Dr. Ellert R.S. Nijenhuis Trauma-Fachtagung Clienia Littenheid, Traumafolgen und strukturelle Dissoziation in Psychiatrie und Gesellschaft Frauenfeld 22.10.2015 © Nijenhuis 2015 3 Geist Stoff Subjekt Objekt (Welt) Innen Aussen Wahrnehmung Realität Representation Ereignis Response / Reaktion Stimulus (Reiz) Informationsverarbeitung Information Phenomenologie Neurologie Pathologie Traumatisches Ereignis © Nijenhuis 2015 4 Es existieren zwei Substanzen: Materie (das was ausgedehnt ist) Geist (das was denkt) Philosophisches Dualism © Nijenhuis, 2014 5 Ewige Naturgesetze Die Welt als Mechanismus Der Mensch als komplexe Machine © Nijenhuis 2015 6 Wenn Geist und Materie unterschiedliche Substanzen sind, wie können sie einander hervorbringen oder beeinflüssen? © Nijenhuis, 2014 7 Eine Substanz kann von einer andern Substanz nicht hervorgebracht werden. © Nijenhuis 2014 8 Spinoza sagte, daß … alles, was von dem unendlichen Verstand als das Wesen der Substanz ausmachend erfaßt werden kann, daß dies alles nur zu Einer Substanz gehört und daß folglich die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz eine und dieselbe Substanz ist, welche bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird. ◦ Spinoza, 1677, Teil 2, 7. Lehrsatz © Nijenhuis 2014 9 Das Verlangen und die Begierden sind primär Begierde ist des Menschen Wesen selbst, sofern es als durch irgendeine gegebene Erregung desselben zu einer Tätigkeit bestimmt begriffen wird. Spinoza, Ethik (1677) © Nijenhuis 2015 10 “Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: Dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen” ◦ Die Welt als Wille und Vorstellung I §22, S. 156 ◦ Daher beruhe der Wille nicht auf einer Kraft, sondern die Kraft auf dem Willen! © Nijenhuis 2015 11 Nicht inert (unbeweglich), aber dynamisch, immer in Bewegung Heraclitus (ung. 520-480): Panta rhei © Nijenhuis 2015 12 Die Menschen können sich in ihrer Natur voneinander unterscheiden insofern sie von leidenschaftlichen Gefühlen zerrissen werden; in diesem Sinne ist ein und derselbe Mensch veränderlich und unbeständig Spinoza, 1677 © Nijenhuis 2015 13 © Nijenhuis 2015 14 © Nijenhuis 2015 15 © Nijenhuis 2015 16 © Nijenhuis 2015 17 © Nijenhuis 2015 18 © Nijenhuis 2015 19 © Nijenhuis 2015 20 © Nijenhuis 2015 21 © Nijenhuis 2015 22 © Nijenhuis 2015 23 © Nijenhuis 2015 24 Menschliche Individuen verarbeiten keine “Daten” (Information), denn die Welt ist nicht technisch kontruiert und nicht statisch. Individuen müssen dem Leben die Bedeutung erst geben. Dieses Bedeutung-Geben ist dynamisch und bedarf ständiger Aktivität des Subjekts © Nijenhuis 2015 25 Varela, Thompson, & Rosch (1993) “betonen die zunehmende Überzeugung, dass Erkennen (cognition) nicht die Repräsentation einer vorausgesetzen Welt durch einen vorgegebenen Geist (mind) sei, sondern vielmehr das enactment einer Welt und eines Geistes auf der Grundlage der verschiedenen vorangegangenen Handlungen, die ein Wesen in der Welt ausführt.” © Nijenhuis 2015 26 Enaktivismus ist die Anschauung, dass Bewusstsein und Erkenntnis Phänomene sind, welche erst durch unsere wiederkehrenden Muster weltzugewandter Wahrnehmung und lokomotorischer Bewegung zustande kommen. Fuchs & DeJaeger, 2010; Krueger, 2010; Thompson, 2007; Varela, Thompson, & Rosch, 1993. © Nijenhuis 2015 27 Järvilehto (2006): [s]ubjectivity … is not an “inner” property of the organism, but rather a point of view, a perspective, or a description of the asymmetry of the organism-environment system in action. ... in this framework the subject-object dichotomy, for example, is abolished, because the subject and the object are aspects of the same system. The subject “is the system in action, and the object is the result of this action.” © Nijenhuis 2015 28 Lebende Wesen versuchen immer, aus der Welt, wie sie sie vorfinden, Sinn zu stiften. Geleitet vom überragenden Selbstinteresse des Überlebens müssen und werden sie immer Sinn stiften, Bedeutung finden © Nijenhuis 2015 29 Does it make sense or not? That’s the question! © Nijenhuis 2015 30 © Nijenhuis 2015 31 Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper oder eine gewisse Daseinsform der Ausdehnung, die in Wirklichkeit existiert, und nichts andres. Spinoza, Ethik, 1677, Teil II, 13. Lehrsatz © Nijenhuis 2015 32 Der menschliche Geist erkennt den (eigenen) menschlichen Körper und weiß, dass er existiert nur durch die Ideen der Erregungen, womit der Körper erregt wird. Spinoza, Ethik, 1677, Teil II, 19. Lehrsatz © Nijenhuis 2015 33 “Ich” spüre, “Ich” fühle = phänomenale Erfahrung Erste-Persons-Perspektive (1PP) “Ich spüre mich”: phänomenale Beziehung und phänomenales Urteil quasi-Zweite-Persons-Perspektive (q2PP) © Nijenhuis 2015 34 © Nijenhuis 2015 35 © Nijenhuis 2015 36 Ich erfasse “ein Ding”: physikalische Beziehung und physisch-sinnliches Urteil Wurzel der Dritte-Persons-Perspektive (3PP) © Nijenhuis 2015 37 © Nijenhuis 2015 38 “Ich” – “Du”: phänomenale Beziehung und phänomenales Urteil Zweite-Persons-Perspektive (2PP) © Nijenhuis 2015 39 © Nijenhuis 2015 40 © Nijenhuis 2015 41 © Nijenhuis 2015 42 © Nijenhuis 2015 43 Wenn menschliche Individuen miteinander interagieren, so generieren sie handelnd eine sinnhaltige Welt, sie “enacten” ihre Welt und ihre Bedeutung. Sie stiften gemeinsam Sinn, indem sie ihre Erfahrungen, Bewegungen und Affekte koordinieren. Sie können sich z.B. aufeinander einstimmen und häufig Misstimmungen auf diese Art ausräumen und heilen. z.B. nachahmen und einander Resonanz geben, rhythmischer Kovariation von Gesten, Mimik oder Stimmführung, Tönung oder Blickrichtung nonverbal auf einander beziehen (Fuchs & DeJaeger, 2010; Merleau-Ponty, 1945). Indem sie sich narrativ, affektiv und sensomotorisch abwechselnd synchron koordinieren und die Synchronie dann wieder verlassen, schaffen sie gemeinsam meaning, stiften sie gemeinsam Sinn. © Nijenhuis 2015 44 © Nijenhuis 2015 45 © Nijenhuis 2015 46 betäubt depersonalisiert untererregt Verlangen im Alltag zu funktionieren Hier, jetzt, Ich, Du, Welt Re-enactment von traumatischen Ereignissen, Verlangen sich zu schützen Intrusion Hier, jetzt, Ich, Du, Welt © Nijenhuis 2015 47 © Nijenhuis 2015 48 anscheinend Normaler Anteil der Persönlichkeit, ANP fragiler emotionaler Anteil der Persönlichkeit, EP kontrollierender EP © Nijenhuis 2015 49 © Nijenhuis 2015 50 ANP Wille essen, schlafen, ruhen, arbeiten, untersuchen, geliebt werden, soziale Kontakte haben EPs und traumatische Erinnerungen vermeiden Wille Verteidigenf Flüchten Einfrieren Kämpfen Totstellen Fragiler EP Schrei nach Bindung kontrollierender EP Wille autonom sein Schicksal bestimmen dominieren © Nijenhuis 2015 51 © Nijenhuis 2015 52 © Nijenhuis 2015 53 © Nijenhuis 2015 54 © Nijenhuis 2015 55 © Nijenhuis 2015 56 © Nijenhuis 2015 57 Bindungssystem: Annäherung an Eltern Verteidungssystem: Distanzierung von missbrauchenden und/oder vernachlässigenden Eltern Schicksalbestimmung: soziale Dominanz Widersprüche kaum lösbar © Nijenhuis 2015 58 © Nijenhuis 2015 59 anscheinend Normaler Anteil der Persönlichkeit, ANP fragiler emotionaler Anteil der Persönlichkeit, EP kontrollierender EP © Nijenhuis 2015 60 anscheinend Normaler Modus der Persönlichkeit, ANP-artig: Täterschaft verstecken fragiler emotionaler Modus der Persönlichkeit, f-EP artig: Verteidung (Unschuld, Verführung, usw.) kontrollierender emotionaler Modus der Persönlichkeit, K-EP artig: Wut, Sadismus, sexuelle Erregung, Angriff © Nijenhuis 2015 61 anscheinend Normaler Modus der Familie, ANP-artig: Traumatisierung ignorieren, verstecken fragiler emotionaler Modus der Familie, f-EP artig: Sich selbst verteidigen kontrollierender emotionaler Modus der Familie, K-EP artig: Täter verteidigen © Nijenhuis 2015 62 anscheinend Normaler Modus der Psychologie/Psychiatrie, ANP-artig: Traumatisierung ignorieren, verneinen fragiler emotionaler Modus der Psychologie/Psychiatrie, f-EP artig: “Ich wünschte eine schöne Stelle” “Wir können das Problem nicht lösen” “Alles was ich gelernt und gedacht habe, kann nicht falsch sein” kontrollierender emotionaler Modus der Psychologie/Psychiat rie K-EP artig: “False memories” Kollegen drohen, lächerlich machen, gute Artikel weigern, usw. © Nijenhuis 2015 63 anscheinend Normaler Modus der Gesellschaft, ANP-artig: Traumatisierung ignorieren, verneinen, usw. fragiler emotionaler Modus der Gesellschaft, f-EP artig: kontrollierender emotionaler Modus der Gesellschaft, K-EP artig: Schock Verwirrung Hoch emotional, hoch erregt Gelähmt Macht Krieg Opfer beschuldigen Finanzierung abbrechen © Nijenhuis 2015 64 Geist und Materie oder Selbst und Leib sind verschiedene Eigenschaften einer einheitlichen Substanz. Der Geist erschafft nicht die Materie und die Materie erzugt nicht den Geist. Gehirn, Leib und Umwelt sind intrinsisch aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig. Subjekt und Objekt sind ko-konstitutiv, kodependent und ko-okkurrent. © Nijenhuis 2015 65 Der Mensch ist Gehirn, Leib und Umweltbestandteil er ist “embrained”, “embodied” und “embedded”. Menschen schaffen gemeinsam Bedeutung, stiften gemeinsam Sinn. Meaning making oder Sinnstiften ist enaction, ist das Sensomotorische, affektive Handlungen gehen kognitiven Akten voraus. handelnde Erkennen und Bedeutunggeben der Welt. Es umfasst als ununterbrochener Handlungsakt in intimer Verbindung das Gehirn, den Leib oder Körper und die materiale und soziale Umwelt. © Nijenhuis 2015 66 Traumatisch Erinnerungen sind in erster Linie sensomotorische, emotionale und begierdebezogene Handlungsakte, die erst noch symbolisiert und realisiert werden müssen Trauma = Verletzung. Die Verletzung: Teilung von Organismus-Umwelt Systemen: Teilung der Persönlichkeit (Opfer, Täter, Komplizen: die Familie, die Psychologie/Psychiatrie, und die Gesellschaft. Traumatherapie muss eine systemische Aktion sein. © Nijenhuis 2015 67 Nijenhuis, E.R.S. (2006). Somatoforme Dissoziation. Paderborn: Junfermann Nijenhuis, E.R.S. (2015). The Trinity of Trauma: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Nijenhuis, E.R.S. (2016). The Trinity of Trauma: Ignorance, Fragility, and Control. Volume I & II. Ignorance, Fragility, and Control. Volume III: Enactive Trauma Therapy. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Van der Hart, O., Nijenhuis, E.R.S., & Steele, K. (2008). Das verfolgte Selbst. Paderborn: Junfermann © Nijenhuis 2015 69
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