18 ZÜRICH UND REGION Neuö Zürcör Zäitung Mittwoch, 9. März 2016 Winterthurer Wohltäterin Vorsicht vor zu hohen Renditeerwartungen Eine Biografie erinnert an die Philanthropin Julie Bikle Reger Disput über die Geldanlage in «repressiven Zeiten» Nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichte Julie Bikle 47 000 deutschen Kindern Erholungsferien in der Schweiz. Dafür wurde die Winterthurerin sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Aggressive monetäre Strategien führen zu äusserst tiefen Zinsen und machen viele Anleger ratlos. Philipp Hildebrand, Manuel Ammann und Michael Rasch erklärten am NZZ-Podium, wie damit umzugehen ist. NINA KUNZ CHRISTOF LEISINGER Julie Bikle setzte sich ihr Leben lang für die Schwächsten ein. Nach dem Ersten Weltkrieg sorgte sie sich rund um die Uhr um kriegsgeschädigte deutsche Kinder – bis sie vor Erschöpfung selbst zusammenbrach. Verarmt und einsam starb sie 1962 in Kleinandelfingen. Ein neues Buch widmet sich ihrem tragischen Leben. Die Darstellung «Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken» von Dorothea Steiner wirkt zwar etwas orientierungslos, doch trägt sie zur überfälligen Rehabilitierung der Winterthurer Wohltäterin bei. 1871 kommt Julie Bikle zur Welt. Ihr Vater ist Deutscher und betreibt in Winterthur Handel mit Furnierhölzern. Als zu Beginn des Ersten Weltkriegs sämtliche Männer der Familie einrücken müssen, übernimmt Julie das Geschäft. Gleichzeitig baut sie während des Krieges die «Ermittlungsstelle für Vermisste» auf. Ihr Engagement sieht Bikle nicht als politische, sondern als humanitäre Aktion. Sie notiert in ihr Tagebuch: «Ich will mir keine unnützen Gedanken über die unverständlichen Ursachen des Weltchaos machen.» Die Zentralbanken machten den Anlegern derzeit das Leben schwer, hat Michael Rasch am Dienstag in einem einführenden Statement zunächst verdeutlicht. Anschliessend diskutierte der langjährige «Börsenchef» der NZZ rege mit Philipp Hildebrand von Blackrock und Finanzprofessor Manuel Ammann über Ursachen, Wirkungen sowie Konsequenzen – und dabei gingen die Meinungen deutlich auseinander. Heimliche Enteignung Die Fakten lägen auf der Hand, erklärte Rasch einführend. Die Notenbanken hätten mit Zinssenkungen und Wertpapierkäufen in zuvor nie gesehenem Ausmass eine Situation mit sehr tiefen Realzinsen geschaffen – sowohl in der Schweiz als auch in Europa. Aus diesem Grund könnten Anleger mit dem Kauf von als sicher geltenden Anleihen kaum noch Renditen erzielen. Wie komme es zur heimlichen Enteignung dieser Art? Durch negative reale Zinsen. Jedes Jahr nehme die reale Kaufkraft des Ersparten kaum noch zu oder schrumpfe sogar. Rasch wirft den Notenbanken vor, in Schlaflose Nächte Nach dem Krieg wird Bikle durch ein Zeitungsinserat auf die prekäre Lebensmittelversorgung in Deutschland aufmerksam. Sie ist erschüttert und verbringt «manch schlaflose Nacht angesichts der Not der Kinder». 1919 gelangt Bikle an den Verfasser des Inserates, den Schweizer Arzt Emil Abderhalden, der in Deutschland arbeitet. Sie verspricht ihm, in Winterthur Plätze für deutsche Kinder zu suchen, damit sich diese einige Wochen ausruhen könnten. Die ersten mangelernährten «Abderhalden-Kinder» reisen ein. In der Bevölkerung ist die Bereitschaft zu helfen gross. Fortan reisen jeden Monat vierhundert bis tausend Kinder in die Schweiz ein. «Ein dreizehnjähriges Kind sieht aus wie ein sechsjähriges», schreibt Julie Bikle. Seit Jahren hätten sie kaum Milch, Eier, Butter oder Fleisch gegessen. «Für einen grossen Teil der Kinder ist der Aufenthalt in der Schweiz lebensrettend», hält Bikle zufrieden fest. Der Wohltäterin selbst geht es nicht gut. Seit 1913 hat sie sich weder einen Urlaub noch einen Konzertbesuch gegönnt. Sie sorgt Tag und Nacht dafür, dass die Wünsche der Pflegeeltern berücksichtigt werden. Eine Familie aus Uznach schreibt 1923 beispielsweise, sie wünsche nur ein Mädchen im Alter von fünf bis acht Jahren, das nicht grösser als Kassier bestiehlt Quartierverein 97 000 Franken entwendet sha. V Das Bezirksgericht Zürich hat am Dienstag den Kassier des Quartierverein Zürich Affoltern wegen ungetreuer Geschäftsführung zu 15 Monaten Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu 90 Franken verurteilt. Der Treuhänder hatte in den Jahren 2012 und 2013 dem Verein gut 97 000 Franken gestohlen. Um die Tat zu vertuschen, verschob der Täter daraufhin Geld vom Konto einer Aktiengesellschaft auf das Vereinskonto. Urteil DG150344 vom 8. 3. 16, noch nicht rechtskräftig. Mehr dazu unter: www.nzz.ch. der Vergangenheit Rezessionen zu oft mit allen verfügbaren monetären Mitteln verhindern gewollt zu haben. Das habe zu kreditfinanziertem Wachstum und letztlich zu «zu viel gutem Leben» auf Kredit geführt. Bürger hätten zu viel konsumiert, weil die Politik nicht das Rückgrat habe, an sich nicht finanzierbare Wünsche abzuschlagen. Politiker müssten zwei Wählergruppen bedienen. Die Steuerzahler, die nicht mehr zahlen wollten, und die Leistungsempfänger, welche immer mehr «Wohltaten» fordern. Die opportune Lösung bestehe oft in hemmungsloser Kreditaufnahme, die zur Überschuldung und schliesslich zu schwachem Wachstum führe. Am Ende bleibe nur die finanzielle Repression: Minderung der Verbindlichkeiten durch geringe oder negative Realzinsen. Rat zur Bescheidenheit Gewinner seien die Schuldner und die Besitzer von Vermögenswerten. Verlierer sei der normale Sparer. Das sahen auch der sehr angelsächsisch argumentierende Philipp Hildebrand und Manuel Ammann so. Die Zentralbanken hätten die Investoren in riskante, höher rentierliche Anlageformen getrieben, so die Quintessenz der Diskussion. Aufgrund des sehr tiefen risikolosen Zinses und nach deutlich gestiegenen Kursen in der Vergangenheit raten die Diskussionsteilnehmer Anlegern mit Blick nach vorne dringend zu realistischen Renditeerwartungen. Das heisst, zu vergleichsweise niedrigen. Ausnahmen gebe es allenfalls in Nischen wie Technologie- oder Infrastrukturinvestitionen. BEZIRKSGERICHT ZÜRICH Julie Bikle zirka 1920 mit einem Ferienkind aus Deutschland. 115 Zentimeter sei, da es sonst nicht ins Bettchen passen würde. Bikle kümmert sich auch um Kinder, mit denen die Pflegeeltern nicht zurechtkommen – wie etwa Hans Joachim. Der Knabe ist im Dorf Trüllikon bei den Besitzern einer Bäckerei untergebracht. Er erwartet, dass ihm die Schuhe geputzt werden, und stört sich daran, dass beim Mittagessen die Teller nicht drei Mal gewechselt werden. Auf die Aufforderung, er solle sich mit den Kindern im Dorf anfreunden, meint er nur: «Das mach ich nicht. Ich bin Berliner.» Vergessen Über die Zeit nach 1924, als die Hilfsaktion eingestellt wird, ist wenig bekannt. Fest steht nur, dass Bikle nie geheiratet hat. Als ihre Firma in den dreissiger Jahren in eine finanzielle Schieflage gerät, sieht sie den einzigen Ausweg darin, sich für den hochdotierten Friedensnobelpreis zu bewerben. So PD schreibt sie dem Institut, sie wäre glücklich, auch nur einen Teilbetrag der Summe zu erhalten. «Ich bin am Ende meiner Kraft. Meine heutige Anfrage an Sie ist als Ausdruck der Verzweiflung aufzufassen.» Aus Oslo wird ihr geantwortet, man dürfe sich nicht selbst vorschlagen. Daher bittet Bikle den Nationalrat Otto Pfister um Hilfe. Dieser schlägt sie 1935, 1936 und 1937 vor – jedoch ohne Erfolg. 1962 stirbt Bikle in Kleinandelfingen. Trotz ihrer grossen Leistung für die 47 000 kriegsgeschädigten Kinder war ihr ein Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz bisher nicht vergönnt. Die neue Biografie wird das vielleicht ändern. Die Chancen stehen gut, dass die vergessene Wohltäterin wieder ins historische Bewusstsein rückt. Denn seit 2008 erinnert eine Strasse im Winterthurer Neubau-Quartier Dättnau an sie. Dorothea Steiner: Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken, Chronos, 156 S., Fr. 28.–. Mitfahrer unter Verdacht Untersuchungshaft nach Vorfall im Gubristtunnel fbi. V Am Sonntagmorgen um 4 Uhr lag ein verletzter Mann im Gubristtunnel bei Weiningen mitten auf der Fahrbahn. Der 23-jährige Schweizer aus dem Kanton Bern war zuvor aus einem fahrenden Auto gestürzt. Noch immer ist unklar, ob der junge Mann selbst aus dem Auto gefallen ist oder ob er gestossen wurde. Die zwei noch im Laufe des Sonntags verhafteten Männer, die zuvor mit ihm in einem Klub im zürcherischen Rümlang die Nacht verbracht hatten und mit ihm im Auto sassen, werden jedenfalls verdächtigt, in den Sturz involviert gewesen zu sein. Staatsanwältin Patricia Turner hat ein Verfahren wegen versuchter Tötung gegen den 22-jährigen Kosovaren und seinen gleichaltrigen Kollegen, einen Mazedonier, eröffnet. Die Staatsanwältin hat zudem Untersuchungshaft für die beiden Männer beantragt. Der Lenker hatte vor dem Vorfall die Geschwindigkeit verringert. Nachdem das Opfer auf die Fahrbahn gefallen war, setzte er die Fahrt fort. Das Opfer konnte laut Turner bereits ein erstes Mal kurz befragt werden. Der junge Mann zog sich bei dem Sturz Kopfverletzungen, Prellungen und Schürfungen zu. Weitere Angaben zum rätselhaften Vorfall wollte die Staatsanwältin nicht machen. Die Ehre und die Metallstange Brutal Rache an einem Kollegen genommen Zwei russische Männer, viel Alkohol, eine vermeintlich verlorene Ehre und ein Gewaltexzess als Racheakt: Das Bezirksgericht zeigt kein Verständnis und urteilt streng. brh. V Wie er in verwaschenen Schlab- berjeans und mit hochgezogener Kapuze draussen vor dem Gerichtssaal sitzt und auf die Urteilseröffnung wartet, flankiert von zwei Polizisten, sieht er wie ein trotziger junger Rapper aus. Die Angelegenheit ist aber ernst und real; kein Song, keine Sequenz aus einem Tarantino-Film, kein Videoclip – die Gerichtsvorsitzende spricht von einem Gewaltexzess, einer Pfählung, von lebensgefährlichen Verletzungen und von einer total unverhältnismässigen Reaktion. Der 27-jährige Russe wird unter anderem wegen schwerer und einfacher Körperverletzung, wegen Schändung und Verletzung des Ausländerrechts schuldig gesprochen. Das Verdikt lautet fünf und ein Viertel Jahre Freiheitsstrafe. Zudem wird der bedingt ausgesprochene Teil einer Vorstrafe widerrufen und eine bedingte Entlassung rückgängig gemacht: Das machte genau noch ein Jahr Freiheitsentzug mehr. Der Russe, der die Sache im Wesentlichen gesteht, seinen Widersacher jedoch nicht lebensgefährlich verletzt haben will, kämpft vergebens um eine mildere Strafe. Er fordert eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten und einen Schuldspruch wegen sexueller Nötigung – von Körperverletzung und Schändung will er nichts wissen. Überhaupt schiebt er einen grossen Teil der Schuld seinem Opfer zu, einem russischen Kollegen, und er kommt aus dem Jammern und dem Selbstmitleid schier nicht heraus: Sein Leben sei wegen «dieses Vorfalls» zerstört, sagt er. Liest man in der Anklageschrift, was er seinem Kollegen angetan hat, an jenem Maitag in Zürich vor drei Jahren, so fällt es allerdings schwer, für das Gejammer Verständnis aufzubringen. Ebenso schwierig ist es, das Ereignis einigermassen erträglich zu schildern. Begonnen hat das Ganze mit viel Alkohol. Der heute 27-jährige Russe war erst gerade bedingt aus dem Strafvollzug entlassen worden und begab sich mit seinem russischen Kollegen auf ein Saufgelage. Irgendwann landeten die beiden sturzbetrunkenen Männer in der Wohnung einer Bekannten. Der Mann schlief ein, und als er erwachte, merkte er, dass ihn der Kollege oral befriedigte. Das habe ihn entsetzt und schockiert, er habe Angst gehabt, die Orientierung verloren, schildert der Mann vor Gericht. Als Erstes schlug er den Kollegen mehrfach und heftig ins Gesicht und gegen den Körper. Dann entschied er, weil er soeben in seiner Ehre verletzt worden sei, müsse er die Ehre des anderen auch verletzen. Also nahm er Rache. Er packte eine Metallstange, die als Kleideraufhänger diente, beschmierte sie mit Butter und führte sie in den Anus des Opfers ein, das widerstandsunfähig war. Der misshandelte Mann erlitt unter anderem eine Darmperforation und damit lebensgefährliche Verletzungen. Sein Peiniger fotografierte die Schandtat, löschte das Bild jedoch wieder. Er ist als Jugendlicher mit seiner Mutter in die Schweiz gekommen, immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten und bezeichnet sein Opfer als Verrückten und als Triebtäter – er sei von dessen sexueller Handlung, die doch schuld an allem sei, schwer traumatisiert. Urteil DG160011 vom 8. 3. 16, noch nicht rechtskräftig.
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