Interpretation. Robert Schneider: "Schlafes Bruder"

Evelyne Polt-Heinzl
Robert Schneider: Schlafes Bruder
Reclam
Robert Schneider: Schlafes Bruder
Von Evelyne Polt-Heinzl
Debatten über Robert Schneiders Romanerstling Schlafes Bruder setzen in der Regel
bei der Geschichte der erstaunlichen Textkarriere ein. Ende 1992, vier Monate nach
Erscheinen, meldete der Verlag bereits 40.000 verkaufte Exemplare, drei Jahre später
waren es 700.000, von denen ein guter Teil dem Start der Verfilmung durch Joseph
Vilsmaier im September 1995 zu danken war. Dass große Verlage einzelne Buchtitel –
auf Kosten des restlichen Programms – mit einer enormen Werbemaschinerie zu
Bestsellern promoten, ist üblich. Genau das war bei Schlafes Bruder aber nicht der Fall.
Der Werbeetat des kurz nach der Wende krisengeschüttelten Leipziger Reclam Verlages
war bescheiden, die Startauflage betrug 4000 Stück. Dennoch reagierte das Feuilleton
überraschend prompt und geschlossen. Rezensionen erschienen in allen großen Medien,
und ihr Tenor war überwiegend positiv.1 Dass sich der Autor dabei als medial
geschickter Marketing-Stratege erwies, war der enormen Breitenwirkung des Romans
sicher zuträglich, ist aber keine hinlängliche Erklärung für den durchschlagenden Erfolg
beim Lesepublikum und bei der Kritik. In der literaturwissenschaftlichen Debatte, die im
Umkreis der Literaturdidaktik begann,2 dominiert daher der Blick auf den Roman als
literarisches Phänomen und die Suche nach den inhaltlichen wie ästhetischen
Elementen, denen dieser Aufstieg zu einem der »biggest bestsellers in post-war
German history«3 zu danken ist.
»Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der
zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht
mehr zu schlafen.« Dieser erste Satz des Romans – in der Erstausgabe von 1992 auch
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© 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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auf dem Buchumschlag abgedruckt – enthält das Programm des Romans in Form eines
Versprechens an den Leser. Wer zu diesem Buch greift, kann sicher sein: auf den etwa
zweihundert Seiten erfährt er eine in sich abgeschlossene Lebensgeschichte, die von
einem außergewöhnlichen Schicksal berichtet und von einem allwissenden Erzähler in
beruhigender Geordnetheit dargeboten wird. Marion Kosmitsch-Lederer hat darauf
hingewiesen, dass der vorangestellte erste Satz, der die Idee der Geschichte
skizzierend zusammenfasst, andererseits überraschend modernen Ursprungs zu sein
scheint. Eine Grundregel für Drehbuchautoren lautet, vor Erstellung eines Exposés mit
wenigen Worten die Idee klar zu umreißen.4 Robert Schneider, der 1990 den
Filmdrehbuchpreis des Österreichischen Rundfunks erhalten hatte, verfügt zweifellos
über einige Erfahrung in diesem Metier. Die Aufteilung des Romantextes in gut
konsumierbare Kapitelportionen erinnert an das Strukturprinzip von TV-Serien, und das
nur eine Seite umfassende erste Kapitel erzählt in der Art eines Trailers ein erstes Mal
die Geschichte von Elias Alders unglücklicher Liebe zu seiner Cousine Elsbeth und
seinen Entschluss, nicht mehr zu schlafen, »denn wer schlafe, liebe nicht« (7)5. Der
Abschnitt schließt mit der in kumpelhafter Wir-Form gehaltenen Ankündigung: »Die
Welt dieses Menschen und den Lauf seines elenden Lebens wollen wir beschreiben.«
Schon diese erste Seite des Buches macht deutlich, dass hier »vertraute Elemente der
literarischen Praxis des 19. Jahrhunderts [Leseranrede], der literarischen Moderne
[Adaption außerliterarischer Verfahren] und der Postmoderne [Spiel mit historischen
Genres]«6 miteinander verknüpft werden.
Der zweite Abschnitt, übertitelt mit »Das letzte Kapitel« durchbricht die
angekündigte Chronologie und schildert das letzte Kapitel in der Geschichte von
Eschberg, einem abgeschiedenen Bergdorf im mittleren Vorarlberg und Lebensort des
Protagonisten. 1912, so wird berichtet, stirbt Cosmas Alder, der letzte Bewohner und
der einzige, der 1892 das dritte der Feuer, die Eschberg heimsuchten, überlebt hatte.
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Die biblische Dreizahl der Feuerkatastrophen wird im Erzählerkommentar direkt als
Ausdruck göttlichen Willens interpretiert, als Zeichen »daß Gott dort den Menschen nie
gewollt hatte« (8). Nach dieser Ausweitung des chronologischen Gefüges über Elias’
Tod hinaus, bettet der dritte Abschnitt das Einzelschicksal in die Dorfgeschichte ein.
Vorgestellt wird die Einwohnerschaft von Eschberg, die aus den Familien der Lamparter
und der Alder besteht. Über Jahrhunderte miteinander durch Inzucht verbunden,
werden sie als nachgerade dämonische Ansammlung von körperlichen wie geistigen
Krüppeln beschrieben, stumpf, stur und von herausragender charakterlicher Rohheit
und Primitivität. Über die Eschberger Bauern, so der Erzähler, gäbe es nichts zu sagen,
wäre nicht aus ihrer Mitte Anfang des 19. Jahrhunderts ein Kind namens Johannes Elias
hervorgegangen, dessen geniale Musikalität sich »in dieser musiknotständigen Gegend«
zwar nicht entfalten konnte, dessen »bestürzendes Schicksal« (11) der Erzähler aber
darstellen will, als Memento für all die »prachtvollen Menschen« (12), die an einer
verständnislosen und rohen Umwelt gescheitert sind.
Mit der Geburt des Johannes Elias am Johannistag (der 24. Juni) 1803 beginnt im
Abschnitt vier die eigentliche Lebensgeschichte eines Genies in einem von Gott
verlassenen Dorf, entwickelt »auf der Folie des Hiob-Mythos als Geschichte einer
Prädestination«7. Schon der Schilderung von Elias’ Geburt ist das Signum der
Besonderheit ebenso wie die sein Leben prägende Ignoranz seiner Umwelt
eingeschrieben. In Gedanken nur mit ihren Eheplänen beschäftigt, entdeckt die
Hebamme eher durch Zufall unter dem »blutbeklatschten Linnen« (16) das bereits
geborene Kind mit gerissener Nabelschnur. Erst durch die Musik – die Hebamme
stimmt das »Tedeum« an – wird das Neugeborene zum Leben erweckt. Bei der Taufe
zeigt sich seine – vom Erzähler so interpretierte – göttliche Auserwähltheit dann
endgültig: Elias hat gleichsam die gläserne Stimme Oskar Matzeraths aus Günter Grass’
Blechtrommel geerbt. Klar wird bei der Schilderung der Taufe auch, dass der leibliche
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Vater des kleinen Elias der Kurat Benzer ist. In einer launigen Anekdote im Stil einer
Kalendergeschichte schiebt der Autor die Beschreibung des Kuraten ein, der seinen
flammenden Predigten mitunter mit technischen Hilfsmitteln wie Pulverfässchen
Nachdruck zu verleihen pflegt. Drei Tage nach der Taufe verunglückt er beim Sturz von
einem Plateau, das »Petrifels« genannt wird und als Ort des Bösen Elias’ Kontrastfigur
Peter zugeordnet ist.
Elias’ Mutter, wie im patriarchalischen Eschberg üblich nach dem Vornamen ihres
Mannes »Seffin« genannt, lehnt ihr »verwunschenes« Kind ab. Dem Stiefvater Seff
Alder wird es aufgrund seiner für die Eschberger Bauern typischen Sprachlosigkeit nie
gelingen, dem Sohn seine Zuneigung zu vermitteln. So wächst der kleine Elias
weitgehend unbeachtet in seinem »Bubengaden« heran, bis sich im Alter von fünf
Jahren im so genannten Hörwunder die Initiation zum Künstler ereignet. Auf dem
leitmotivisch eingesetzten »wasserverschliffenen Stein« am Bachlauf der Emmer
liegend, vermag er in einer Art ekstatischen Anfall (mit epileptischen Zügen) das
gesamte Universum zu hören. Begleitet ist diese passive Initiation zum Musikgenie von
physischen Veränderungen – sein Körper pubertiert, die Stimme mutiert zu einem
angenehmen Bass und seine grünen Pupillen werden gelb wie »Kuhseiche«, was zum
Stereotyp der Figurenbeschreibung wird. Von nun an eignet Elias nicht nur das absolute
musikalische Gehör, sondern auch seine Liebe zur noch ungeborenen Cousine Elsbeth,
deren Herzschlag er während seines Anfalls vernommen hat. Beim ersten Feuer, das
Eschberg während der Christmette 1815 verwüstet, wird er der kleinen Elsbeth das
Leben retten, weil er ihre ängstlichen Herztöne rechtzeitig als Hilferuf vernimmt.
Die körperliche Gezeichnetheit prädestiniert Elias zum Außenseiter. Sein einziger
Freund wird Elsbeths Bruder Peter, mit Elias durch den gemeinsamen Taufakt von
Geburt an verbunden und als Figur am stärksten psychologisch ausgedeutet. Peters
sadistischer, bösartiger Charakter – er ist auch der Brandstifter des ersten Feuers –
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wird erklärt mit dem Leiden an einem sinnlos brutalen Vater, der ihn zum Krüppel
schlägt. Peters homoerotische Neigung zu Elias wird unerfüllt bleiben. Elias betritt die
Bühne des Dorfes nach dem schwankhaft erzählten Todessturz des Eschberger
Blasbalgtreters als dessen Nachfolger. Bald schon beginnt er – mit Peters Hilfe –
heimlich des Nachts die Orgel selbst zu spielen. Als Originalgenie vermag er spontan
alles nachzuspielen und ist bald ein Meister der Variation und des freien Phantasierens.
Nach dem Tod des Eschberger Organisten kann Elias schließlich dessen Amt
übernehmen. Als die herangewachsene Elsbeth, der Elias sich nie zu offenbaren
vermag, von einem anderen Mann schwanger wird, verliert Elias seinen Glauben an die
göttliche Vorherbestimmtheit seines Lebens. In einer nächtlichen Kirchenszene sagt er
sich von Gott los, der sich ihm in Gestalt eines nabellosen Kindes zeigt. Nun ist er von
seiner schicksalhaften Liebe zu Elsbeth »befreit« und erhält in diesem Moment seine
natürliche Augenfarbe zurück.
Innerlich durch die »Befreiung« von der Liebe zu Elsbeth verarmt, strebt sein
äußerliches Leben seinem Höhepunkt zu. Als der Feldberger Cantor Goller, der
sämtliche Orgeln des Landes registrieren will, auch nach Eschberg kommt, entdeckt er
Elias’ Talent und lädt ihn zum Orgelwettbewerb nach Feldberg. Dort zieht das Orgelspiel
des barfüßigen, des Notenlesens unkundigen Naturtalents alle Zuhörer hypnotisch in
seinen Bann.8 Er phantasiert zwei Stunden über den Choral »Kömm, o Tod, du Schlafes
Bruder« und wird unangefochtener Sieger des Wettbewerbs. Doch Elias entzieht sich
den angekündigten Ehrungen und kehrt heimlich nach Eschberg zurück. Am
wasserverschliffenen Stein will er dem Schlaf entsagen, denn wer schläft, liebt nicht,
und er will seine hoffnungslos gewordene Liebe zu Elsbeth in sich wiederfinden. Sieben
Tage hält er sich mit pflanzlichen Rauschmitteln wach, betreut von seinem
verzweifelten Freund Peter, der nach dem Tod des »Märtyrers« (194) geläutert alle
Bösartigkeit verliert. Ein wiederum an Filmdramaturgie erinnernder Nachspann führt
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