9. Sollen universitäre und zweite Ausbildungsphase stärker

9. Sollen universitäre und zweite Ausbildungsphase
stärker vernetzt oder stärker separiert werden?
Die zweiphasige Lehrerbildung (Studium und Referendariat) wirkt der Sache
angemessen: Wissenschaft und Schulpraxis werden kombiniert und jeweils begleitet. Der Weg zum Lehramt zieht sich dadurch aber erstens stark in die Länge;
zweitens lädt die Separierung beider Ausbildungsteile es in der Praxis oft den
Lehramtskandidaten auf, beide Teile selbst zu vermitteln. Welche Gründe sprechen
für diese Trennung? Oder sollte die Trennung zwischen wissenschaftlicher Ausbildung und Schulpraxis schon im Studium aufgebrochen werden? Wie könnte
diese Vermittlung institutionell geleistet werden? Ist die Separierung der Phasen in
der Lehrerbildung überhaupt sinnvoll, und wäre nicht sogar die (Wieder-)Einführung einer einphasigen Ausbildung den Erfordernissen der Schule viel eher
angemessen?
Sollen universitäre und zweite Ausbildungsphase
stärker vernetzt oder stärker separiert werden?
Ewald Kiel
Deutschland ist neben Singapur die einzige moderne Gesellschaft, in der übergreifend für alle Schulformen die Lehramtsausbildung obligatorisch in eine universitäre Phase und ein vom Staat organisiertes Referendariat unterteilt ist. Die
Versuche einer einphasigen Lehrerausbildung (›Oldenburger Modell‹) oder auch
die einphasige Ausbildung in der DDR haben sich nicht durchsetzen können. Die
Frage der Separierung oder Vernetzung beider Ausbildungsphasen wird hier vor
der Folie dreier Forschungsfragen zum Referendariat beantwortet.1
1. Wie verhalten sich erste und zweite Phase zueinander? – ›Praxisschock‹ ist ein
gern verwendetes Wort, wenn man vom Übergang Universität – Referendariat
spricht. Übergangsprobleme sind jedoch nicht spezifisch für das Lehramt. Berufseinstiege werden fast generell als kritisches Lebensereignis betrachtet. Kiel
und Pollak kennzeichnen das Verhältnis von Universität und Referendariat als
1 Ein großer Teil der hier angesprochenen Modelle und Forschungsergebnisse findet
sich in: Ewald Kiel / Guido Pollak u. a.: Kritische Situationen im Referendariat bewältigen. Bad Heilbrunn 2011.
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Universitäre und zweite Ausbildungsphase
Kulturübergang von einer Universitätskultur in eine Bürokratiekultur. Das Neue
kann bei diesem Übergang unterschiedlich erfahren werden: 1. als feindlich; 2. als
Ergänzung des bisher erworbenen Wissens; 3. als nicht fremd, aufgrund wahrgenommener Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen; 4. als Partner in einer
komplementären Beziehung. Letzteres hieße, sich zu bemühen, das Fremde zu
verstehen, im Bewusstsein es niemals ganz verstehen zu können.
Seit das Referendariat existiert, wird gefordert, den geschilderten Kulturübergang professioneller zu gestalten. Die gemeinsame Aufgabe beider Phasen
wäre es daher, ihn einerseits nicht als feindlich erscheinen zu lassen, andererseits
aber das Fremde durchaus bewusst zu machen, denn das Referendariat verlangt
anderes als die Universität. Die zweite Phase als eine ergänzende und komplementäre zu verstehen ist wünschenswert.
2. Für welche Anforderungen werden zukünftige Lehrer ausgebildet? – Das
Verhältnis beider Phasen wird bestimmt durch die Anforderungen im Lehrberuf,
auf die sie vorbereiten sollen. Lehrerhandeln als Anforderungssituation ist 1. im
Kern die Vorbereitung, Inszenierung und Evaluation von Lernangeboten; findet
2. in Interaktionsbeziehungen zwischen nicht trivialen Maschinen statt; ist
3. deshalb geprägt durch Multidimensionalität, Simultanität, Unvorhersagbarkeit, Öffentlichkeit, Historizität; ist 4. immer ein Handeln, bei dem mehr nicht
gewusst als gewusst wird; stützt sich 5. in der Praxis nur sehr begrenzt auf in der
Wissenschaft entwickelte Wissensbestände.
Beide Phasen versuchen zukünftige Lehrpersonen auf diese Anforderungssituation des Handelns unter den Bedingungen von großer Unsicherheit vorzubereiten, die erste Phase, indem sie theoretisches und empirisches Wissen vermittelt, jedoch nur sehr begrenzt einen Einblick in die praktische Umsetzung
geben kann. Die zweite Phase konfrontiert mit realen Situationen dieser Unsicherheit und ermöglicht ein situationsbezogenes und individuelles Coaching der
zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer. Beiden Phasen gemeinsam ist auch die
Aufgabe, zu vermitteln, dass Unsicherheit keine Bedrohung, sondern eine
Chance für autonomes Handeln ist. Es gilt, nicht den Eindruck zu erwecken, als
gäbe es eindeutige, universell einsetzbare Rezepte für Erziehung und Unterricht.
3. Was wissen wir über die Eignung von Lehrern? – Schaarschmidt konstatiert,
dass sich knapp 60 % aller Lehrerinnen und Lehrer in einem Gesundheit gefährdenden Risikomuster befinden. In einer auf Erstsemester bezogenen Studie
finden sich 40 % aller Erstsemester in einem Risikomuster. Diese Zahlen legen
nahe: Lehrer brennen nicht erst im Beruf aus, sondern der Lehrberuf zieht Personen an, die Schwierigkeiten haben, mit Belastungen umzugehen. In eigenen
Untersuchungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München und in Passau
haben Kiel und Weiß an einer Stichprobe von 1.446 Lehramtsstudierenden Risikoprofile identifiziert. Ca. 25 % dieser Studierenden haben das Studium nur
aufgrund fehlender Alternativen gewählt und sind nach wie vor unsicher. Sie
betrachten das Studium in erster Linie als Notlösung, besitzen sowohl eine geMitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2012, Jg. 59, ISSN 0418-9426
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Ewald Kiel
ringere pädagogische als auch fachbezogene Motivation und haben an pädagogischen Tätigkeiten vor dem Studium keine Freude gehabt.
Als Konsequenz aus der hier nur angedeuteten Eignungsforschung ergibt sich,
den Kommilitonen vom 1. Semester bis zum 2. Staatsexamen zu ermöglichen, ihre
Motivation mehrfach zu überprüfen und Ressourcen zu aktivieren, um Probleme
bei akzeptabler Belastung lösen zu können. Solche Ressourcen sind etwa der
Aufbau sozialer Netzwerke im Beruf, die Identifikation von Stressoren, das Erlernen realistischer Zielsetzungen im Lehrberuf usw. Für diejenigen, die Ressourcen dieser Art nicht aktivieren können, muss die Möglichkeit bestehen, sie
selektiv nicht zum Lehramt zuzulassen und ihnen stattdessen neue Möglichkeiten
innerhalb oder außerhalb des Lehramtsstudiums zu eröffnen.
4. Fazit – Bei den gerade skizzierten gemeinsamen Aufgaben der Ausbildungsphasen ist sicherlich eine institutionelle Vernetzung sinnvoll, ebenso wie
eine gemeinsame Grundlage von Beratung und Coaching im Sinne klarer Anforderungsformulierungen, Eignungskriterien und diagnostischer Instrumente,
die bisher so nicht existieren.
Jedoch sind die genannten gemeinsamen Aufgaben nicht (fach-)inhaltlicher
Natur, sie beziehen sich im Wesentlichen auf Bewältigungsstrategien und den
Umgang mit Ressourcen. Studium und Referendariat müssen nicht gleiche Inhalte haben oder inhaltlich strukturiert aufeinander aufbauen – etwa indem man
an der Universität eine Form der Unterrichtsplanung lernte, die dann in der
zweiten Phase weiter entwickelt würde. Es kann eine Aufgabe der ersten Phase
sein, theoretisches Denken zu entwickeln oder Modelle anzubieten, welche den
Kommilitonen ermöglichen, sich von dem, was sie in der zweiten Phase lernen, zu
distanzieren, etwa, indem sie gegen Vorgaben argumentieren oder auch nach
einer Reflektionsphase zustimmen. Dies führt weg von der Dominanz wissenschaftlich nicht legitimierter Praktikerdidaktiken oder auch weg vom Referendariat als sogenanntem survival stage.
Eine Vernetzung auf der Basis der skizzierten gemeinsamen Aufgaben ist
sinnvoll. Jenseits dieser Aufgaben bietet jedoch auch eine Separierung Chancen!
Prof. Dr. Ewald Kiel lehrt Schulpädagogik an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik
der Ludwig-Maximilians-Universität München. Email: [email protected]
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Verzahnung statt Einphasigkeit der Lehrerbildung
Verzahnung statt Einphasigkeit der Lehrerbildung
Christian Plien
Unverzichtbare Voraussetzungen für die Planung und Gestaltung qualitativ
hochwertigen Deutschunterrichts sind eine fundierte wissenschaftliche Qualifizierung, eine didaktisch begründete Praxisorientierung sowie eine entwickelte
Persönlichkeit der Lehrkräfte. Verstärkt werden aber von Vertretern aller Bereiche der Lehrerbildung Klagen über unzureichende Voraussetzungen sowohl
der Studierenden als auch der Referendarinnen und Referendare geäußert.
Dringend notwendig ist es also, dass die Eingangsvoraussetzungen für die einzelnen Phasen im Grundsatz geklärt und definiert werden; Überlegungen und ggf.
konkrete Angebote für die Aufarbeitung vorhandener Defizite müssten damit
einhergehen. Denn ein zentrales Problem, das sich aus der derzeitigen Trennung
der Ausbildungsphasen immer wieder ergibt, ist, dass etliche Referendarinnen
und Referendare erst am Ende der zweiten Ausbildungsphase, also nach 6 1=2 bis 7
Jahren, mit der Feststellung ihrer Nichteignung für den Lehrberuf konfrontiert
werden.
Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen im Extremfall von fehlender
wissenschaftlicher bzw. fachlicher Qualifizierung bis zu pädagogischem Unvermögen. Zur Vermeidung derartiger Erfahrungen und vor allem der damit verbundenen Verschwendung von Lebenszeit ist eine frühzeitige Orientierung über
die gesamte Anforderungspalette des Lehrerberufs notwendig. Daraus ergibt sich
allerdings nicht zwingend die Forderung nach einer Zusammenlegung der Phasen, sondern eher nach einer bewussteren Gestaltung der einzelnen Elemente der
Ausbildung in Bezug auf das angestrebte Ziel. Eine Zusammenlegung der Phasen
würde zudem – insbesondere vor dem Hintergrund einer sehr wahrscheinlich
damit verbundenen weiteren Verkürzung der Gesamtzeit der Ausbildung – unweigerlich zu vermehrten Defiziten sowohl hinsichtlich der Fachlichkeit als auch
der Praxisorientierung führen. Daher sollte die Trennung von wissenschaftlicher
Ausbildung und Schulpraxis nicht grundsätzlich aufgebrochen werden.
Die primäre Aufgabe der ersten Phase besteht in der Weiterentwicklung bereits durch den schulischen Unterricht angelegter Kompetenzen hermeneutischen Verstehens und wissenschaftspropädeutischer Aneignungsverfahren sowie
der Vermittlung von Kompetenzen zur Aneignung fachwissenschaftlicher und
fachdidaktischer (Grundlagen-)Kenntnisse. Schließlich liegt die zentrale Herausforderung für Lehrkräfte in der wissenschaftlich-fachlichen Durchdringung
des Stoffes, der ausgewählten Primär- und Sekundärtexte, der Themen aus dem
Bereich des Sprachunterrichts etc. und nicht in der Wahl unterschiedlicher Methoden für die Durchführung des Unterrichts.
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Christian Plien
Die reine Wissenschaftsorientierung führt allerdings unter Umständen zu
Unklarheiten über die Bedeutung und mögliche Kohärenz der Teilelemente der
Lehrerbildung. Unverzichtbar erscheint es daher, dass die einzelnen Phasen
aufeinander verweisen. So sollten im Sinne eines transparenten Lernweges exemplarische Perspektiven auf einen Anwendungsbezug, also eine Vermittlung
beider Phasen, eröffnet werden, um dem immer noch verbreiteten Vorurteil
entgegenzuwirken, mit der zweiten Phase beginne ein völlig neuer, von der ersten
Phase unabhängiger Abschnitt der Lehrerbildung, der auf Wissenschaftlichkeit
weitgehend verzichten könne.
Der Verweis auf einen möglichen Anwendungsbezug ist dabei originärer Gegenstand didaktischer Seminare. Wichtig ist hier eine punktuelle Konkretisierung, die exemplarisch auch in einzelnen sprach- oder literaturwissenschaftlich
angelegten Seminaren erfolgen kann. Darüber hinaus sollte sie systematisch in
den Fachpraxisphasen entfaltet werden, in denen die Kohärenz der verschiedenen
Ebenen evident wird. Eine konstruktive Zusammenarbeit von Vertretern der
ersten und zweiten Phase bietet sich z. B. im Rahmen der erforderlichen Vor- und
Nachbereitung der Praktika an. Durch einen entsprechenden Austausch kann
zugleich die Aufmerksamkeit für die komplementären Belange der verschiedenen Bereiche geschärft werden.
Wünschenswert wäre darüber hinaus eine dem Studium vorgeschaltete Phase
(z. B. einer mehrmonatigen Praxisorientierung), in der angehende Lehrerinnen
und Lehrer zunächst ihre grundsätzliche Eignung zum Umgang mit Kindern und
Jugendlichen im ›Selbstversuch‹ erproben können. Die in das Studium eingebetteten Praxisphasen müssten noch stärker genutzt werden, um Studierende
nachhaltiger mit den pädagogischen Anforderungen an Unterricht zu konfrontieren und ihnen ggf. zu einem frühen Zeitpunkt des Studiums die Gelegenheit zu
eröffnen, ihre Entscheidung für den Lehrerberuf zu revidieren.
Studiendirektor Christian Plien ist Fachleiter Deutsch am Studienseminar Stadthagen
und zweiter Vorsitzender des Fachverbands Deutsch im DGV. Email: [email protected]
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