Interview

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WOZ Nr. 51 17. Dezember 2015
D U RC H D E N M O N AT M I T J O H N M B I T I (3)
WOZ: Macht Ihnen die zunehmende Verbreitung von Freikirchen in Afrika Sorgen?
John Mbiti: Da wir in Kenia keine staatlichen Kirchen haben, reden wir kaum von
Freikirchen. Stattdessen gibt es in Afrika über
10 000 Kirchen, die von afrikanischen Christen
und Christinnen gegründet worden sind. Diese sind eine Bereicherung, ein Ausdruck des
christlichen Glaubens auf afrikanischem Boden,
eine Ergänzung zum westlichen Christentum.
Sind christliche
Geschichten Mythen?
Weshalb es in Afrika so viele Kirchen gibt, warum die Mission
in Afrika auf fruchtbaren Boden fiel und wie die Missionare den
Gottesbegriff verengten.
VON CORINA FISTAROL (INTERVIEW) UND URSULA HÄNE (FOTO)
John Mbiti: «Das Christentum konnte in Afrika so schnell Fuss fassen, weil wir schon vor den
Missionaren an den einen Gott geglaubt haben.»
schen in Afrika nehmen die Wunder Jesu ernst,
denn sie wissen beispielsweise, was Entbehrung ist. Wenn Jesus Brot verteilt, erkennen sie
aber, dass das Wunder auch symbolisch verstanden werden kann: Gott sorgt für Nahrung.
Jesus ist auch ein Exorzist, der böse Geister
austreibt und die Menschen heilt. Das hat
in Afrika mitunter zu grauenhaften Austreibungspraktiken geführt.
Das stimmt. Es gibt immer und überall
Menschen, die Geister austreiben und die MenWarum gibt es so viele Kirchen?
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts schen mehr oder weniger erfolgreich behandeln.
begann die zunehmend besser alphabetisierte Sehen Sie, Geister sind in Afrika eine tägliche
Bevölkerung, die Bibel selbst zu studieren. Die Realität. Es gibt gute Geister, etwa die von den
Leute bildeten eigene Vorstellungen und grün- Verstorbenen einer Familie. Und es gibt Geister
deten eigene Kirchen, um ihren Glauben so zu von Tieren und fremden Menschen, die als böse
leben, wie sie es für richtig erachteten.
erlebt werden. Für Ausländer ist die Hexerei
kaum zu verstehen, aber die Afrikaner erleben
Hat die Mission nicht traditionelle Glaubens- sie als real. Deshalb zeugt es von erstaunlicher
systeme unterwandert?
Unwissenheit, wenn Missionare oder TheoloDie Missionare haben Gott nicht nach gen behaupten, dass es Hexerei nicht gibt.
Afrika gebracht, er war schon immer dort. Allerdings gibt es verschiedene afrikanische Vor- Was bedeutet Mission heute im Vergleich zu
stellungen von Gott. Gott ist alles. Die Leute der Zeit, als Sie in Kenia die Missionsschule
versuchen das nicht zu erklären. Das hätte gar besucht haben?
keinen Sinn. Denn Gott ist ja genau das: unerAls ich in den dreissiger und vierziger
klärlich und unsichtbar.
Jahren Missionsschulen besucht habe, waren
alle Missionare Amerikaner oder Europäer. Sie
Also steht Gott einfach für all das, was die haben die Schulen und Spitäler gegründet, die
Menschen nicht erklären können?
heute von einheimischen Pfarrerinnen und
Jede afrikanische Sprache hat Wörter für Ärzten geführt werden.
Gott. In meiner Muttersprache nennen wir Gott
«Mulungu» und erklären ihn als «Asa»; das be- Finden Sie es richtig, dass die Kirchen Schulen
deutet Vater, Mutter oder Eltern. Wir umschrei- unterhalten? Das wäre doch die Aufgabe des
ben ihn auch als «Mumbi» (Schöpfer und Ge- Staates.
stalter), «Mwatuangi» (der die Feinheiten formt)
Als ich ein Kind war, gab es kaum staatliche Schulen für uns Afrikaner. Weil die Kooder «Mwene Vinya Woonthe» (Mächtiger).
lonialregierung sich nicht um unsere Bildung
Haben die Missionare und Ethnologinnen die- kümmerte, gründeten die Missionare Schulen.
Heute ist fast die Hälfte der Bildungsinstitutiosen weiten Gottesbegriff verengt?
Ja. Sie dachten, wir verstünden nichts von nen staatlich, die Mehrheit aber noch kirchlich
Gott, bezeichneten uns als Heiden, die bekehrt oder auch privat. Die Pädagogik ist die gleiche,
werden müssen. Später bezichtigten sie uns des die Prüfungen entsprechen sich, und die LehSynkretismus, der Kombination verschiedener rerschaft wird von der Regierung gestellt. Ich
Glaubenssysteme. Aber das gibt es in Afrika gar finde es gut, dass sich die Kirchen in der Bilnicht. Viele überlieferte Vorstellungen und My- dung engagieren: Sie sind in der Gesellschaft
then entsprechen sinngemäss den christlichen. verwurzelt und angesehen. Kirchliche Spitäler
sind heute noch oft besser als staatliche.
Dann sind auch die christlichen Geschichten
Mythen?
Denken Sie, dass künftig vermehrt AfrikaneEinige sicher! Das Christentum konnte in rinnen und Afrikaner im immer «ungläubigeAfrika so schnell Fuss fassen, weil wir schon vor ren» Norden missionieren?
den Missionaren an den einen Gott geglaubt
Es gibt bereits Kirchen in Europa und
haben. Und weil die Schöpfungsgeschichten Amerika, die von Christen aus Afrika, Asien
sich ergänzten und bestätigten. Ein unwissen- und Lateinamerika gegründet worden sind.
der Missionar erkennt das nicht, stellt seine Ge- Und es gibt theologische Seminare, die Mis­
schichten über die traditionellen.
sio­na­re speziell für Europa ausbilden, um den
Glauben an Jesus hier wieder in Erinnerung
Wie passt denn Jesus in dieses Bild?
zu rufen. Die neuen Missionare sprechen von
Er wird nicht als biologischer Sohn Got- Euro­pa deshalb auch vom «dunklen K
­ ontinent».
tes wahrgenommen, sondern als Sohn im spiJohn Mbiti (84) war einer der ersten afrikanischen
rituellen und mystischen Sinn, als Bindeglied
Pfarrer in der Schweiz. Der fünffache Grossvater
lebt heute mit seiner Frau Verena in Burgdorf.
zwischen den Menschen und Gott. Die Men-
F U S S BA L L U N D A N D E R E R A N D S P O RTA RT E N
Ein ganz normal Verrückter
P E D RO L E N Z
Manche halten ihn für verrückt, weil er zu- ist. Und vielleicht ist dieser Eindruck gar nicht
weilen eigenartige Dinge sagt oder tut. Ande- falsch. Im Spitzensport lauern die Fallen überre entgegnen, so verrückt könne er wohl nicht all. Da kann ein gewisses Mass an Misstrauen
sein, wenn er seit neunzehn Jahren den glei- nie ganz falsch sein.
chen Klub trainiere und in dieser Zeit sechs
Im nächsten Sommer wird Arno Del CurMeistertitel und fünfmal den
to sechzig Jahre alt. Wer ihm
prestigeträchtigen Spengler-Cup
zuhört, wer ihm bei der Arbeit
Arno Del Curto
zusieht, wer ihm auf der Strasse
gewinne.
begegnet, glaubt jedoch, einen
Er selbst fände die Frage, will, dass
Jungspund vor sich zu haben.
ob er noch normal oder schon ein seine Spieler zu
Ständig versprüht er eine eigenbisschen verrückt sei, vermutlich
einem langen
tümliche Mischung aus Ernstirrelevant. Über sich selbst zu rehaftigkeit, Schalk und innerem
den, findet er langweilig. Umso Flug abheben.
Feuer. Selten sitzt er still. Gerne
lieber spricht er dafür über seine
Vorstellungen vom perfekten Eiswäre Arno Del Curto Rockmusihockey, das nie zu erreichen, aber
ker geworden. Stattdessen hat er
immer anzustreben sei.
nun einen eher pädagogischen
Wenn Arno Del Curto beim
Beruf gewählt, bei dem er pädaHockey Club Davos an der Bande steht, schaut gogische Grundregeln nach Belieben brechen
er oft über seine Brillengläser, als würde ihn kann. Wenn sein Umfeld erwartet, dass er hart
die Sehhilfe daran hindern, richtig zu sehen. mit seiner Mannschaft umgeht, verhält er sich
Dazu muss er den Kopf nach unten halten. sanft. Wenn nach einem hohen Sieg alle glauDiese Kopfhaltung verleiht ihm das Ausse- ben, er sei zufrieden, beginnt er zu kritisieren.
hen e­ines Mannes, der ständig misstrauisch Wenn ein Spieler zu spät zum Training er-
über einen besonderen Eishockeytrainer
scheint, reagiert er nicht wie die meisten seiner
Berufskollegen mit scharfen Sanktionen, sondern mit Nachsicht. Und wenn ihm in Davos,
wo alle fast zwangsläufig alles über alle erfahren, jemand kolportiert, ein Spieler sei bis spät
in der Bar gewesen, hört er gar nicht hin.
In Kanada und den USA würden viele
Eishockeytrainer nach den Grundsätzen der
­
Armee ausgebildet, erklärte Del Curto unlängst. Deswegen seien ihnen Drill und eiserne Disziplin wichtig. Das könne zwar funktionieren, aber nur so lange, wie alle Spieler
bereit seien, sich unterzuordnen. Sobald Einzelne rebellierten, nütze die härteste Hand
nichts mehr. Ihm selbst sind deswegen andere,
­weniger genau definierbare Faktoren wichtig.
Er will, dass seine Spieler zu einem langen Flug
abheben. Er wünscht sich Eishockeyprofis, die
mit ihm diskutieren, die in der Kabine und auf
dem Eis mal das Maul aufreissen, die angefressen sind von dem, was sie tun. Und wenn er
sich selbst weiterbilden will, schaut Del Curto
auch mal über seinen eigenen Garten hinaus,
besucht etwa Trainings von Basketballteams,
um zu erfahren, wie in anderen Sportarten gearbeitet wird.
In den letzten Tagen wurde ein englisches Interview mit Arno Del Curto in den sozialen Medien herumgereicht. Es war ein Gespräch mit einem schwedischen Journalisten,
in dem der HCD-Trainer auf Englisch zu erklären versuchte, wie sein Team es geschafft hatte, den hoch favorisierten schwedischen Spitzenklub Skelleftea aus der Champions League
zu eliminieren. Seine Analyse war makellos.
Doch weil der gebürtige St. Moritzer ein eigentümliches Englisch spricht, glaubten manche
KommentatorInnen im Netz, sich über Del
Curtos Sprache lustig machen zu müssen. Was
die SpötterInnen nicht begriffen haben, ist,
dass Arno Del Curtos Ausstrahlung sprachunabhängig ist. Selbst wenn er in einer nicht
vollkommen verständlichen, von ihm selbst
als Buschenglisch bezeichneten Sprache referiert, transportiert er mehr Inhalt und mehr
Persönlichkeit als jeder seiner Berufskollegen
im Schweizer Profieishockey. Dafür lieben ihn
nicht nur die HCD-Fans.
Pedro Lenz (50) ist Schriftsteller und lebt in
Olten. Seine Leidenschaft gilt dem Fussball,
trotzdem lässt er sich zwischendurch auch zu
Eishockeymatchbesuchen überreden.