Das System der Spezialheime im mitteleuropäischen Kontext

Das System der Spezialheime im mitteleuropäischen Kontext
von Christian Sachse
Christian Sachse erweitert erstmals in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung den Blick
auf das DDR-Heimsystem um den Kontext des mitteleuropäischen Vergleichs. Dabei bezieht
er sich vorrangig auf Aufsätze aus dem Jahr 1976. Erschienen sind diese in der
Veröffentlichung „Beiträge zur Heimerziehung sozialistischer Länder. Teil 1: Sowjetunion,
Volksrepublik Polen. Teil 2: Tschechoslowakische Sozialistische Volksrepublik, Ungarische
Volksrepublik, Volksrepublik Bulgarien.“ Herausgeber ist das Institut für Jugendhilfe in
Ludwigsfelde. Die Auswertung dieser Beiträge erlaubt einen ersten Eindruck über die
Strukturen und womöglich Besonderheiten anderer Staaten des sowjetischen
Machtbereichs. Die Beiträge geben sicherlich nicht eine ungefilterte Bestandsaufnahme
wieder. Teilweise, so der Autor, wiedersprächen sich die Texte inhaltlich sogar, so dass man
von einer nachträglichen Überarbeitung ausgehen müsse.
Ein paar Hinweise auf unterschiedliche Wege der sozialistischen Heimerziehung erlaubt
diese Publikation jedoch und so kann sie ein erster Zugang zu einem ansonsten schwer
zugänglichen Thema sein. Der Autor weist darauf hin, dass aufgrund der politischen
Situation in Russland mögliche Gesprächspartner von einer Zusammenarbeit in diesem
Bereich vorerst absähen.
Das Heimsystem der DDR erweitert um einen Blick des mittelosteuropäischen Kontextes ist
deshalb gewinnbringend, weil er bereits vorhandenes Wissen neu bewerten kann. Zum
Beispiel macht Sachse darauf aufmerksam, dass der Makarenko-Rezeption in den anderen
5 Ländern, die in die Publikation aufgenommen wurden, im Vergleich zur DDR anscheinend
keine derart große Bedeutung zukam, wie in der DDR. Beispielsweise wird in einem Beitrag
zur Heimerziehung in der Sowjetunion ausdrücklich Bezug auf N.K. Krupskaja, die
Lebensgefährtin Lenins, und A.W. Lunitscharski, den ersten Volkskommissar für das
Bildungswesen genommen. Beide, so Sachse, wären ausgesprochene Kritiker Makarenkos
gewesen.
Obwohl die zitierten Aufsätze versuchen die Unterschiede zwischen den einzelnen
sozialistischen Ländern nicht zu betonen und eher die Gemeinsamkeiten in der
Heimerziehung in den Vordergrund stellen, werden dennoch länderspezifische
Schwerpunkte in der Umsetzung und Strukturierung der Heimerziehung deutlich. Diese
Unterschiede seien, so Sachse, auf die Traditionen der jeweiligen Länder zurückzuführen. In
Polen und Ungarn gab es beispielsweise vor dem 2. Weltkrieg reformpädagogische
Bestrebungen in Form von z.B. Kinderdörfern. Diese Einrichtungen werden teilweise in der
ausgewerteten Publikation benannt, inwieweit sie unter dem Einfluss der Sowjetunion in den
1940er Jahren noch existierten, konnte nicht beantwortet werden. Dennoch könne, so
Sachse, in keinem der Länder von einer eins-zu-eins Umsetzung der sowjetischen Vorgaben
in Inhalt und Struktur der Heimerziehung die Rede sein.
In Polen gab es beispielsweise Tagesinternate, in denen Kinder und Jugendliche bei
deliktischen Handlungen oder anderen Auffälligkeiten eingewiesen werden konnten. Die
Kinder sollten dadurch nicht isoliert und den Familien sollte der Einfluss auf die Erziehung
ermöglicht werden.
Der Autor weist daraufhin, dass im Gegensatz zur DDR man die Kollektiverziehung in
einigen anderen sozialistischen Ländern nicht als die bedeutungsvollste Erziehungsform und
Erziehungsmethode für die Heimerziehung betrachtete. In der Tschechoslowakei
beispielsweise wurden die Einrichtungen unterschieden in Heime mit familienähnlichem
Charakter und klassischen Internatseinrichtungen. Hier sollte die Unterbringung bei
Adoptivfamilien und Pflegefamilien bevorzugt erfolgen. Erst wenn die Kinder nicht in anderen
Familien aufgenommen werden können, sollte eine Heimunterbringung erfolgen. Sachse
weist daraufhin, dass hier die durch die DDR-Aufarbeitung bekannte „Zwangsadoption“ eine
größere Rolle gespielt haben mag.
Was die Einweisungspraxis in der DDR betrifft, so müsse die Expertise Laudien/Sachse in
diesem Punkt vielleicht differenziert werden. Wurde in der Expertise noch behauptet, dass
die Einweisungspraxis in der DDR eine Besonderheit im Vergleich zu den anderen
sozialistischen Ländern darstellte, da in keinem anderen der sozialistischen Länder die
Einweisung über Jugendhilfeausschüsse und damit über Laiengremien erfolgte, so gibt es
bei den von Sachse ausgewerteten Materialien Hinweise darauf, dass die Einweisung in
Heime in den anderen sozialistischen Ländern zwar über Gerichte erfolgte, diese jedoch
außerhalb der Justiz lagen und eher vergleichbar mit den Schiedsstellen des Sowjetischen
Gebietes waren.
Eine Gliederung des Heimsystems in Normalheime und Spezialheime, wie sie in der DDR
praktiziert wurde, fände sich, so Sachse, in der Form in den Berichten nicht wieder. Dafür
gäbe es Anhaltspunkte auf andere Formen von Umerziehungseinrichtungen. Zum Beispiel
gab es den Berichten zufolge in Polen „Sommerlager für straffällige Jugendliche“ und „Heime
für verhaltensgestörte, für schwererziehbare Kinder und Jugendliche, die nicht zugleich
strafrechtlich in Erscheinung getreten sind“. Auch gäbe es im polnischen Helenòw eine
Einrichtung, die vergleichbar dem der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch
psychologische Therapie in der DDR wäre.1
Auch in der Tschechoslowakischen Republik gab es neben den eher familienähnlichen
kleineren Heimen anscheinend Heime zur Umerziehung, die eher altershomogen und
geschlechtsspezifisch getrennt waren und es gab sogenannte „diagnostische Kinderheime“.2
Sachse vergleicht diese mit dem Aufnahme- und Beobachtungsheim in Eilenburg, das
jedoch in der DDR nicht weitergeführt wurde.
In Ungarn wurden die erziehungsschwierigen Kinder nach ersten Erkenntnissen nicht in
besondere Einrichtungen eingewiesen, sondern wie es scheint wurde ein Teil der
Erziehungsheime für diese Kinder genutzt. Parallel zur DDR gab es in Ungarn in den 1940er
Jahren ähnlich der DDR noch 3 Kinderrepubliken bzw. Kinderdörfer (Gabor Sztehlo,
Gaudiopolis und Tildy Zoltannè (Girls` Town Pilis)3.
In der sozialistischen Republik Bulgarien gab es Einrichtungen, die denen der
Normalkinderheime ähneln und sogenannte „Arbeitserziehungsschulen“, die geschlossene
Einrichtungen waren. Sie ähnelten, laut den Berichten der DDR-Autoren, den
Spezialkinderheimen der DDR. Sachse meint, sie hätten wahrscheinlich beide Konzepte –
1
Vgl. Gerhard, Lubinski: Schulpolitik und Jugendfürsorge in der Volksrepublik Polen. In: Beiträge zur
Heimerziehung sozialistischer Länder. Teil 1: Einführung, Sowjetunion, Volksrepublik Polen. Hrsg.: Institut für
Jugendhilfe, Ludwigsfelde 1976, S.50, 60.
2
Vgl. Sulz, Antonin; Buskova, Marie: Aufgaben, Struktur und arbeitsweise der diagnostischen Kinderheime in
der CSSR. In: Beiträge zur Heimerziehung sozialistischer Länder. Teil 2: Tschechoslowakische Sozialistische
Republik, Ungarische Volksrepublik, Volksrepublik Bulgarien. Hrsg.: Institut für Jugendhilfe, Ludwigsfelde 1976,
S. 18-24.
3
Vgl. Sachse, Christian: Das System der Spezialheime im mittelosteuropäischen Kontext, S. 13.
die des Spezialkinderheims und des Jugendwerkhofs- vereint. Die Besonderheit dieser
Einrichtung ist, dass sie auch Angehörige von Minderheiten aufnahmen, um, so vermutet
Sachse, damit womöglich die Schulpflicht in Bulgarien durchzusetzen. Dies wurde
nachweislich in den 1960er praktiziert. Inwieweit hierbei die Heimeinrichtungen und die
Einweisungspraxis eine Rolle gespielt haben, wäre noch zu untersuchen.
In der Sowjetunion spielte der Begriff der „Kolonien“ eine wichtige Bedeutung. Es gab
Arbeitskolonien auch für Kinder- und Jugendliche, die nach dem 2.Weltkrieg elternlos im
Land umherzogen (bekannt unter dem Begriff der „Wolfskinder“). Im Jahr 1947 waren das
immerhin 58 Arbeitskolonien nur für obdachlose Minderjährige und 60 weitere
Arbeitskolonien für verurteilte Jugendliche. Ca. 49.000 Jugendliche waren laut Boeckh in
solchen Einrichtungen.4 Sachse zieht hier Parallelen zu den früheren Jugendwerkhöfen der
DDR, da von den Insassen vorwiegend handwerkliche Berufe erlernt werden sollten.
In Bezug auf die Strukturen der Heimerziehung macht der Autor darauf aufmerksam, dass es
in der Sowjetunion keine Jugendhilfe in der Form eines abgeschlossenen Ressorts gab. Es
gab Aufgaben, die von der „Kindermiliz“ durchgeführt wurden oder von Kommissionen z.B. in
den Kommunen. Die Heimeinrichtungen an sich wurden, wie auch in den anderen
sozialistischen Ländern, von der Volksbildung betreut.
Im zweiten Teil seines Aufsatzes versucht Sachse eine Rekonstruktion der Etablierung der
Spezialheime auf dem Gebiet der DDR. Er untersucht dabei die schon vorhandenen
Traditionen aus der Weimarer Zeit (z.B. die Landerziehungsheime) und zeigt anhand von
Dokumenten, dass die Initiative für die Etablierung von Spezialheimen aus Sachsen kam.
Wie sich die Spezialheime in den Jahren in ihrer Charakterisierung und Zuordnung verändert
haben, zeigt wird abschließend erläutert.
4
Vgl. Boeckh, Katrin: Stalinismus in der Ukraine. Die Rekonstruktion des sowjetischen Systems nach dem
Zweiten Weltkrieg. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2007, S. 472.