Besonderheit: suchtkrank, weiblich, traumatisiert, dissoziativ Dr. Wibke Voigt Fachklinik Kamillushaus Essen Fachtagung LSSH e.V., 09.12.2015 Interpersonelle Gewalt Violence against women: an EU-wide survey (N=42.000) Gewalterlebnisse ab dem 15.Lebensjahr: • 11% erlitten sexuelle Gewalt • 31% erlitten körperliche Gewalt European Union Agency for Fundamental Rights 2014 [email protected] World Mental Health Survey WHO • „Familiäre Dysfunktion (v.a. Gewalt, Vernachlässigung) ist stärkster Prädiktor für psychische Störungen • Und zwar für alle Diagnosen: Depression, Angststörung, Suchterkrankungen, PTBS... • Etwa ein Drittel (29,8%) aller psychischen Erkrankungen stehen damit in Verbindung • Die Stärke der Zusammenhänge steigt mit der Anzahl der Belastungen Kessler et al. 2010 [email protected] „Es steht mittlerweile außer Frage, dass Missbrauch bzw. Abhängigkeit von psychotropen Substanzen zu den wichtigsten Folgestörungen nach Traumatisierungen gehören.“ Dr.med. Luise Reddemann Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychchologische Medizin 2005 Heft 3 Sucht und Trauma • „Die Lebensgeschichten von Menschen mit Suchterkrankungen sind häufig durch Traumatisierungen im Kindesalter wie sexuellen Missbrauch, körperliche und emotionale Misshandlung geprägt und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen sind auch in späteren Lebensabschnitten weitaus häufiger als die Allgemeinbevölkerung traumatischen Erfahrungen ausgesetzt.“ Reddemann 2005 [email protected] Sucht und Trauma • „Es ist an der Zeit, dass sowohl Psychotraumatologen lernen, auf Suchterkrankungen bei ihrer Klientel zu achten und Suchttherapeuten umgekehrt mehr nach Traumafolgestörungen bei ihren PatientInnen forschen und daraus angemessene Behandlungskonzepte ableiten.“ Reddemann 2005 [email protected] Alkoholabhängige Menschen: wie hoch ist die Traumatisierungsrate in der Kindheit? • Miller et al. 1993: - 44% der alkoholabhängigen Frauen wurden sex. missbraucht versus 27% der psychiatrisch behandelten Frauen versus 9% Frauen in der Normalbevölkerung [email protected] Neurobiologie des Traumaverarbeitung Normales Gedächtnis • • • • • • • Kontrolle vorhanden Anfang und Ende Weitgehend vollständig Zeitliche Einordnung möglich Mit Sprache verbunden, also erzählbar Gefühle sind verarbeitet Mit Bildern [email protected] Traumagedächtnis • • • • • • • Keine Kontrolle, also unkontrolliert Kein Ende, also endlos und ewig Unvollständig, splitterhaft Oft zeitliche Einordnung nicht möglich Bilder fehlen oder nur teilweise sprachlos Gefühle von Todesangst, Ohnmacht und Hilflosigkeit unverändert stark [email protected] „Der sprachlose Terror“ Kapfhammer 2001 „Ich habe keine Angst davor zu sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.“ Woody Allen [email protected] Wie arbeitet das Gehirn/ der Verstand im täglichen Leben und bei Bedrohung ? • Die Evolution hat „emotional – arbeitende Systeme“ (emotional operating systems) erschaffen (Panksepp,1998): psychobiologische Systeme, die nur eine begrenzte Flexibilität bei Reaktionen haben • Alltägliches Funktionieren: Essen, Trinken, Bindung(Kind Eltern, Eltern Kind), Fortpflanzung, Spielen, soziale Rangordnung, genauso wie Angst,Wut etc. • Funktionieren bei Bedrohung: Verteidigung (Fanselow&Lester,1998) [email protected] Emotional-arbeitende Systeme umfassen spezifische Gehirnbereiche, die in neuronalen Netzwerken organisiert sind. Sie unterliegen spezifischen neuroendokrinen Kontrollen Hauptaufgabe dieser Systeme ist, in der Welt Verhaltensmuster und mentale Prozesse durchzuführen: somit sind sie Aktionssysteme. Ellert Nijenhuis Aktionssysteme • Emotionale Operationssysteme sind • Selbst-organisierend • Selbst-stabilisierend (in den Begrenzungen durch Zeit und Homöostase) • Epigenetisch • Der jeweiligen Entwicklungsphase angepasst verfügbar • Offen für klassische Konditionierung [email protected] Theorie der Strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 Normale Integrative Entwicklung Überleben der Art Überleben des Individuums Essen Trinken Spielen Bindung Flucht Kampf Unterwerfung Suchen Fortpflanzung Erstarrung Kampf FortEssen pflanzung Unterwerfung Spielen Suchen Bindung Trinken Flucht Einfrieren Einfrieren Theorie der Strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 Beinträchtigung durch Traumatisierung während des integrativen Entwicklungsprozesses ANP Essen Trinken Spielen Bindung EP Flucht Erstarrung Suchen Fortpflanzung Einfrieren Unterwerfung Bindung an Täter Bindung an Pflegeperson Spielen Bindung Kampf Kampf: Gegen sich selbst Erstarrung Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil • Vermittelt durch Aktionssysteme für das Überleben der Art, d.h. Anpassung an das Alltagsleben und dient der Reproduktion • Vermeidet traumatische Erinnerungen und damit assoziierte EP‘s • Rückzug aus dem Bewusstseinsbereich, aber bewusster als EP • Gewöhnlich höherer Bewusstseinsgrad als EP, aber niedriger als bei Gesunden [email protected] Emotionaler Persönlichkeitsanteil • Vermittelt durch Aktionssysteme für das Überleben des Individuums in Situationen mit großer körperlicher Bedrohung, einschließlich Lebensbedrohung • Fixiert auf traumatische Ereignisse • Starke Reaktion auf klassische, kontextuelle und evaluative Konditionierung • Desorientiert in Ort, Zeit und Identität • Rückzug aus dem Bewusstsein • Kann einen niedrigen Grad an Bewusstsein einschließen [email protected] Theorie der Strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 Primäre Strukturelle Dissoziation 1 ANP=Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil 1 EP=Emotionaler Persönlichkeitsanteil EP (Erstarrung) Aktionssysteme für die Verteidigung vor massiver FortBindung Bedrohung und pflanzung Überleben des ANP: Aktionssysteme Individuums für die Alltagsfunktionen und für das Überleben der Art Suchen Spielen Essen Trinken Der Durchschnitt bezeichnet den gemeinsamen Zugang zu impliziter und expliziter Erinnerung Diagnostische Kategorien bei der strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2005 1. Einfache posttraumatische dissoziative Störung • Primäre strukturelle Dissoziation (einfache ANP/einfache EP) • Akute Stress-Störung • einfache Posttraumatische Stress-Störung • Einfache somatoforme dissoziative Störung • Dissoziative Amnesie [email protected] Primäre Dissoziation I Angesichts einer überwältigenden Bedrohung werden sensorische und emotionale Elemente des Ereignisses nicht in das persönliche Gedächtnis und Identitätsgefühl integriert und bleiben vom gewöhnlichen Bewusstsein isoliert; die Erfahrung wird in ihre isolierten somatosensorischen Elemente aufgespalten, ohne Integration in eine persönliche verbale Schilderung. • Bessel van der Kolk, Traumatic stress [email protected] Primäre Dissoziation II Diese Fragmentierung geht mit Ich-Zuständen einher, die sich vom normalen Bewusstseinszustand deutlich unterscheiden (van der Kolk & Fisler 1995). Dieser Zustand „primärer Dissoziation“ ist charakteristisch für die PTBS, deren dramatischste Symptome Ausdruck traumatischer Erinnerungen sind – stark verstörende intrusive Erinnerungen, Alpträume und Flashbacks. Bessel van der Kolk, Traumatic stress [email protected] Diagnostische Kategorien bei der strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2005 1. Komplexe posttraumatische diss. Störung • Sekundäre strukturelle Dissoziation (einfache ANP/2 oder mehr EP) • Komplexe Posttraumatische Störung • Störungen durch extremen Stress (DESNOS) • Traumabezogene Borderline-PS • Komplexe somatoforme dissoziative Störungen • Dissoziative Amnesie • Nicht näher bestimmte diss. Störung (DDNOS) [email protected] Sekundäre strukturelle Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 prätraumatische Persönlichkeit emotionale Persönlichkeit (EP) EP 1 z.B. Flucht EP 2 z.B. Erstarrung anscheinend normale Persönlichkeit (ANP) EP 3 z.B. Kampf [email protected] Diagnostische Kategorien bei der strukturellen Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2005 1. Komplexe posttraumatische dissoziative Störung • Tertiäre strukturelle Dissoziation (2 oder mehr ANP/2 oder mehr EP) • Dissoziative Identitätsstörung [email protected] Tertiäre strukturelle Dissoziation E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 • Tritt dann auf, wenn unausweichliche Aspekte des Alltagslebens eine assoziative Verbindung mit dem zurückliegenden Trauma gewonnen haben.Das ist etwa der Fall, wenn durch Generalisierungslernen (im Alltagsleben) konditionierte Reiz entstanden sind, die ihrerseits traumatische Erinnerungen reaktivieren können. [email protected] Tertiäre strukturelle Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2005 • Andererseits kann die Funktionsbewältigung der ANP extrem schlecht sein, sodass bereits das normale Leben selbst überwältigend ist und neue ANP geschaffen werden.Darüber hinaus kann auch die Dissoziation bei der ANP zu einer Reaktion auf Alltagsstressoren und somit Teil des Lebens werden. Tertiäre strukturelle Dissoziation schließt die Fragmentierung der ANP zusätzlich zur EP ein und liegt ausschließlich bei Patienten mit einer Dissoziativen Identitätsstörung DIS vor. [email protected] Tertiäre strukturelle Dissoziation nach E.R.S.Nijenhuis, O.Van der Hart, K.Steele 2004 prätraumatische Persönlichkeit anscheinend normale Persönlichkeit ANP ANP-1 Fürsorge/ Mutter ANP-2 Erkundung/ Arbeiter ANP-3 Umgänglichkeit/ Geselligkeit emotionale Persönlichkeit EP ANP-4 Sexualität/ Ehefrau [email protected] EP-1 Flucht EP-2 Erstarrung EP-3 Kampf DIS und Krankheitskosten • „In unserer Medicaid Untersuchungsgruppe hatte eine kleine Gruppe mit der Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung – einer Diagnose, die mit schwerer und langer interpersoneller Kindheitstraumatisierung assoziiert ist – die bei weitem höchste Rate an verschiedenen psychiatrischen Diagnosen, was sie zur teuersten Diagnose in Massachusetts in der Zeit 1997/8 machte.“ Bessel van der Kolk, 1999 [email protected] Ich danke Für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected]
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