Franziskus, die teilweise in die Inszenierung
einfließt, Brechts ,,Rede über die Widerstandskraft der Vernunft", sowie weblinks zu
weiterführenden Themen.
Gerne können Sie mich auch direkt kontaktieren, Fragen stellen oder eine kostenlose
Vor-oder Nachbereitung mit mir für Ihre Klasse vereinbaren.
Viel Freude beim Lesen, Ausprobieren und beim Theaterbesuch wünscht Ihnen und
Ihren Schülerlnnen
ü,,-
AJrfr
Elisa Weiß
Theaterpädagogin für Schauspiel und Ballett
Kontakt: + 49 681. 3092-248
e.W*eis s @
stAatsth eater.saa rl an d
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Inszenierung von Martin Nimz am SST
S.3
1.2.
Fassung
S.3
1.3.
Verwendung von Fremdtexten
S.4
1.4.
Sprache und Schauspielstil
S.5
1.5.
Zum Bühnenbild von Sebastian Hannak
S.5
1.6.
Zum Kostümbild von Jutta Kreischer
S.6
1.7.
Projektionen
S.7
1.8.
Zum Einsatz epischer Gestaltungsmittel
S.8
2. Themen
S.12
2.1. „Wahrnehmung“
S.12
2.2. „Verantwortung der Wissenschaft“
S.13
3. weiterführende weblinks
S.15
Quellen
S.16
Materialien
S.17
Interview mit dem Schauspieler Andreas Anke und Elisa Weiß (Theaterpädagogin SST)
Rede von Papst Franziskus, Laudato si! Über die Sorge für das gemeinsame Haus (2015)
Rede von Bertolt Brecht, Über die Widerstandskraft der Vernunft (1936)
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1. Zur Inszenierung von Martin Nimz am SST
1.2.
Fassung
Die Fassung, die der Inszenierung am SST zugrunde liegt, ist die dritte, sogenannte
"Berliner Fassung" von 1955, die den widersprüchlichen Charakter Galileis- weder Held
der Wissenschaft, noch sozialer Verräter- in den Vordergrund stellt.
Dabei wurden das 5., 6., 10., 14. und 15. Bild, zugunsten einer Verdichtung auf das
8. Bild, in dem Galilei auf den kleinen Mönch trifft, gestrichen. Es zeigt wie Galilei unter
der Ungerechtigkeit leidet, nicht veröffentlichen zu dürfen, obwohl alle Welt seine
Entdeckung als wahr anerkannt hat. Erst aus der Erfahrung dieser Ungerechtigkeit
heraus, erfährt sein politisches Empfinden eine kurze Blüte. Die folgenden Bilder
erzählen von der Schuld, die Galilei auf sich häuft und die ihn am Ende immer weiter ins
Dunkel des Bühnenraums driften lässt.
Diskussionsanregung A (zur Nachbereitung):
Das Menschenbild, das Galileis wissenschaftliche These zur Folge hat, behauptet, der
Mensch sei frei und Herr seines Schicksals. Dies zu wissen, aber aufgrund der
Unterdrückungsmechanismen der Inquisition nicht frei handeln zu können, zermürbt
ihn. Wie bewerten die Figuren des Stücks seine Schwäche und woher kommt diese
Bewertung? Ist es nicht menschlich, das eigene Leben vor die Durchsetzung einer
abstrakten Wahrheit zu stellen?
Diskussionsanregung B (zur Nachbereitung):
Die verschiedenen Fassungen der Stückvorlage unterscheiden sich vor allem in ihrer
unterschiedlichen Betonung der Figur Galileis als sozialen Verräter oder Held der
Wissenschaft. Findest du seine Zeichnung als Prototyp des modernen Wissenschaftlers
angesichts der heutigen Entwicklungen angemessen? Wenn nicht, welche Aspekte
würdest du für eine heutige Inszenierung des Stoffes stärker herausarbeiten?
3
1.3.
Verwendung von Fremdtexten
Im 8. Bild verwendet der kleine Mönch Auszüge aus der Enzyklika Laudato si! von Papst
Franziskus 1.
Die Worte, mit denen er später vergeblich versucht, Galilei und seine verführerische
Entdeckung abzulehnen, stammen aus der Übersetzung eines irischen Segensspruchs:
„Ich webe Schweigen auf meine Lippen, ich flechte Ruhe in mein Gemüt, ich knüpfe Stille
in mein Herz. Ich halte meine Ohren zu, um mich nicht abzulenken, ich schließe meine
Augen, um den Reizen nicht zu erliegen. Ich schirme mein Herz ab, um den
Versuchungen nicht ausgesetzt zu sein…“.
Nachdem Galilei im 12. Bild seine Lehre widerrufen hat, spricht Galilei einen Auszug aus
den "Discorsi":
„ Ist es nicht klar, dass ein Pferd, welches drei oder vier Ellen hoch herabfällt, sich die
Beine brechen kann, während ein Hund keinen Schaden erlitte, desgleichen eine Katze
selbst von acht oder zehn Ellen Höhe, ja eine Grille von einer Turmspitze und eine
Ameise, wenn sie vom Mond herabfiele? Und wie kleinere Tiere verhältnismäßig
kräftiger und stärker sind als die großen, so halten sich die kleinen Pflanzen besser: eine
zweihundert Ellen hohe Eiche könnte ihre Äste in voller Proportion mit einer kleinen
Eiche nicht halten, und die Natur kann ein Pferd nicht so groß wie zwanzig Pferde
werden lassen noch einen Riesen von zehnfacher Größe, außer durch Veränderungen
der Proportionen aller Glieder, besonders der Knochen, die weit über das Maß einer
proportionellen Größe verstärkt werden müssen.- Die gemeine Annahme, dass große
und kleine Maschinen gleich ausdauernd seien, ist offenbar irrig“.
Spielvorschlag (zur Nachbereitung):
Spreche den Text als…
•
die letzten Worte eines Freiheitskämpfers vor der Hinrichtung
•
Rechtfertigung eines Diktators/ einer Diktatorin vor der Amtsenthebung
•
Flehende Bitte eines/einer Liebenden an seine/ihre Geliebte
1 Papst Franziskus, Laudato si! Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Rom (Libreria Editrice Vaticana)
2015.
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1.4.
Sprache und Schauspielstil:
Die Schauspieler verwenden weitgehend den Originaltext der Stückvorlage. An einigen
Stellen wurde der Originaltext aber auch sinngemäß in alltagssprachliche Wendungen
übersetzt. Die Figuren sprechen ihren Text oft direkt nach vorne- ihre Dialoge erwecken
dadurch den Eindruck eines Monologs- als ob sie ihre Worte an sich selbst richten und
nicht an die anderen Figuren.
1.5.
Zum Bühnenbild von Sebastian Hannak:
Das Bühnebild besteht aus einer mächtigen, hellgrauen Wand, die direkt an der Rampe
aufgebaut ist und damit eine starke Nähe zum Zuschauer herstellt. Die Wand verstellt
den Zugang zum Raum dahinter, ähnlich wie die Objekte, die Galilei untersucht, die aber
ihr Geheimnis vor ihm verbergen. Sie steht auch für die Angst der Figuren, dass
Unbekannte zu besetzen.
Auf eine Illustrierung der vielen Wechsel in Ort und Zeit, die im Stück angelegt sind,
wird verzichtet. Diese werden vielmehr durch das Spiel der Figuren und ihrer sich
verändernden Beziehungen erzählt. Diesen Fokus auf das "dazwischen", wird von der
hellgrauen Farbe, die den Hintergrund aller Ereignisse bildet, unterstützt. Das Hellgrau
bildet auch den optimalen Hintergrund, um starke Veränderungen durch Lichtwechsel
herzustellen- die Tatsachen bleiben die gleichen- nur das "Licht" in dem sie betrachtet
werden, verändert sich.
Die Wand enthält mehrere Schichten, die sich wie die Linse eines Fernrohres, ein- und
ausfahren lassen und schmale Treppen bilden, auf denen die Figuren balancieren.
Ob diese Mechanik den Anweisungen eines Choreographen folgt, oder ob die Wand als
„autonomes Wesen“ handelt, bleibt verborgen. Sie gehorcht den Menschen, die sie
benutzen im Moment noch. Dahinter ist aber auch die Möglichkeit erkennbar, dass sie
sie auch einfach hinunterwerfen könnte.
Die Treppen schaffen die Tatsache, dass sich die Figuren zu jeder Zeit in einer sichtbaren
Hierarchie zueinander verhalten: Wenn sie das Niveau wechseln, können sie nicht
anders, als damit auch die Ebene zu wechseln, auf der sie einander begegnen.
Was die Figuren verändern können ist, wer gerade in der Hierarchie oben und wer
unten steht, nicht aber die Struktur des Systems selbst. In diesem Sinne, stellt das
Bühnenbild die These auf, dass es keine Alternative zu einem Gesellschaftssystem gibt,
dass aus Mächtigen und Ohnmächtigen besteht.
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Die Wand aus klaren Strukturen ist auch eine Verkörperung des festen Gefüges der
kristallenen Sphären, dem alten Weltbild in dem Galilei sich befindet und, das er
maßgeblich mit konstruiert hat, gegen das er aber auch ankämpft. Es bildet den Rahmen,
der seiner Forschung vorgegeben wird und innerhalb dem er sich bewegen darf. Am
Ende des Stücks löst sich dieser Rahmen auf und Galilei mit ihm.
Diskussionsvorschläge (zur Nachbereitung):
Vorschlag 1: Das Bühnenbild bildet den Rahmen, den Kosmos, innerhalb dem sich die
Figuren bewegen. Welches Weltbild würdest du aus den Eigenschaften die du am
Bühnenbild und seiner Mechanik beobachten kannst, ableiten?
Vorschlag 2: Welche für dich wichtigen Aussagen des Stücks findest du im Bühnenbild
räumlich fortgesetzt und wie?
Vorschlag 3: Warum wird in der Inszenierung auf die Illustrierung von Orten und Zeit
verzichtet?
1.6.
Zum Kostümbild von Jutta Kreischer:
Dem Kostümbild von Jutta Kreischer lag von Anfang an die Absicht zugrunde, die
Kostüme nicht historisch zu gestalten, sondern heutig. Ihre Inspiration für die konkrete
Gestaltung, holte sie sich vor allem von der Art und Weise, wie die Figuren im Text
angelegt sind. Im nächsten Schritt, überlegte sie sich, wie sich ihre besonderen
Charakterzüge durch das Kostüm erzählen lassen. Bei der Figur des Andrea stand sie vor
der Herausforderung, ihn im Laufe eines Theaterabends als Kind bis zum Erwachsenen
zu erzählen: von pubertierendem Verhalten, über kurze Hosen, blieb letztlich nur der
starke Wille übrig, der in Andrea wächst und sich in der Klarheit seines schwarzen
Kostüms am Ende des Stücks widerspiegelt.
Von Anfang an, sah sich Jutta Kreisscher der Herausforderung durch das Bühnenbild
gegenüber, das mit seiner hell-grauen Fläche einen starken Rahmen setzt. Dieser
farbliche Hintergrund, in dem sich die Figuren ständig bewegen, forderte klare
Strukturen und kräftige Farben. Verspielte Muster und zarte Pastelltöne gingen völlig
darin unter. Es stellte sich schließlich heraus, dass die Idee einer streng strukturierten
Welt, die das Bühnenbild vorgibt, im Kostümbild der Figuren fortgesetzt werden mußte,
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um eine dichte Atmosphäre auf der Bühne zu schaffen. Zu Beginn der Arbeit stand die
Idee, alle Figuren des Stücks in vier soziale Gruppen zuzuordnen: Klerus,
Wissenschaftler, Politiker und Adel. Jutta Kreischer nahm diese Idee zur Grundlage ihrer
ersten Figurinen-Entwürfe (Zeichnungen der Kostüme). Zu Beginn der Proben arbeitete
sie noch mit einer stärken Illustrierung der sozialen Zugehörigkeit der Figuren durch
entsprechende Kostüme. Im Laufe der Probenarbeiten entschied sie sich, diese
Verbindung nur noch durch "Zitate" aufzuzeigen. Der Kleine Mönch beispielsweise, war
zu einem früheren Probenstadium mit einer braunen Mönchskutte bekleidet. Davon
übrig blieb nur noch einer brauner Kapuzenpulli, die er sich über den Kopf zieht. Die
Figur des Kleinen Mönchs kann so als ein Geistlicher gelesen werden, aber auch als ein
junger Mann, der eine Antwort auf die Frage nach richtig und falsch sucht. Auch der
Klerus wird in der Inszenierung nicht in seiner vollen Ausstaffierung gezeigt, sondern
nur noch durch seine typischen Kopfbedeckungen. Die Zitathaftigkeit der Kostüme, ist
ein Versuch, dass Verhalten der Figuren an ihr Menschsein zu binden und nicht
vorrangig an ihre soziale Zugehörigkeit.
1.7.
Projektionen
Die Projektionen zu Beginn des Stücks zeigen historisch Abbildungen der Gestirne, die
sich um die Erde drehen. Diese Projektionen gehen in die Projektion von tabletZeichnungen Galileis über. Antike und moderne Abbildungen der Gestirne verweben
ineinander. Im Verlauf der Inszenierung werden auch verschiedene Filme oder Bilder
auf das Bühnenbild wie auf eine Leinwand projiziert. Die Projektion aus zirkulierenden
Gestirnen, schafft den Eindruck, dass die Figuren in einem bewegten Universum stehen.
Eine weitere Projektion zeigt das Brechen von Glas in der Dauerschleife, unterlegt von
Metall-Musik. Weitere Projektionen zeigen eine brennende Kugel, die sich in einer
späteren Einstellung langsam auflöst.
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Beobachtungsaufgabe (zur Vorbereitung):
Wähle eine für dich zentrale Aussage des Stücks und halte während der Theaterbesuchs
Ausschau, wie du diese Aussage im Bühnen-oder Kostümbild, in der Verwendung von
Projektionen, Musik und sound oder durch den Schauspielstil übersetzt findest.
1.8.
Zum Einsatz epischer Gestaltungsmittel in der Inszenierung
Im Gegensatz zu anderen Stücken Brechts, enthält LEBEN DES GALILEI nur wenige
formale Gestaltungsmittel des epischen Theaters. Es gibt aber auch eindeutig epische
Momente, die als solche auch in der Inszenierung lesbar sind.
Hierzu gehören:
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1. reflektierend- kommentierende Dialoge der Bühnenfiguren
Beispiel:
aus Bild 13 (Galileis Widerruf):
Galilei wurde von der Inquisition verhaftet und soll zum Widerruf gezwungen werden.
Der kleine Mönch, Federzoni und Andrea, warten auf Nachricht.
DER KLEINE MÖNCH Der Papst hat ihn nicht empfangen. Keine wissenschaftlichen
Diskussionen mehr.
FEDERZONI Er war seine letzte Hoffnung. Es war wahr, was er ihm damals vor Jahren in
Rom sagte, als er noch der Kardinal Barberini war: wir brauchen dich. Jetzt haben sie
ihn.
ANDREA Sie werden ihn umbringen. Die "Discorsi" werden nicht zuende geschrieben.
FEDERZONI Meinst du?
ANDREA Da er niemals widerruft.
Pause
DER KLEINE MÖNCH Man verbeißt sich immer in einen ganz nebensächlichen
Gedanken, wenn man nachts wach liegt. Heute Nacht zum Beispiel dachte ich immerfort:
er hätte nie aus der Republik Venedig weggehen dürfen.
ANDREA Da konnte er sein Buch nicht schreiben.
FEDERZONI In Florenz konnte er es nicht veröffentlichen.
Pause
DER KLEINE MÖNCH Ich dachte auch, ob sie ihm wohl seinen kleinen Stein lassen, den
er immer in der Tasche mit sich herumträgt. Sein Beweisstein.
FEDERZONI Dahin, wohin sie ihn führen, geht man ohne Taschen.
ANDREA Das werden sie nicht wagen! Und selbst wenn sie es ihm antun, wird er nicht
widerrufen. "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie
weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher."
FEDERZONI Ich glaube es auch nicht, und ich möchte nicht mehr leben, wenn er es täte,
aber sie haben die Gewalt.
ANDREA Man kann nicht alles mit Gewalt.
FEDERZONI Vielleicht nicht.
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Spielvorschlag (zur Nachbereitung):
Teilt die Rollen untereinander auf und spielt die Szene. Sprecht dabei nach vorne. Frage
an die Zuschauer und Schauspieler: Wie wirkt das nach vorne gerichtete Sprechen auf
dich?
2. Erzeugung von Widersprüchen durch Kontrastszenen
Im Stück sind viele gegenläufige Bilder und Aussagen nebeneinandergestellt. Diese
Kontraste laden dazu ein, über die Wahrheit des Gesagten nachzudenken.
Beispiel 1(aus Bild 13 „Widerruf“):
ANDREA laut: Der Mond ist eine Erde und hat kein eigenes Licht. Und so hat die Venus
kein eigenes Licht und ist wie die Erde und läuft um die Sonne. Und es drehen sich vier
Monde um das Gestirn Jupiter, das sich in der Höhe der Fixsterne befindet und an keiner
Schale befestigt ist. Und die Sonne ist das Zentrum der Welt und unbeweglich an ihrem
Ort, und die Erde ist nicht Zentrum und nicht unbeweglich. Und er ist es, der es uns
gezeigt hat.
DER KLEINE MÖNCH Und mit Gewalt kann man nicht ungeschehen machen, was
gesehen wurde.
Schweigen
GALILEI Ich Galileo, Galilei, Lehrer der Mathematik und Physik in Florenz, schwöre ab,
was ich gelehrt habe, dass die Sonne das Zentrum der Welt ist und an ihrem Ort
unbeweglich, und die Erde ist nicht Zentrum und nicht unbeweglich. Ich schwöre ab,
verwünsche und verfluche mit redlichem Herzen und nicht erheucheltem Glauben alle
diese Irrtümer und Ketzereien sowie überhaupt jeden anderen Irrtum und jede andere
Meinung, welche der Heiligen Kirche entgegen ist.
Spielvorschlag (zur Nachbereitung):
Bildet eine Gruppe von drei Spielern und teilt die Rollen von Galilei, Andrea und Kleiner
Mönch untereinander auf. Den Text könnt ihr vom Blatt ablesen. Sprecht den Text eurer
Figur mit einer emotionalen Haltung- lasst euch dabei von euren Erinnerungen an den
Theaterabend im SST inspirieren. Statt einer Kamera, kann die Figur des Galilei eine
Handy-Kamera benutzen.
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Die Dialektik der Widerspruchs setzt sich
bis in die Figur des Galilei fort und wird in
der in der Darstellung durch den
Schauspieler Andreas Anke am SST
deutlich lesbar: In einem Moment ist er
uns noch als underdog der Wissenschaft
sympathisch, im nächsten stößt er uns
zurück durch sein egoistisches Verhalten
und seine Verachtung für seine Tochter.
Beispiel 2 (aus Bild 10 "Der Kluge und der Dumme"):
Der Kardinal Inquisitor ist zur Audienz beim Papst. Der Inquisitor will, dass der Papst
Galilei das weitere Forschen verbietet, weil er den Glauben gefährdet. Der Papst will es
ihm aber nicht verbieten, da er selbst Wissenschaftler ist und weil er auch der Welt
gegenüber nicht spießig erscheinen möchte.
Spielvorschlag (zur Vor-oder Nachbereitung): Teilt die Rollen von Papst und
Inquisitor untereinander auf und improvisiert die Situation. Schafft es der Inquisitor,
den Papst zu überzeugen? Wie endet das Gespräch?
Erweiterung:
In der Inszenierung nähen der Inquisitor und der Papst während ihres Gespräches.
Probiert eine andere gemeinsame Aktion aus, die ihr während eures Gespräches
ausführt. Wie wirkt sich die Aktion auf die Bedeutung der Handlung aus?
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2. Themen
2.1. „Wahrnehmung“
Selbstexperiment A (zur Vor- oder Nachbereitung): Warum fühlt sich Neues oft
"falsch" an?
Wir haben uns so an die abstrakte Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht
gewöhnt, dass sie bei uns weder Erstaunen noch Unwohlsein hervorruft wie zu Zeiten
Galileis. Meist ist jede neue Erfahrung mit einem Gefühl des Nicht-Passens verbunden,
was folgendes Selbst- Experiment vergegenwärtigen kann (von Lorenz Hippe).
Anweisung: Verschränke die Hände ineinander (wie zum beten). Nehme war, wie sich
das anfühlt. Dann löse die Hände wieder auf und verschränke sie so, dass der jeweils
andere Daumen oben liegt. Wie fühlt sich das an?
Erfahrung: Die meisten Menschen verschränken die Hände zuerst so, wie sie es
gewohnheitsmäßig tun. Das fühlt sich gut und "passend" oder auch "richtig" an. Werden
sie dazu aufgefordert, die Hände anders zu verschränken, so dass der andere Daumen
oben liegt, fühlt sich das zunächst falsch an. Wiederholen sie die ungewohnte
Verschränkung öfter, empfinden sie beide Möglichkeiten bald als normal.
Selbstexperiment B (zur Vor-oder Nachbereitung): "Wahrheit"- eine Frage der
Perspektive?
Im Stück sagt Galilei zu Kardinal Baberini:
„Als ich so klein war er deutet es mit der Hand an, Eure Eminenz, stand ich auf einem
Schiff, und ich rief: Das Ufer bewegt sich fort. - Heute weiß ich, das Ufer stand fest, und
das Schiff bewegte sich fort.“
Hat das, was man gemeinhin als „wahr“ wahrnimmt, vielleicht auch damit zu tun, was
man wahrzunehmen sucht? Ein Experiment lädt dazu ein, die Dynamik zwischen
physikalischer „Wahrheit“ und „Illusion“ bewusst zu erleben:
Anweisung: Geh ins Freie. Suche dir einen fixen Gegenstand aus, z.B. einen Baum im
Schulhof. Nun gehe langsam auf den Baum zu und stelle dir vor, der Baum kommt auf
dich zu, statt du auf ihn…
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Selbstexperiment C (zur Nachbereitung): In wiefern setzt sich das Große im
Kleinen fort und umgekehrt?
Dieses Selbstexperiment ist durch den Dialog zwischen Baberini und Galilei inspiriert:
BABERINI zu Galilei: Ihr denkt in gleichmäßigen Schnelligkeiten, einfachen Bewegungen,
die euren Gehirnen gemäß sind. Wie, wenn es Gott gefallen hätte, seine Gestirne so
laufen zu lassen? Er zeichnet in der Luft mit dem Finger eine äußerst verwinkelte Bahn
mit unregelmäßiger Geschwindigkeit. Was würde dann aus euren Berechnungen?
GALILEI Eminenz, hätte Gott unsere Welt so konstruiert er wiederholte Baberinis Bahn,
dann hätte er auch unsere Gehirne so konstruiert er wiederholt dieselbe Bahn, so dass sie
eben diese Bahnen als die einfachsten erkennen würden. Ich glaube an die Vernunft.
Anweisung: Gehe in geraden Linien und nehme wahr, wie sich diese Art dich zu
bewegen auf deine Emotionen auswirkt. Gehe dann dazu über, dich in gewundenen
Linien und Kreisen zu bewegen. Bemerke auch hier, wie sich diese Bewegung auf deine
Emotionen auswirkt. Wechsele schließlich frei zwischen beiden Möglichkeiten hin und
her und nehme war, was das in dir verändert.
2.2.
„Verantwortung der Wissenschaft“
Diskussionsvorschlag (zur Nachbereitung):
Welche Perspektive entwirft das Zitat des Theologen, Arztes und Philosophen, Albert
Schweizer für eine Ethik der Wissenschaften?:
"Ich bin Leben das Leben will, inmitten von Leben das Leben will".
Albert Schweitzer
Schreib-Vorschlag (zur Vor-oder Nachbereitung):
Schreibe ein brainstorming zur Frage: Was bedeutet uns die Wissenschaft heute?
Nutze dabei den wiederholenden Satzanfang: "Die Wissenschaft..."
Diese Struktur erlaubt dir, Gedanken nebeneinander zu stellen, die im logischen Sinne
keinen Sinn entwickeln, aber möglicherweise durch ihren Raum "dazwischen".
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Beispiel:
Die Wissenschaft...
Die Wissenschaft ist das Zentrum der Anthroprozentrizität
Die Wissenschaft zweifelt an der Existenz Gottes oder eines höheren Wesens
Die Wissenschaft lässt nur das als Beweis gelten, was sie messen kann
Die Wissenschaft und der Raum dazwischen
Die Wissenschaft stößt auf Antworten, welche die Tür zu tauschend neue Fragen öffnen
Wo ist Gott?
Die Wissenschaft ist das Auge, das sich selbst nicht sehen kann
Die Wissenschaft ist eine Disziplin, an die man glauben muss
Spielvorschlag A (zur Vor-oder Nachbereitung): Kernkonflikt auf heute
übertragen
Bildet eine Kleingruppe von 4-5 Personen und erfindet eine Szene, die folgende
Handlungsstationen enthält:
•
ein Wissenschaftler macht eine bahnbrechende Entdeckung. Welche?
•
er entdeckt ihr zerstörerisches Potenzial- zu spät. Worin besteht dieses?
•
Wie verhält er sich? fährt er mit der Entwicklung und Propagierung fort, trotz
Wissen um die Risiken? - oder versucht er sie rückgängig zu machen?
•
Wie verhalten sich seine Mitmenschen?
•
Gibt es einen Weg, die Entdeckung "menschlich" zu gestalten?- also mit Respekt vor
den Grenzen der Wissenschaft? Welche Grenzen müssten dabei beachtet werden und
wie würde sich dies auf die Weiterentwicklung der Entdeckung auswirken?
Erweiterung: „Sichtbar machen, was vorher unsichtbar war“
Eure Szene könnt ihr durch folgende Interventionen im Sinne Brechts verfremden:
a) Gedanken sprechen
Ein Zuschauer stoppt die Szene an einer bestimmten Stelle, z.B. durch Klatschen, stellt
sich hinter eine Figur und spricht ihre Gedanken im Moment der Handlung. Der
Zuschauer setzt sich, klatscht und die Szene geht wie geprobt weiter.
b) Regieanweisungen
Ein Zuschauer bringt die Szene durch einmaliges Klatschen zum Einfrieren, setzt sich auf
einen dafür vorgesehenen "Regiestuhl" spricht eine Regieanweisung, die im Kontrast zur
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aktuellen Handlung auf der Bühne steht. Die Schauspieler setzen die Anweisung um und
nehmen dann die Handlung wieder auf.
Spielvorschlag B (zur Nachbereitung): Fiktive Fernsehshow
Veranstaltet eine fiktive Fernsehshow zu einem der zentralen Themen des Stücks:
„Worin liegt die Verantwortung der Wissenschaft in einer Welt, die durch Innovation
auch bedroht sein kann?“
Ein Moderator/ eine Moderatorin hat SchauspielerInnen verschiedener Figuren aus dem
Stück LEBEN DES GALILEI am SST eingeladen, sowie Wissenschaftler und Experten, die
etwas Interessantes zu diesem Thema zu sagen haben könnten.
Gäste können z.B. sein: ein google- Mitarbeiter, ein Gentechnik- Experte, ein Biobauer,
ein Geistlicher, ein Schönheits-Chirurg etc.
Tipp: Es kann spannend sein, Ex-MitarbeiterInnen eines innovativen Unternehmens
einzuladen, da diese zwar Experten ihres Fachs, gleichzeitig aber aus bestimmten
Gründen zu einer reflektierten Sicht ihrer Arbeit gelangt sind.
Teilt alle Gäste mit ihren Rollenidentitäten untereinander auf und beantwortet alle vom
Moderator gestellten Fragen aus der Perspektive eurer Figur. Versucht euch in eure
Figur einzufühlen, um nachzuvollziehen wie sie zu der Haltung kommt, die sie vertritt
und welchen inneren Widersprüchen er/sie dabei ausgesetzt ist.
Hintergrund: Brecht begriff Theater als kritisches Labor, in dem kein Konsens gefunden
werden muss. Auch in der zur Diskussion stehenden Frage, kann die Lösung weder im
rücksichtslosen Fortschritt, noch im vorsätzlichen Zurückhalten neuer Ideen liegen…?
Weiterführende weblinks
Rede des amerikanischen Informatikers, Wikipedia- und open-source Kritikers, Jaron
Lanier zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014:
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/141014_lanier_rede.pdf
Zum Thema Fraktale (selbstähnliche) Strukturen:
http://www.natur-struktur.ch/fraktale/fraktalenatur.html
http://www.zeit.de/wissen/2010-10/mandelbrot-nachruf
15
Quellen
Literatur
Bertolt Brecht, Rede über die Widerstandskraft der Vernunft, in: ders., Werke. Große
kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 22, Berlin und Frankfurt
(Suhrkamp) 1988- 1998.
Papst Franziskus, Laudato si! Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Rom (Libreria
Editrice Vaticana) 2015.
Weblinks
https://de.wikipedia.org/wiki/Hubble-Weltraumteleskop
Bildnachweise
Björn Hickmann, stage picture GmbH Berlin, fotografierte die 1. Hauptprobe am
22.09.2015
Materialien
16
Interview mit dem Schauspieler Andreas Anke und
Elisa Weiß (Theaterpädagogin SST)
Andreas, du spielst ja den Galilei- was ist dein Zugang zu dieser Figur?
Ich suche die Figur eigentlich immer noch. Was mich besonders interessiert an ihr ist,
dass sie diese große Egomanie besitzt. Die Forschung ist wie eine Sucht für ihn, ein Kick.
Sein erstes Motiv ist nicht die Welt zu verbessern, sondern etwas zu erkennen, was
keiner vor ihm gesehen hat. Das kopernikanische Weltbild zu beweisen, das Kopernikus
selber nicht beweisen konnte. Er ist nicht der große Schöpfer, sondern jemand dem die
Dinge zufallen- wie das Fernrohr. Er stellt sich selber sehr ins Zentrum des Interesses
mit seiner These. Er rüttelt an der alten Ordnung, aber nicht um sie zum Einsturz zu
bringen weil sie so wahnsinnig ungerecht ist, sondern damit er der derjenige sein kann,
der die Macht hat zu erschüttern. Was ich auch sehr interessant an ihm finde: Das was er
sieht, was er beweisen kann mittels des Fernrohrs, ist etwas, was sich der normalen
menschlichen Wahrnehmung völlig entzieht. Er will der erste sein, der das mit eigenen
Augen gesehen hat. Aus dieser Sucht heraus entsteht eine große Unvernunft. In dieser
Unvernunft gefährdet er seine Nächsten, seine Tochter. Er redet von der Vernunft, aber
er selbst verhält sich ständig unvernünftig.
Wie kommt es, dass er so angstfrei dem Weltbild gegenüber ist, dass er da offen
legt? Woran glaubt er?
Dass es einen Gott, eine Ordnung gibt, bestreitet er ja nicht. Er sagt nur, dass es eine
andere ist, als die, die man bisher angenommen hat. Und in der Folge muss die Theologie
natürlich drauf reagieren. Aber für ihn geht es gar nicht darum zu fragen: Was folgt
daraus? sondern zu entdecken und das was er sieht weiterzusagen.
Wie hat sich das Konzept für deine Figur im Laufe der Probenarbeit verändert?
Martin und ich waren uns von Anfang an einig darin, was wir nicht wollten. Wir
kommen beide aus der DDR und dort gibt es eine Rezeptionsgeschichte, in der Galilei
immer als der Kämpfer für die Vernunft, Befreier der Versklavten gezeigt wird, ein
Aufklärer der Menschheit, ein Kämpfer gegen die Kirche. Das hat uns nicht interessiert.
Dafür aber gegenwärtige Motive. Brecht selbst hat mehrere Fassungen geschrieben- die
letzte in Bezug zum Kalten Krieg, der atomaren Bedrohung. Heute ist es Silicon Valley,
wo Leute Techniken entwickeln, die sich einer politischen, gesellschaftlichen Kontrolle
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entziehen- wo erst im Nachhinein darüber nachgedacht wird: wie kann man das
regulieren? Da gibt es eine ganze Gruppe von Leuten, die wollen die Welt umgestalten
und zwar bevor ihnen jemand sagt wie. Das ist eigentlich ein schöner Gedanke: Man
entwickelt etwas, dass der Menschheit viel Nutzen bringt, was aber gleichzeitig zu einem
Instrument von Machthabern wird, mit dem viel Unfug betrieben werden kann.
Nachdem der Buchdruck erfunden wurde, gab es auch Niemanden oder besser keine
Instanz, die in den letzten 600 Jahren darauf geachtet hätte das nur lehrreiche Inhalte
gedruckt werden. Und die Erfinder des Internet haben sich vor 30 Jahren auch nicht
vorstellen können, wie stark das unsere Welt verändert und beeinflusst. Jede Neuerung,
fordert einen verantwortlichen Umgang, sonst verkehrt sich der Nutzen schnell in das
Gegenteil.
Ist das tablet, das ihr in der Inszenierung benutzt, ein Hinweis darauf?
Das haben wir eigentlich nur aus praktischen Gründen gewählt und ist von uns nicht als
ein Hinweis auf Silikon Valley gedacht. Das was sonst Papier wäre, ist jetzt einfach das
tablet. Es funktioniert wie eine Kreidetafel- man wischt etwas weg und kann darauf
schreiben.
Du hast ja schon einige Figuren in Brecht- Stücken gespielt- Gibt es etwas was sich
für dich in der Arbeit mit Brecht fortsetzt?
Es gibt nicht das Brecht Stück. Die Kleinbürgerhochzeit sein erstes Stück ist eine eher
kabarettistische Kritik an spießiger Kleinbürgerlichkeit, oder Mann ist Mann – seine
Kritik an imperialen Strukturen, da findet man eine ganz andere Schaffensweise, die das
epische Theater ahnen lässt. Viel später dann kommen seine Lehrstücke, die man heute
so als typisch Brecht wahrnimmt und die er selber im Alter ablehnte. Ich habe Gedichte
von Brecht gesprochen, die erotischer Natur sind- die sind wiederum sehr saftig,
versaut, da benennt er die Dinge sehr gerade.... Brecht ist ein Lebemensch gewesen, ein
bisschen so wie Galilei selbst. Auch ein Egomane, der sich selbst ins Zentrum gestellt hat,
der gerne der Welt etwas gegeben hat, etwas erklären und erzählen wollte. Vielleicht ist
er viel weniger der Aufklärer gewesen, als der er heute verstanden wird. Vielleicht war
er eher der Dandy der Zigarren raucht und Frauen verbraucht. Und da macht es mir
Spaß Brecht zu lesen oder zu sehen- ich finde, dass er auch gute Figuren schreibt. Galilei
ist eine sehr dialektische Figur, in keinster Weise didaktisch. Es gibt da kein schwarz
oder weiß wie er in der DDR Rezeption benutzt wurde. Galilei ist eine sehr komplexe
Figur. Und das interessiert mich sehr, da habe ich als Schauspieler auch etwas zu
18
beackern, zu greifen, da ist jede Szene anders, da habe ich die Möglichkeit eine schöne
Charakterstudie abzugeben- ich empfinde die Figur auch als garnicht trocken, sondern
immer wieder anders. Es gibt ja auch Brechts Theorie des epischen Theaters, aber das
wird an keiner Schauspielschule als reine Schauspieltheorie vermittelt. Das ist
durchwachsen mit allen möglichen anderen Schauspieltheorien. Brechts episches
Theater finde ich eher museal, das Lehrstück Theater mit Verfremdungseffekten,
Counter-Tenören, Brecht-Vorhang, Vorgetragenem statt Gespieltem…
Gibt es auch Stellen, an denen sich dir der Galilei garnicht erschließt?
Überlegt Eine Textstelle waren z.B. die Discorsi, wo er die Natur mit Maschinen
vergleicht und eigentlich sich selber meint: „Die gemeine Annahme, dass große und
kleine Maschinen gleich ausdauernd seien ist offenbar irrig.“ Er meint sich damit, als
Rechtfertigung für seinen Widerruf. Da wusste ich erst garnicht warum der Text da
stand, er beginnt damit Fallgesetze zu erklären und nötige Proportionen um den Kräften
der Erdanziehung zu wiederstehen, das musste ich erst einmal inhaltlich als Gleichnis
seiner eigenen Situation begreifen, Martin hat mir dann die Haltung vorgegeben, die er
sich vorstellte und dann hatten wir es. Jetzt, zum Ende finde ich, dass man manchmal die
Konstruktion des Theatertextes sehr raus hört: das ist dann der Brecht, mit seinem
Appell der am Ende des Stückes steht, der die Wissenschaftler dazu auffordert nur zum
Wohle der Menschheit zu arbeiten, der etwas wie einen Hippokratischen Eid der Ärzte,
für die Wissenschaft fordert. Der sich verdammt: „Wenn ein Mensch so etwas wie ich
getan hat, dann gehört er aus den Reihen der Wissenschaft ausgeschlossen.“ Ich
verstehe, warum das da steht, warum das sein muss. Aber ich frage mich dann, und da
sind wir auch gerade dran und wissen noch nicht so ganz wie wir es auflösen: müssen
wir jetzt nochmal so die Moral bringen? Nach zwei Stunden haben wir das alles gesehenwenn es gut läuft. Muss ich das am Ende nochmal zusammengefasst bekommen? Und
dafür eine Form zu finden: Wie kann man das erzählen, ohne dass daraus eine
Gutmenschenrolle wird? Das ist zum Beispiel interessant an der Arbeit am Brecht-Text,
er sagt das Richtige, aber ungebrochen wollen wir das nicht bringen. Das ist so eine
Passage, an der wir uns reiben und mit der wir nicht so schnell fertig werden. Ich glaube
es braucht etwas Verlorenes, etwas das dann auch nicht gehört wird.
Am Ende wirkt Galilei auf mich wie ein gebrochener, alter Mann- was sagst du?
19
Er hat widerrufen, ist im Exil und arbeitet noch an den Discorsi, er will der Welt noch
etwas hinterlassen, es gelingt ihm ja dann auch das Werk Andrea zuzuspielen, damit es
nicht im „Giftschrank“ der Kirche landet, sondern als sein Vermächtnis den Weg in die
Öffentlichkeit findet. Aber er ist jemand, der gebrochen ist, der sich für die innere
Emigration entschieden hat. Verbittert, weil er sich betrogen fühlt. Und da sind wir
wieder bei dem Motiv des Egomanen, der eingeschnappt ist, weil die Welt ihn nicht
hört.
Was ist seine Tochter für ihn?
Für mich ist Virginia das Gegenmodel, selbst in seiner eigenen Familie- die Welt ist nicht
in der Lage zu begreifen was er da formuliert. Die sind ja auch nicht in der Lage das zu
verstehen, selbst wenn sie mit ihren „alten“ Augen da durch sein Fernrohr gucken. Und
das ist bis heute immer noch der Fall. Bis heute wissen wir immer noch nicht
vollständig, was Licht ist, wir können es nur beschreiben: Licht hat eine Geschwindigkeit
von über 300 000 km pro Sekunde. Das Licht der Sonne braucht acht Minuten bis es bei
uns ankommt. Wenn wir in die Sonne schauen, dann ist das etwas, was acht Minuten her
ist. Aber dieses alte Licht, das vor acht Minuten entstand, erzeugt hier das Leben. Und
das sind Vorstellungen, die sich unserem Erfahrungshorizont entziehen und bei denen
es einem schwindelig werden kann.
Und dann ist die Frage: muss man das alles denken- reicht es nicht die Welt so zu
nehmen wie sie ist und damit zufrieden zu sein. Muss ich das immer im Kopf haben, wie
unbedeutend wir sind? Ich weiß darauf auch keine Antwort.
Ich finde nur, dass Virginia- Brecht hat sie ja auch nicht umsonst „Virginia“ genanntdass sie mit ihrer Unschuld das nicht teilen kann, nicht teilen will, was der Vater
erkennt. Sie steht als entgegengesetztes Lebensmodell zu dem, was der Vater lebt. Und
darin besteht der Konflikt. Er nimmt in Kauf, dass sie ihr Leben nicht leben kann, nur
damit er sein Leben so leben kann wie er will.
Ich finde es interessant, dass in dem Stück keine „Mutter“ gibt- sie wird auch nie
erwähnt. Es gibt nur den väterlichen Zweifel, die Kritik…
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…vieleicht auch das väterliche Unvermögen. Er kann die Sterne begreifen, begreift aber
seine eigene pubertierende Tochter nicht und begreift auch nicht, dass er ihrem
Lebensglück im Wege steht.
..oder es ist ihm egal.
Ja, es ist ihm egal. Er gibt die Schuld ja an den Bräutigam ab: „Was hat meine Astronomie
mit meiner Tochter zu tun?“ Damit ist er natürlich gut aus dem Schneider. Er sieht das
schon, aber geht darüber hinweg. Und da zeigt sich auch wieder ein großer Teil seiner
Unvernunft. Aber Andrea, das Kind seiner Haushälterin, das seine Begeisterung teilt, den
mag er, mehr als seine eigene Tochter. Und der Bruch mit ihm nach seinem Widerruf, die
Enttäuschung des jungen Mannes Andrea Sarti quält ihn.
Was würdest du sagen, ist eine Seite an der Figur des Galilei, die du mit deiner
Persönlichkeit auf besondere Weise ausfüllst?
Meine Statur sicherlich…wo Galilei ist wie ich…? Ich interessiere mich sehr dafür, wie
man sich das Universum vorstellt und was das alles im Zusammenhang bedeutet. Da
kann ich diesen Forscherdrang verstehen. Die Unmäßigkeit kenne ich auch ganz gut von
mir. Der Moment alles Drumherum fallen zu lassen. Das ist was mit einem Süchtigen
passiert, der pfeift ja auf die Folgen, er muss sich diesen Kick geben und er weiß auch er
wird unter diesem Kick wieder leiden und trotzdem muss er es tun. Das ist auch was in
der Unmäßigkeit passiert, nicht darüber nachzudenken: ist das jetzt gut bis 3 Uhr noch
ein Bier und noch ein Bier zu trinken… sondern in dem Monet ist es einfach gut und
nicht darüber nachzudenken ob es dir am nächsten Morgen weiterhilft. Das kann ich aus
meinem Leben am ehesten teilen.
Ich versuche von Figuren auch immer den Teil zu finden, der da zu mir Schnittmenge
ist.
Lieber Andreas, ich danke dir für das Gespräch!
Saarbrücken, 17.09.2015
21
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ENZYKLIKA
LAUDATO SI'
VON
PAPST FRANZISKUS
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oes GEMETNSAME HAUI
Die echte menschliche Entwicklung ist moralischer Art und setzt die vollkommene Achtung
gegenüber der menschlichen Person voraus, muss aber auch auf die Welt der Natur achten
und ,,der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten
System [...]
Sein Zeugnis (des Hl. Franziskus) zeigt uns auch, dass eine ganzheitliche Ökologie eine
Offenheit gegenüber Kategorien verlangt, die über die Sprache der Mathematik oder der
Biologie hinausgehen und uns mit dem Eigentlichen des Menschen verbinden.
Seine Reaktion war weit mehr als eine intellektuelle Bewertung oder ein wirtschaftliches
für ihn war jedes Geschöpf eine Schwester oder ein Bruder, ihm verbunden
durch die Bande zärtlicher Liebe.
Kalkü1, denn
Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das
Wunder nähern, (...) wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des
bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein, der unfähig ist, seinen unmittelbaren lnteressen
eine Grenze zu setzen. (...) Die Armut und die Einfachheit des heiligen Franziskus waren
keine bloß äußerliche Askese, sondern etwas viel Radikaleres: ein Verzicht darauf, die
Wirklichkeit in einen bloßen Gebrauchsgegenstand und ein Objekt der Herrschaft zu
verwandeln. (S.5)
ERSTES KAPITEL
WAS UNSEREM HAUS WIDERFAHRT
Die ständige Beschleunigung in den Veränderungen der Menschheit und des Planeten
verbindet sich heute mit einer lntensivierung der Lebens- und Arbeitsrhythmen zu einem
Phänomen, das einige als ,,ropidaciön" bezeichnen.
Nach einer Zeit irrationalen Vertrauens auf den Fortschritt und das menschliche Können
jetzt ein Teil der Gesellschaft in eine Phase stärkerer Bewusstheit ein. (S. 8)
tritt
Eine mit dem Finanzwesen verknüpfte Technologie, die behauptet, die einzige Lösung der
Probleme zu sein, ist in der Tat oft nicht fähig, das Geheimnis der vielfältigen Beziehungen zu
sehen, die zwischen den Dingen bestehen, und löst deshalb manchmal ein Problem, indem
sie andere schafft. (S.9)
25. Der Klimawandel ist ein globales Problem mit schwerwiegenden Umwelt-Aspekten und
ernsten sozialen, wirtschaftlichen, distributiven und politischen Dimensionen; sie stellt eine
der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Menschheit dar. (...)Viele Arme leben in
Gebieten, die besonders von Phänomenen heimgesucht werden, die mit der Erwärmung
verbunden sind (...) Sie betreiben keine anderen Finanzaktivitäten und besitzen keine
anderen Ressourcen, die ihnen erlauben, sich den Klimaeinflüssen anzupassen oder
Katastrophen die Stirn zu bieten, und sie haben kaum Zugang zu Sozialdiensten und
Versicherung. (...)Tragisch ist die Zunahme der Migranten, die vor dem Elend flüchten, das
durch die Umweltzerstörung immer schlimmer wird, und die in den internationalen
Abkommen nicht als Flüchtlinge anerkannt werden; sie tragen die Last ihres Lebens in
Verlassenheit und ohne jeden gesetzlichen Schutz. Leider herrscht eine allgemeine
Gleichgültigkeit gegenüber diesen Tragödien, die sich gerade jetzt in bestimmten Teilen der
Welt zutragen. Der Mangel an Reaktionen angesichts dieser Dramen unserer Brüder und
Schwestern ist ein Zeichen für den Verlust jenes Verantwortungsgefühls für unsere
Mitmenschen, auf das sich jede zivile Gesellschaft gründet. (S.11)
II. DIE WASSERFRAGE
27. Andere Anzeichen der aktuellen Situation stehen im Zusammenhang mit der Erschöpfung
der natürlichen Ressourcen. Wir wissen sehr wohl, dass es unmöglich ist, das gegenwärtige
Konsumniveau der am meisten entwickelten Länder und der reichsten
Gesellschaftsschichten aufrechtzuerhalten, wo die Gewohnheit, zu verbrauchen und
wegzuwerfen, eine nie dagewesene Stufe erreicht hat. Es sind bereits gewisse
Höchstgrenzen der Ausbeutung des Planeten überschritten worden, ohne dass wir das
Problem der Armut gelöst haben.
Während die Qualität des verfügbaren Wassers ständig schlechter wird, nimmt an einigen
Orten die Tendenz zu, diese knappe Ressource zu privatisieren; so wird sie in Ware
verwandelt und den Gesetzen des Marktes unterworfen. (S.13)
III. DER VERLUST DER BIOLOGISCHEN VIELFALT
stimmt, dass der Mensch eingreifen muss, wenn ein Geosystem in ein kritisches Stadium
gerät, doch heute hat das menschliche Eingreifen in eine so komplexe Wirklichkeit wie die
Natur ein solches Maß erreicht, dass die ständigen vom Menschen verursachten
Katastrophen sein erneutes Eingreifen herausfordern, so dass das menschliche Handeln
allgegenwärtig wird, mit allen Risiken, die das in sich birgt.
Es
Lobenswert und manchmal bewundernswert sind die Anstrengungen der Wissenschaftler
und Techniker, die versuchen, Lösungen für die vom Menschen verursachten Probleme zu
schaffen. Wenn wir jedoch die Welt betrachten, stellen wir fest, dass dieses Ausmaß
menschlichen Eingreifens, das häufig im Dienst der Finanzen und des Konsumismus steht,
dazu führt, dass die Erde, auf der wir leben, in Wirklichkeit weniger reich und schön wird,
immer begrenzter und trüber, während gleichzeitig die Entwicklung der Technologie und des
Konsumangebots grenzenlos weiter fortschreitet. So hat es den Anschein, dass wir bestrebt
sind, auf diese Weise eine unersetzliche und unwiederbringliche Schönheit auszutauschen
gegen eine andere, die von uns geschaffen wurde. (S.14f.)
IV. VERSCHLECHTERUNG DER LEBENSQUALITAT UND SOZIALER NIEDERGANG
Zu den sozialen Komponenten der globalen Veränderung gehören auch die Auswirkungen
einiger technologischer Neuerungen auf die Arbeit, die soziale Ausschließung, die
Ungleichheit in der Verfügbarkeit und dem Konsum von Energie und anderen Diensten, die
gesellschaftliche Aufsplitterung, die Zunahme der Gewalt und das Aufkommen neuer
Formen sozialer Aggressivität, der Rauschgifthandel und der steigende Drogenkonsum unter
den Jüngsten, der Verlust der ldentität. Das sind unter anderem Zeichen, die zeigen, dass das
Wachstum der letzten beiden Jahrhunderte nicht in allen seinen Aspekten einen wahren
ganzheitlichen Fortschritt und eine Besserung der Lebensqualität bedeutet hat. Einige dieser
Zeichen sind zugleich Symptome eines wirklichen sozialen Niedergangs, eines
stillschweigenden Bruchs der Bindungen von sozialer lntegration und Gemeinschaft.
Die wirkliche Weisheit, die aus der Reflexion, dem Dialog und der großherzigen Begegnung
zwischen Personen hervorgeht, erlangt man nicht mit einer bloßen Anhäufung von Daten,
die sättigend und benebelnd in einer Art geistiger Umweltverschmutzung endet. (S. 18)
Die derzeitigen Medien gestatten, dass wir Kenntnisse und Gemütsbewegungen übermitteln
und miteinander teilen. Trotzdem hindern sie uns manchmal auch, mit der Angst, mit dem
Schaudern, mit der Freude des anderen und mit der Komplexität seiner persönlichen
Erfahrung in direkten Kontakt zu kommen. Darum dürfte es nicht verwundern, dass sich
gemeinsam mit dem überwältigenden Angebot dieser Produkte eine tiefe und wehmütige
Unzufriedenheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen oder eine schädliche
Vereinsamung breitmacht. (S. L9)
lch möchte darauf hinweisen, dass man gewöhnlich keine klare Vorstellung von den
Problemen hat, die besonders die Ausgeschlossenen heimsuchen. Sie sind der größte Teil
des Planeten, Milliarden von Menschen. Heute kommen sie in den internationalen politischen und wirtschaftlichen Debatten vor, doch oft scheint es, dass
ihre Probleme gleichsam als ein Anhängsel angegangen werden, wie eine Frage, die man fast
pflichtgemäß oder ganz am Rande anfügt, wenn man sie nicht als bloßen Kollateralschaden
betrachtet. Tatsächlich bleiben sie im Moment der konkreten Verwirklichung oft auf dem
letzten Platz. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass viele Akademiker,
Meinungsmacher, Medien- und Machtzentren weit von ihnen entfernt angesiedelt sind, in
abgeschlossenen Stadtbereichen, ohne in direkten Kontakt mit ihren Problemen zu kommen.
Sie leben und denken von der Annehmlichkeit einer Entwicklungsstufe und einer
Lebensqualität aus, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung unerreichbar sind. (S. 19f.)
Die Auslandsverschuldung der armen Länder ist zu einem Kontrollinstrument geworden, das
Gleiche gilt aber nicht für die ökologische Schuld. (.'.)
Der Erdboden der Armen im Süden ist fruchtbar und wenig umweltgeschädigt, doch in den
Besitz dieser Güter und Ressourcen zu gelangen, um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen,
ist ihnen verwehrt durch ein strukturell
perverses System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen.
(...)Wir müssen uns stärker bewusst machen, dass wir eine einzige Menschheitsfamilie sind.
Es gibt keine politischen oder sozialen Grenzen und Barrieren, die uns erlauben, uns zu
isolieren, und aus ebendiesem Grund auch keinen Raum für die Globalisierung der
Gleichgültigkeit. (...)
VI. DIE SCHWACHE DER REAKTIONEN
(...) Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in
den letzten beiden Jahrhunderten. Doch wir sind berufen, die Werkzeuge Gottes des Vaters
zu sein, damit unser Planet das sei, was Er sich erträumte, als Er ihn erschuf, und seinem
Plan des Friedens, der Schönheit und der Fülle entspreche. Das Problem ist, dass wir noch
nicht über die Kultur verfügen, die es braucht, um dieser Krise entgegenzutreten. Es ist
notwendig,leaderships zu bilden, die Wege aufzeigen, indem sie versuchen, die Bedürfnisse
der gegenwärtigen Generationen unter Einbeziehung aller zu berücksichtigen, ohne die
kommenden Generationen zu beeinträchtigen.
Auffallend ist die Schwäche der internationalen politischen Reaktion. Die Unterwerfung der
Politik unter die Technologie und das Finanzwesen zeigt sich in der Erfolglosigkeit der
Weltgipfel über Umweltfragen. Es gibt allzu viele
Sonderinteressen, und leicht gelingt es dem wirtschaftlichen lnteresse, die Oberhand über
das Gemeinwohl zu gewinnen und die lnformation zu manipulieren, um die eigenen Pläne
nicht beeinträchtigt zu sehen. (S.21ff.)
so wird deutlich, dass die Verschlechterung der umweltbedingungen und die
Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind.
(s.23)
ZWEITES KAPITEL
DAS EVANGELIUM VON DER SCHöPFUNG
I. DAS LICHT, DAS DER GLAUBE BIETET
63. Wenn wir die Komplexität der ökologischen Krise und ihre vielfältigen Ursachen
berücksichtigen, müssten wir zugeben, dass die Lösungen nicht über einen einzigen Weg, die
Wirklichkeit zu interpretieren und zu verwandeln, erreicht werden können. (5.26)
III. DAS GEHEIMNIS DES UNIVERSUMS
Wenn wir den Wert und die Zerbrechlichkeit der Natur erkennen und zugleich die
Fähigkeiten, die der Schöpfer uns verliehen hat, gestattet uns das, heute mit dem modernen
Mythos vom unbegrenzten materiellen Fortschritt schluss zu machen. (s. 33)
V. EINE UNIVERSALE GEMEINSCHAFT
Ein Empfinden inniger Verbundenheit mit den :inderen Wesen in der Natur kann nicht echt
sein, wenn nicht zugleich im Herzen eine Zärtlichkeit, ein Mitleid und eine Sorge um die
Menschen vorhanden ist. Die Ungereimtheit dessen, der gegen den Handel mit vom
Aussterben bedrohten Tieren kämpft, aber angesichts des Menschenhandels völlig
gleichgültig bleibt, die Armen nicht beachtet oder darauf beharrt, andere Menschen zu
ruinieren, die ihm missfallen, ist offensichtlich. (S.38)
VI. DIE GEMEINSAME BESTIMMUNG DER GUTER
93. Heute sind wir uns unter Gläubigen und Nichtgläubigen darüber einig, dass die Erde im
Wesentlichen ein gemeinsames Erbe ist, dessen Früchte allen zugutekommen müssen. Für
die Gläubigen verwandelt sich das in eine Frage der Treue gegenüber dem Schöpfer, denn
Gott hat die Welt für alle erschaffen. Folglich muss der gesamte ökologische Ansatz eine
soziale Perspektive einbeziehen, welche die Grundrechte derer berücksichtigt, die am
meisten übergangen werden. Das Prinzip der Unterordnung des Privatbesitzes unter die
allgemeine Bestimmung der Güter und daher das allgemeine Anrecht auf seinen Gebrauch
ist eine,,goldene Regel" des sozialen Verhaltens und das,,Grundprinzip der ganzen
sozialethischen Ordnung". (S.39)
DRITTES KAPITEL
DIE MENSCHLICHE WURZEL DER öKOLOGISCHEN KRISE
I. DIE TECHNOLOGIE: KREATIVITAT UND MACHT
102. Die Menschheit ist in eine neue Ara eingetreten, in der uns die Macht der Technologie
vor einen Scheideweg stellt. Wir sind die Erben von zweiJahrhunderten enormer
Veränderungswellen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, der Telegraph, die Elektrizität, das
Automobil, das Flugzeug, die chemischen lndustrien, die moderne Medizin, die lnformatik
und jüngst die digitale Revolution, die Robotertechnik, die Biotechnologien und die
Nanotechnologien. Es ist recht, sich über diese Fortschritte zu freuen und angesichts der
umfangreichen Möglichkeiten, die uns diese stetigen Neuerungen eröffnen, in Begeisterung
zu geraten, da ,,Wissenschaft und Technologie ein großartiges Produkt gottgeschenkter
Kreativität" sind. (S.43)
104. Wir können aber nicht unbeachtet lassen, dass die Nuklearenergie, die Biotechnologie,
die lnformatik, die Kenntnis unserer eigenen DNA und andere Fähigkeiten, die wir erworben
haben, uns eine gewaltige Macht verleihen. Besser gesagt, sie geben denen, welche die
Kenntnis und vor allem die wirtschaftliche Macht besitzen, sie einzusetzen, eine
beeindruckende Gewalt über die gesamte Menschheit und die ganze Welt. Nie hatte die
Menschheit so viel Macht über sich selbst, und nichts kann garantieren, dass sie diese gut
gebrauchen wird, vor allem wenn man bedenkt, in welcher Weise sie sich gerade jetzt ihrer
bedient.
105. Man neigt zu der Ansicht, ,,jede Zunahme an Macht sei einfachhin >Fortschritt<;
Erhöhung von Sicherheit, Nutzen, Wohlfahrt, Lebenskraft, Wertsättigung"83, als gingen die
Wirklichkeit, das Gute und die Wahrheit spontan aus der technologischen und
wirtschaftlichen Macht selbst hervor. Tatsache ist, dass,,der moderne Mensch nicht zum
richtigen Gebrauch der Macht erzogen wird"84, denn das enorme technologische Wachstum
ging nicht mit einer Entwicklung des Menschen in Verantwortlichkeit, Werten und Gewissen
einher. (...),,Die Möglichkeit, der Mensch werde die Macht falsch gebrauchen, [wächst]
beständig", wenn,,keine Freiheitsnormen, sondern nur angebliche Notwendigkeiten des
Nutzens und der Sicherheit bestehen"85. Der Mensch ist nicht völlig autonom. Seine Freiheit
wird krank, wenn sie sich den blinden Kräften des Unbewussten, der unmittelbaren
Bedürfnisse, des Egoismus und der Gewalt überlässt. (S.44 f.)
II. DIE GLOBALISIERUNG DES TECHNOKRATISCHEN PARADIGMAS
106. Das Grundproblem ist ein anderes, noch tieferes, nämlich die Art und Weise, wie die
Menschheit tatsächlich die Technologie und ihre Entwicklungzusommen mit einem
homogenen und eindimensionalen Porodigmo angenommen hat. Nach diesem Paradigma
tritt eine Auffassung des Subjekts hervor, das im Verlauf des logisch-rationalen Prozesses das
außen liegende Objekt allmählich umfasst und es so besitzt. Dieses Subjekt entfaltet sich,
indem es die wissenschaftliche Methode mit ihren Versuchen aufstellt, die schon explizit
eine Technik des Besitzens, des Beherrschens und des Umgestaltens ist. Es ist, als ob das
Subjekt sich dem Formlosen gegenüber befände, das seiner Manipulation völlig zur
Verfügung steht. Es kam schon immer vor, dass der Mensch in die Natur eingegriffen hat.
Aber für lange Zeit lag das Merkmal darin, zu begleiten, sich den von den Dingen selbst
angebotenen Möglichkeiten zu fügen. Es ging darum, zu empfangen, was die Wirklichkeit der
Natur von sich aus anbietet, gleichsam die Hand reichend. Jetzt hingegen ist das lnteresse
darauf ausgerichtet, alles, was irgend möglich ist, aus den Dingen zu gewinnen durch den
Eingriff des Menschen, der dazu neigt, die Wirklichkeit dessen, was er vor sich hat, zu
ignorieren oder zu vergessen. (S. 45)
109. Das technokratische Paradigma tendiert auch dazu, die Wirtschaft und die Politik zu
beherrschen. Die Wirtschaft nimmt jede technologische Entwicklung im Hinblick auf den
Ertrag an, ohne auf mögliche negative Auswirkungen für den Menschen zu achten. Die
Finanzen ersticken die Realwirtschaft. Man hat die Lektionen der weltweiten Finanzkrise
nicht gelernt, und nur sehr langsam lernt man die Lektionen der Umweltschädigung. (S. 46)
111. Die ökologische Kultur kann nicht reduziert werden auf eine Serie von dringenden
Teilantworten auf die Probleme, die bezüglich der Umweltschäden, der Erschöpfung der
natürlichen Ressourcen und der Verschmutzung auftreten. Es müsste einen anderen Blick
geben, ein Denken, eine Politik, ein Erziehungsprogramm, einen Lebensstil und eine
Spiritualität, die einen Widerstand gegen den Vormarsch des technokratischen Paradigmas
bilden.
1L2. Es ist jedoch möglich, den Blickwiederzu weiten. Die menschliche Freiheit ist in der
Lage, die Technik zu beschränken, sie zu lenken und in den Dienst einer anderen Art des
Fortschritts zu stellen, der gesünder, menschlicher, sozialer und ganzheitlicher ist. Die
Befreiung vom herrschenden technokratischen Paradigma geschieht tatsächlich in manchen
Situationen, zum Beispiel wenn Gemeinschaften von Kleinproduzenten sich für weniger
verschmutzende Produktionssysteme entscheiden und dabei ein Modell des Lebens, des
Wohlbefindens und des nicht konsumorientierten Miteinanders vertreten; (...). Die echte
Menschlichkeit, die zu einer neuen Synthese einlädt, scheint inmitten der technologischen
Zivilisation zu leben - gleichsam unmerklich, wie der Nebel, der unter der geschlossenen Tür
hindurchdringt. Wird sie trotz allem eine fortwährende Verheißung sein, die wie ein zäher
Widerstand des Echten hervorsprießt?
113. Andererseits scheinen die Menschen nicht mehr an eine glückliche Zukunft zu glauben,
sie vertrauen nicht blind auf ein besseres Morgen von der aktuellen Lage der Welt und den
technischen Fähigkeiten her. Sie werden sich der Tatsache bewusst, dass der Fortschritt der
Wissenschaft und der Technik nicht dem Fortschritt der Menschheit und der Geschichte
entspricht, und ahnen, dass die grundlegenden Wege für eine glückliche Zukunft andere
sind. Dennoch denkt man ebenso wenig daran, auf die Möglichkeiten, die die Technik bietet,
zu verzichten. Die Menschheit hat sich tiefgreifend verändert, und die Fülle an ständigen
Neuerungen heiligt eine Flüchtigkeit, die uns über die Oberfläche in eine einzige Richtung
mitreißt. Es wird schwierig für uns, innezuhalten, um die Tiefe des Lebens
wiederzu gewin nen.(...)
114. Was gerade vor sich geht, stellt uns vor die Dringlichkeit, in einer mutigen kulturellen
Revolution voranzuschreiten. Wissenschaft und Technologie sind nicht neutral, sondern
können vom Anfang bis zum Ende eines Prozesses verschiedene Absichten und
Möglichkeiten enthalten und sich auf verschiedene Weise gestalten. Niemand verlangt, in
die Zeit der Höhlenmenschen zurückzukehren, es ist aber unerlässlich, einen kleineren Gang
einzulegen, um die Wirklichkeit auf andere Weise zu betrachten, die positiven und
nachhaltigen Fortschritte zu sammeln und zugleich die Werte und die großen Ziele
wiederzugewinnen, die durch einen hemmungslosen Größenwahn vernichtet wurden
III. KRISE UND AUSWIRKUNGEN DES MODERNEN ANTHROPOZENTRISMUS
115. Der moderne Anthropozentrismus hat schließlich paradoxerweise die technische
Vernunft über die Wirklichkeit gestellt, denn ,,dieser Mensch empfindet die Natur weder als
gültige Norm, noch als lebendige Bergung. Er sieht sie voraussetzungslos, sachlich, als Raum
und Stoff für ein Werk, in das alles hineingeworfen wird, gleichgültig, was damit
geschieht."92 Auf diese Weise wird der Wert, den die Welt in sich selbst hat, gemindert.
Wenn aber der Mensch seinen wahren Platz nicht wiederentdeckt, missversteht er sich
selbst und widerspricht am Ende seiner eigenen Wirklichkeit. ,,Nicht allein die Erde ist von
Gott dem Menschen gegeben worden, dass er von ihr unter Beachtung der ursprünglichen
Zielsetzung des Gutes, das ihm geschenkt wurde, Gebrauch machen soll. Sondern der
Mensch ist sich selbst von Gott geschenkt worden; darum muss er die natürliche und
moralische Struktur, mit der er ausgestattet wurde, respektieren." (S. 49)
ßo-'fröqüß r.cLk,'i\oü.- .u\a-..
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Hu*ü"\ä"rr-K
REDE Üepn DIE wIDERSTANDSKRAFT DER VERNTINFT
Angesichts der überaus strengen Maßnahmen, die in den faschi-stischen Staaten gegenwärtig
gegen die Vernunft ergriffen wer-den, dieser ebenso methodischen wie gewalttätigen
Maßnah-men, ist es erlaubt, zufragen, ob die menschliche Vernunft diesem gewaltigen
Ansturm überhaupt wird widerstehen kön-nen. Mit so allgemein gehaltenen optimistischen
Beteuerungen wie >am Ende siegt immer die Vernunft< oder >der Geist entfal-tet sich nie
freier, als wenn ihm Gewalt angetan wird< ist hier natürlich nichts getan. Solche
Versicherungen sind selber wenig vernünftig.
Tatsächlich kann das menschliche Denkvermögen in erstaun-licher Weise beschädigt werden.
Dies gilt ftir die Vernunft der einzelnen wie der ganzer Klassen und Völker. Die Geschichte
des menschlichen Denkvermögens weist große Perioden
teil-weiser oder völliger
Unfruchtbarkeit, Beispiele erschreckender Rückbildungen und Verkümmenrngen auf. Der
Stumpfsinn kann, mit geeigneten Mitteln, in großem Umfang organisiert werden. Der Mensch
vermag nnter Umständen ebensogut zu lernen, daß zwei mal zwei fiinf, als daß es vier ist. Der
englische Philosoph Hobbes sagt schon im XVII. Jahrhundert: >Wenn der Satz, daß die
Winkel eines Dreiecks zusammen gleich zwei rechten sind, den Interessen der Geschäftsleute
widersprechen würde, so würden die Geschäftsleute sofort alle Lehrbücher der Geometrie
verbrennen lassen.<
Man muß annehmen, daß die einzelnen Völker niemals mehr an Vernunft produzieren, als sie
brauchen können (würde ein-mal mehr produziert, so wi.irde sie nicht aufgenommen),
dagegen häufig weniger. Wenn
wir also nicht einen ganz bestimmten Gebrauch ffir die
Vernunft angeben können, eine ganz be-stimmte momentane Notwendigkeit fi.ir die
Aufrechterhaltung der bestehenden Zustände, so können wir nicht behaupten, daß die
Vernunft durch die Zeitender gegenwärtigen schweren Verfolgung durchkommen wird.
Wenn ich hier sage, daß die Vernunft für die Aufrechterhaltung der bestehenden Zustände
nötig sein muß, damit man ihr einige Chancen geben kann, so ist das wohlüberlegt. Ich sage
aus guten Gründen nicht, sie müsse nötig sein
für dip Umgestaltung der bestehenden
Zustände. Nur deshalb, weil Vemunft nötig ist, die bestehenden sehr schlechten Zluslitnde zu
bessern, darf man meiner Meinung nach nämlich nicht darauf hoffen, es werde Vernunft
aufgebracht werden. Schlechte Zustitnde können unglaublich lang dauern. Man kann eher
sagen:
je schlechter die Zustände, desto weniger gibt
Zustände, desto. mehr Vernunft wird produziert.
es
Vernunft, als: je schlechter die
.
jedoch glaube ich, wie gesagt, daß soviel Vemunft produziert wird, als zur Aufrechterhaltung
der bestehenden Zustände nötig ist. Es ist also die Frage, wieviel Vernrinft das ist. Denn, noch
einmal, wenn wir fragen, wieviel Vernunft produziert werden wird in nächster Zeit, so
müssen
wir fragen, wieviel davon wird nötig sein, die bestehenden Zustände
aufrechtzuerhalten.
Es ist kaum eine Frage, daß die Ztstände in den faschistischen Ländern sehr schlecht sind.
Der Lebensstandard sinkt in ihnen, und sie brauchen samt und sonders Kriege, um sich zu
halten. Man darf aber nicht annehmen, daß ntr Aufrechterhaltung so schlechter Zustände
besonders wenig Vernunft nötig ist.
Die23 Vernunft, die hier angewendet werden muß, die
ständig produziert werden rnuß und die nicht lange abgedrosselt werden kann, ist nicht gering,
wenn sie auch von besonderer Beschaffenheit ist.
Man kann es so ausdrücken: sie muß verkrüppelt sein. Es muß eine regulierbare,jeweils mehr
oder weniger mechanisch vergrößer- oder verkleinerbare Vernunft sein. Sie muß weit und
schnell laufen können, aber zurückpfeifbar sein. Sie muß imstande sein, sich selber
zurückzupfeifen, gegen sich selber einzuschreiten, sich selber zu destruieren.
Untersuchen wir die Art der Vernunft, die hier benötigt wird.
'
Der Physiker muß imstande sein, flir den Krieg optische Apparate zu konstruieren, die eine
sehr weite Sicht gewähren, zugleich muß er imstande sein, Vorgänge für ihn gefiihrlichster
Art in seiner nächsten Nähe,
sagen
wir an seiner Universität, nicht zu sehen. Er hat
Schutzvorrichtungen zu konstruieren gegen die Angriffe fremder Nationen, aber er darf nicht
darüber nachdenken, was zu machen ist gegen die Angriffe auf ihn von seiten der eigenen
Behörden. Der Arzt in seiner Klinik sucht ein Mittel gegen den Krebs, der seinen Patienten
bedroht; aber er darf nicht das Mittel suchen gegen das Gelbkreuzgas und die Fliegerbomben,
die ihn selbst in seiner Klinik bedrohen. Denn das einzige Mittel gegen die Vergasung w?ire
ein Mittel gegen den Krieg. D=ie Kopfarbeiter müssen ihre logischen Ffiigkeiten ständig
ausbilden, um ihre Einzelgebiete bearbeitenzukönnen, aber sie müssen ftihig sein, diese
logischen Fähigkeiten nicht an Hauptgebiete heranzubringen. Sie haben zu sorgen, daß der
Krieg schrecklich wird, aber die Entscheidung Krieg oder Frieden haben sie Leuten von
offensichtlich geringer Intelligenzzuiberlassen. Auf diesen Hauptgebieten sehen sie
Methoden und Theorien am Werk, die, angewendet auf ihre Wissensgebiete wie die Physik
oder die Medizin, mittelalterlich wären.
Die Quantität der Vernunft, welche die herrschenden Schichten benötigen, um die laufenden
Geschäfte zu ftihren, h{ingt nicht von ihrem freien Beschluß ab; in einem modemen
Staatswesen ist sie beträchtlich, und sie wird beträchtlicher, wenn diese Geschäfte
mit
anderen Mitteln fortgeftihrt werden müssen, nämlich im Krieg. Der moderne Krieg
verschlingt enorrn viel Vernunft.
Die Einfiihrung der modernen Volksschule erfolgte nicht, weil die damals herrschenden
Schichten aus idealen Beweggründen der Vernunft einen Dienst erweisen wollten, sondern
weil die Intelligenz der breitesten Bevölkerungsschichten gehoben werden mußte, damit die
moderne Industrie bedient werden konnte. Würde man die Intelligenz der Werktätigen jetzt
allzu sehr herabschrauben, dann könnte die Industrie nicht aufrechterhalten werden. Man kann
sie also, so wünschbar es den herrschenden Schichten aus gewissen Gründen scheinen mag,
nicht erheblich herabschrauben. Mit
Analphabeten kann man keinen Krieg fiihren.
Hängt so die Quantität der benötigten Vemunft nicht von dem Beschluß der herrschenden
Schichten ab, so ist diese erforderte und dadurch immerhin garantierte Quantität Vernunft
auch nicht ohne weiteres in der Qualitat herzustellen, die den herrschenden Schichten
angenehm wäre.
Schon die gewaltige Ausbreitung der Vernunft durch die Einführung der Volksschulen hat
außer der Hebung der Industrie auch zu einer außerordentlichen Hebung der Ansprüche
breitester Volksmassen in jeder Hinsicht geführt; deren Herrschaftsanspruch ist dadurch fest
untermauert worden. Man kann hier einen Lefusatz aufstellen: die herrschenden Schichten
brauchen ztxn Zweckder Unterdrückung und Ausbeutung der breiten Massen so große
Quanten von Vernunft in so hoher Qualität bei diesen Massen, daß Unterdrückung und
Ausbeutung dadrnch
10 bedroht sind. Durch ki.ihle Überlegungen dieser
Art kann manzudem Schluß kommen,
daß die Attacken auf die Vernunft, welche von den faschistischen Regierungen geritten
werden, sich noch einmal als Donquichoterien erweisen werden. Sie sind gezwungen, große
Quantitäten Vernunft bestehen zu lassen, ja
15 selber auszubilden. Sie mögen die Vernunft beschimpfen, wie sie wollen. Sie mögen sie
als eine Krankheit darstellen, sie mögen den Intellekt als bestialisch denunzieren, selbst für
diese Reden benötigen sie Radioapparate, welche nur der Vernunft ihre Ent-stehung
verdanken. Sie benötig en zrr Aufrechterhaltung ihrer
o
Herrschaft ebensoviel Vernunft bei den Massen, als zur Beseiti-gung dieser
Herrschaft nötig ist.