Bitt - Kirchenkreis Ansbach

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Du sammelst meine Tränen in deinem Krug – Psalm 56
Würzburg 16.05.2015
Verkündigung I mit Impulsen zur Offenen Zeit
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Wie viele Tränen hätte Gott wohl aufgefangen, wenn er meine Tränen aufgefangen hätte? Tränen,
die ich als Kind geweint habe, Tränen aus kindlichem Kummer und Schmerz. Tränen aus
Enttäuschung. Tränen auch der Liebe, die manchmal so weh tut.
Wie viele Tränen hätte Gott wohl aufgefangen, wenn er Ihre Tränen aufgefangen hätte? Tränen der
Wut. Tränen der Ohnmacht. Tränen der Scham. Tränen, die oft heimlich geweint wurden, im
Verborgenen, in schlaflosen Nächten. In einer Trauma-Therapie.
Vor anderen zu weinen ist schwer. Da zeige ich mich als schwach und verletzlich. Diese Blöße
gebe ich mir nicht. Nicht auch das noch…
Denn wir kennen ja diese Sprüche: „Ein Junge weint nicht.“ Oder: „Ach, ist die hysterisch! Eine
richtige Zimperliese!“ Das sitzt tief. So bleiben viele Tränen ungeweint.
Aber wenn keiner meine Tränen sammelt, dann muss ich mich hart machen, dann muss ich mir das
Weinen verbeißen, dann muss ich meine Gefühle versperren, damit nur ja keiner was sieht. Damit
ich nicht dumm dastehe. Damit es nicht noch schlimmer wird.
Dass Gott die Tränen der Weinenden sammelt, das ist ein tröstliches Bild der Liebe und Nähe. Gott
nimmt ernst, dass diese Welt oft zum Weinen ist, und unser Leben auch. Er wendet sich nicht ab
von denen, die weinen, sondern kommt ganz nahe heran. Er will Tränen nicht ausreden. Kein
billiger Trost wird dahingesprochen. Kein Hinweis, dass doch am Ende alles gut wird, oder dass
alles halb so schlimm ist. Dass frau sich nicht so haben soll und sie sowieso viel zu empfindlich ist.
Da wird uns nicht auf die Schulter geklopft: „Du brauchst doch nicht zu weinen.“ Vielmehr hält
Gott unsere Tränen aus. Er redet sie nicht klein. Er nimmt uns mit unserem Schmerz ernst. Unsere
Tränen werden nicht umsonst geweint. Gott sieht sie alle, und er sammelt sie ein.
Vielleicht fragt sich der eine oder die andere auch: Warum hat Gott das nicht verhindert, dass man
mir so wehgetan hat? Warum ist er nicht rechtzeitig eingeschritten? Warum bleibt der Täter
ungestraft? Auch diese Fragen haben heute Raum. Sie werden gehört. Zugelassen – auch von Gott.
Vielleicht tut es gut zu erfahren: Die schlaflosen Stunden, die durchwachten Nächte sind nicht
vergeblich. Sie sind auch dann nicht vergeblich, wenn sich keine Antwort, keine Lösung einstellt.
Gott nimmt daran Anteil. Das zu wissen hilft manchmal. Und die Gewissheit, dass Gott
Gerechtigkeit schaffen wird – irgendwann.
Heute wollen wir Ihr Leid, das Leid der Betroffenen von sexuellem Missbrauch, benennen, zur
Sprache bringen, es öffentlich machen. Es soll nicht totgeschwiegen werden, wie sehr Sie leiden oft noch Jahrzehnte danach. Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch wir als Kirche uns
schuldig gemacht haben, weil wir untätig zugeschaut haben, Verantwortliche geschützt haben,
anstatt die Betroffenen zu schützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir wollen nicht länger
wegschauen, nicht länger bagatellisieren, und die Opfer nicht länger schutzlos stehen lassen.
Vielleicht verliert dieses Leid der Opfer etwas an Macht, wenn es ausgedrückt werden darf, wenn
die Tränen gesammelt werden, wenn wir nicht länger wegschauen und weghören.
Wir wollen die Tränen und die Sprachlosigkeit aushalten, solidarisch sein und so füreinander da
sein.
Du, Gott sammelst meine Tränen in deinen Krug!
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In der Offenen Zeit wollen wir Ihnen nun die Möglichkeit dazu geben, Ihre Tränen, Ihren Kummer,
Ihren Schmerz und Ihre Hoffnung vor Gott zu bringen und neuen Mut zu fassen. Gott schenke uns
dazu seinen heilenden Geist.
Verkündigung II:
Liebe Schwestern und Brüder!
Gott sammelt deine Tränen in seinen Krug. Er hört unsere Klage und sieht unsere Tränen. Er ist uns
nah. Keine Träne ist umsonst geweint. Kein Klageruf bleibt ungehört, keine Bitte unbeachtet. Gott
ist da. Gott geht mit. Gott gibt neue Kraft. Gott schenkt Heilung und Heil. Denn:
Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.
Gott hat jedem und jeder von uns eine unverletzbare Würde geschenkt. Wir sind als seine
Geschöpfe, als seine Töchter und Söhne, sein Ebenbilder – von Anfang an. Wir haben als seine
Kinder seine göttliche Würde geerbt. Und diese Gottebenbildlichkeit kann und darf uns niemand
nehmen. Deshalb müssen auch unsere Grenzen gewahrt werden. Niemand darf sie verletzen,
niemand darf sie mutwillig oder gedankenlos überschreiten. Niemand hat das Recht dazu, unsere
Würde, unsere Gottebenbildlichkeit zu missachten. Gott selber wird dadurch verletzt. Gott selber
hat sich so mit uns eins gemacht, dass er sich mit uns verletzt fühlt. Niemand hat das Recht, eine
andere, einen anderen, für seine Interessen und seine Lust zu missbrauchen.
Du bist nicht schuld! Auch wenn viele dir das einreden wollten und wollen. Du bist nicht schuld!
Viel zu lange und viel zu oft wurde und wird mit Schuldgefühlen Druck ausgeübt. Wurden
Menschen klein und ohnmächtig gehalten. Wurde Scham erzeugt und verstärkt. Lass es dir nicht
länger einreden: Du hast keine Schuld an dem Missbrauch. Die Opfer dürfen nicht zu Tätern
gemacht werden. Die Opfer dürfen nicht erneut missbraucht werden durch Schuldzuweisungen.
Und den Tätern sei gesagt: Nur wer zu seiner Schuld steht und sie einsieht, kann auch davon befreit
werden. Man wird sie nicht los, wenn man sie auf die Opfer schiebt. Oder bagatellisiert.
Gott sieht dich freundlich an. Gott will deine Heilung und dein Heil. Gott will, dass du befreit und
zuversichtlich leben kannst.
Er sammelt deine Tränen in seinen Krug.
Wir wollen – in unserer Kirche und in der Diakonie – nicht länger wegschauen, sondern unser
Augenmerk auf die richten, die großes Leid erfahren haben. Wir wollen ihre Klagen ernst nehmen.
Wir wollen sie schützen vor den Anschuldigungen der Täter. Wir wollen sie sehen als Gottes
Ebenbilder, als seine geliebten Töchter und Söhne. Wir wollen ihre Würde wahren!
Das sollen keine Absichtserklärungen bleiben. Es gibt keine Toleranz für sexualisierte Gewalt in
unserer Bayrischen Landeskirche und Diakonie.
Dazu braucht es viele, die aufmerksam sind für leisen Töne der Klage, für die heimlich geweinten
Tränen, für die nicht ausgesprochene Angst, für die Vertuschungsmechanismen im System; es
braucht viele, die empfindsam sind für das Leid und die Not der Opfer; es braucht viele, die an
deren Stelle ihre Stimme erheben, die die Betroffenen in Schutz nehmen und die Täter zur
Verantwortung ziehen. Die Unsagbares sagbar machen. Die helfen, hinschauen und handeln.
Es darf gar nicht so weit kommen, dass Tränen ungeweint oder unbemerkt bleiben. Wir brauchen
wache Sinne, einen klaren Verstand und mitfühlende Herzen für Anzeichen sexuellen Missbrauchs
und sexualisierter Gewalt. Wehret den Anfängen, in Worten und Taten!
Deshalb will ich alle die, die in irgendeiner Weise Verantwortung für andere haben: in Kitas, in
Schulen, in der Kirchengemeinde, in der Jugendarbeit, am Arbeitsplatz, ermutigen, sich zu
informieren, sich schulen zu lassen, damit rechtzeitig und vorsorglich sexualisierte Gewalt
wahrgenommen und verhindert werden kann.
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Unsere Landeskirche bietet solche Präventions-Fortbildungen an. Ein Präventionshandbuch ist in
Arbeit. Es sind bereits mehrere Broschüren dazu herausgegeben worden, die auch im Intranet der
Landeskirche abrufbar sind. Damit können wir unseren Worten auch Taten folgen lassen.
Neben der Prävention ist auch die Aufarbeitung von Leid, das in Folge sexuellen Missbrauchs
aufgetreten ist und noch andauert, eine wichtige Aufgabe. Dafür übernimmt die Landeskirche und
die Diakonie Verantwortung. Eine „Unabhängige Kommission für finanzielle Leistungen in
Anerkennung des Leids“ kann angerufen werden.
Gott sammelt deine Tränen in seinen Krug!
Dafür braucht er auch uns.
Indem wir achtsam und respektvoll miteinander umgehen, indem wir genau hinschauen und
hinhören, indem wir denen, die verstummt sind, eine Stimme geben.
So kann neue Hoffnung wachsen, Mut zum Leben, Kraft zum Handeln. Dazu helfe uns Gott.
Amen