tränen zwischen traum und trauma

Lebensart
„Magenschutz“ kann schaden
Eine Studie bringt die Arznei sogar
mit Demenz in Zusammenhang.
fi GESUNDHEIT 19
Mittwoch I 17. Februar 2016 I www.kurier.at/lebensart
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VON UWE MAUCH
Suhana, ein 14-jähriges Mädchen,
erzählt, dass sie Opernsängerin werden wollte und in Damaskus Gesangsstunden genommen hat. Zuletzt hatte sie zu Hause jedoch wenigerOpernariengehörtalsdasSurren
hin- und herfliegender Granaten.
Sie zischt mit ihrer Zunge und
lässtdabeidenKopfhin-undherpendeln. Denn das Haus ihrer Eltern
stand genau zwischen den Häusern, in denen sich die Soldaten der
Regierung und die Soldaten der Rebellen verschanzt hatten. Suhana erinnert sich: „Ich habe die ganze Zeit
gehofft, dass sie richtig zielen.“
Tränen zwischen
Traum und Trauma
Eine Vorzugsschülerin
Es ist eine Sprechstunde der etwas
anderen Art: Ihre Lehrerin Faiza Sadek-Stolz hat sie und ihre beiden
Freundinnengefragt,wassiedenÖsterreichern von sich gerne erzählen
möchten. Gut ausgebildete, weltoffene Menschen wie diese Lehrerin
sind heute besonders gefragt. Die
TochtereinesÄgyptersundeinerÖsterreicherin ist in Österreich aufgewachsen und hat nach der Matura
fünf Jahre lang an einer US-UniversitätinKairoAnthropologieundUmweltwissenschaften studiert. Seit ihrer Rückkehr nach Wien arbeitet sie
alsLehrerinimProgramm„Teachfor
Austria“ (siehe unten), an einer Neuen Mittelschule im neunten Bezirk.
Nicht zuletzt aufgrund ihrer Arabischkenntnisse avancierte SadekStolz schnell zur Vertrauten für die
Flüchtlingskinder. Auch heute hört
sie von den Kindern Berührendes.
Vom Balkon ihrer Wohnung
musste Suhana beobachten, wie unten ein junger Mann mit einem
Sprengstoffgürtel auftauchte und
sich etwas in den Mund steckte.
„Dann ist er um die Häuserecke gebogen. Nur wenig später habe ich
eine laute Explosion gehört.“
Mit dem Mobiltelefon hat das
Mädchen ihr letztes Zeugnis in Syrien fotografiert. Sie war Vorzugsschülerin: lauter Einser. Ihre neue
Lehrerinerzählt:„Siehatsichamersten Schultag bedankt, dass sie hier
sein darf. Sie ist wissbegierig, sehr
fleißig, sie nützt jede Gelegenheit,
um etwas zu lernen.“ Ihre größte
Angst: „Sie kann jederzeit nach Ungarn abgeschoben werden.“
Toter Bub am Strand der Insel Lesbos:
Rasha, 12 Jahre alt, Flüchtlingskind
aus Syrien, Schülerin in Wien,
hält ihre Erlebnisse im Krieg und auf
der Flucht auf Papier fest.
Es ist auch ein Versuch, die
Tragödie zu verarbeiten
UWE MAUCH (2)
PRIVAT
Aufgezeichnet: Faiza Sadek-Stolz bringt die Erzählungen der Kinder zu Papier
Sardinen aus der Dose
Auf der Flucht aßen sie auch Verdorbenes. Und vor Sardinen aus der Dose rümpfen sie die Nase. Es waren
zu viele Sardinen aus der Dose. „Sie
haben noch so viel zu verarbeiten“,
sagt Faiza Sadek-Stolz, die inzwischen mit mehreren Flüchtlingskindern gesprochen hat. „Ihre schlimmen Erfahrungen haben die Kinder
schnell erwachsen gemacht.“
Dann erzählt sie von dem
Buben, der mit seinem Bruder flüchtete: „Sein Vater ist tot, seine Mutter
lebtnochinAfghanistan.“Undsieerinnert sich an das Mädchen, das in
den ersten Tagen so bedrückt war.
„Ich habe sie gefragt, was los ist, da
brach sie in Tränen aus und fiel mir
um den Hals.“ Schnell brach es aus
ihr heraus: „Ich war in Syrien eine
hervorragende Schülerin. Und jetzt
kann ich dem Unterricht nicht folgen, weil ich die fremde Sprache
trotz des Deutschförderkurses nicht
verstehe. Auch weil ich auf der
Flucht meine Brille verloren habe.“
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Bildungsinitiative
Teach for Austria
Eine Initiative, die von Wirtschaft und
öffentlicher Hand unterstützt wird. Sie
rekrutiert sozial engagierte Hochschulabsolventen für ein zweijähriges
Fellowprogramm. Nach gezielter
Ausbildung unterrichten sie an Schulen,
an denen auffallend viele Kinder aus
armen Familien stammen.
97 Lehrkräfte
Derzeit sind 71 Fellows an 36 Schulen im
Einsatz. Dazu kommen 26 Alumni (der
Jahrgänge 2012, 2013), die über das
Fellowprogramm hinaus unterrichten.
Bewerbungen für den Jahrgang 2016 bis
20. März. www.teachforaustria.at
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Stillstand des Herzens
Ihre Freundin Rasha, 12 Jahre alt,
kann noch immer nicht glauben,
dass sie auf Facebook ein zweites
Malargbestraftwurde.Siemusstein
diesem sozialen Netzwerk mitansehen, wie das Foto ihres ermordeten Cousins tagelang zirkulierte:
„Ich weiß nicht, wer ihn fotografiert
hat und wer das Foto ins Netz gestellt hat. Aber es wurde sehr oft geteilt.“ Nasrin, 13, ist indes mit ihrer
Mutter von daheim fort, um ihren
Brüdern und ihrem Vater nach Euro-
Grenz-Erfahrungen. Eine junge Lehrerin bat
Flüchtlingskinder, aus ihrem Leben zu erzählen
pa zu folgen. Während des Gesprächs zittern ihre Beine. Plötzlich
beginnt das Mädchen bitterlich zu
weinen.Wassieerlebthat,istschwer
in Worte zu fassen: „Es war noch in
der Türkei, da ist die Mama zusammengebrochen und nicht wieder
aufgestanden.“ Stillstand des Herzens. Gestorben im Niemandsland.
Rasha musste den Tod ihrer Mutter
aus nächster Nähe mitansehen.
Ihre Aufregung wird nicht kleiner, als sie von ihren Todesängsten
erzählt. Auf dem Weg durch dunkle
Wälder,beimAnschleichenzumVersteckdesSchlauchboots.„Eswareiskalt, und es waren viel zu viele Menschen in dem kleinen Boot. Ich habe
mir gedacht, dass wir das niemals
schaffen werden.“ In Griechenland
hatte sie nur mehr Wasser und Brot
für eine Woche. „Da habe ich mir gedacht:Daswar’sdann.“AufdieFrage
ihrer Lehrerin, was sie macht, wenn
sie traurig ist, sagt Nasrin: „Musik
aufdrehen und tanzen.“
Die drei Mädchen haben Schlimmes erlebt. Auch vor ihrer Schule explodierte eine Bombe und riss mehrere Mitschüler in den Tod. Sie sind
sich darüber einig, dass das keine
Soldaten waren, sondern Terroristen. Und sie legen Wert auf die Feststellung, dass sie selbst keine Terroristen sind: „Vor den Terroristen
sind wir doch weggelaufen. Deshalb sind wir doch hier.“
Dann sagt Nasrin einen bemerkenswert aufgeklärten Satz: „Ich
kann schon verstehen, dass die Österreicher Angst vor uns haben,
aber vielleicht werden sie mit der
Zeit erkennen, dass auch wir anständige Menschen sind.“
Ihre Freundin Rasha hat ein Bild
gemalt: Von dem toten Buben, den
das Meer an die Küste der Insel Lesbosgeschwemmthat.EineTragödie,
die sie bis heute beschäftigt.
Gezeichnet fürs Leben: Das Mädchen hat auf der Flucht ihre Eltern verloren
IVAN BAJIC/ISTOCKPHOTO
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