Arzt und Humanist - Landesärztekammer Hessen

Ärztekammer
Arzt und Humanist
Der Versuch, Siegmund Kalinski zu würdigen, heißt, sich mit seinem Leben und der
Verflechtung von Zeitgeschichte mit persönlichem Schicksal, insbesondere mit
dem schwierigen 20. Jahrhundert, zu beschäftigen.
Als Jude am 21. März 1927 in der Kulturhochburg Krakau geboren, in der polnischen und deutschen Kultur verwurzelt,
geriet er rasch ins Visier der Verfolgung
durch die nationalsozialistischen Truppen.
Er wurde 1942 als 15-jähriger Schüler verschleppt und zunächst im Konzentrationslager Szebnie in Südpolen, später in
Auschwitz gefangen gehalten. Ab 1945
begannen die deutschen Besatzer und SSTruppen die Evakuierung des Lagers
Auschwitz vor der heranrückenden Sowjetarmee. Die Gefangenen, unter ihnen
Kalinski, wurden bei minus 20 Grad in das
70 Kilometer entfernte Gleiwitz getrieben. Viele überlebten diese Todesmärsche
nicht. Auf Viehwaggons folgte eine Irrfahrt durch Böhmen, über Österreich und
die deutschen KZ Sachsenhausen, Oranienburg und Flossenbürg, bis in die Nähe
der französischen Grenze, wo ihm die
Flucht in die befreiten Gebiete gelang. Mit
18 Jahren kehrt Kalinski nach Polen zurück. Die Familie ist auseinandergerissen.
Viele seiner Angehörigen sind ermordet
worden. Der Geburtsname Klausner wurde „polnisiert“ und in Kalinski umgewandelt.
Im Lager bildeten sich Freundschaften,
von denen Kalinski lebenslang geprägt
wurde. Diese Gruppe ehemaliger KZ-Häftlinge bleibt lebenslang in Verbindung, hatte immer Zutritt zu ihm, seinem Privathaus und seiner Praxis.
Kalinski legte 1947 das Abitur in Krakau
ab und studierte Medizin. Bereits im Studium finanzierte er seinen Lebensunterhalt als Journalist, aber auch als Conferencier. Manche seiner Zuhörer berichteten
über einen außerordentlich witzigen jungen Mann, der über ein schier unendliches
Gedächtnis für Anekdoten, Persönlichkeiten der deutsch-polnischen Literatur und
Geschichte verfügte. Seine Grundeinstellung, die ihn bis zum Lebensende beglei102 | Hessisches Ärzteblatt 2/2016
Foto: Dr. Michael Popović
Nachruf auf Dr. med. Siegmund Kalinski (1927 – 2015) / Auszug aus Trauerrede
Dr. med. Siegmund Kalinski
tet: Die Ausrichtung auf den Menschen,
die Humanität, die Fähigkeit zu tiefer
Freundschaft und der Humor.
Kalinski kommt 1965 in die Bundesrepublik.
Zunächst als Assistenzarzt in NordrheinWestfalen in Rheydt, dann im Städtischen
Krankenhaus Höchst. 1968 promovierte er
und wurde eingebürgert. Anerkennung als
Praktischer Arzt und Niederlassung in
Frankfurt-Schwanheim folgten. Die mehr
als 28-jährige Betreuung von Patienten
schafft Beziehungen, Freundschaften und
Anerkennung. Er erreichte die Facharztanerkennung für Allgemeinmedizin und 1977
die Weiterbildungsermächtigung in diesem
Fach. 1984 wird er Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität,
1992 habilitiert er sich für das Fach Allgemeinmedizin an der Krakauer JagellonenUniversität. 1996, mit 69 Jahren, gibt er die
Praxis an eine Nachfolgerin ab.
Über Jahrzehnte war Kalinski aus der ärztlichen Standespolitik nicht wegzudenken.
Er wurde Mitglied der Abgeordnetenversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KV), des Zulassungsausschusses der KV, des Geschäftsausschusses von 1981–1996 und war seit 1980
streitbarer Geist in der Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen. 1996 wurde er Mitglied des Präsidi-
ums der Kammer und behält dieses Amt
bis 2008. Erst 2010, bereits erkrankt, gab
er das Delegiertenmandat auf. Viele Jahre
lang vertrat er die KV Hessen bei der Vertreterversammlung der Bundesvereinigung. Seine berufspolitische Heimat war
und blieb der Hausärzte-Verband.
Außerdem engagierte er sich in der Stadt
Frankfurt, für die medizinische Akademie
in Warschau sowie die Universität Krakau
und war Mitglied im Rat der Überlebenden des Fritz-Bauer-Instituts. Im Auschwitzprozess war er wichtiger Zeuge.
Neben dem beruflichen und standespolitischen Engagement war Siegmund Kalinski
ein scharfzüngiger und witziger Kolumnist. In der Ärztezeitung erschienen weit
über 1000 Kolumnen unter seinem Pseudonym „Ironius“. Auch hat er über Jahre im
Hessischen Ärzteblatt unter dem Titel
„Mit meinen Augen“ geschrieben.
Er beeindruckte durch die stets gute Laune, den scharfen Verstand, die unermessliche Gedächtnisleistung, den Humor und
die Fähigkeit, trotz Meinungsdifferenzen
in sachlicher Diskussion Lösungen herauszuarbeiten. Seine Lebensleistung wurde
mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet,
darunter das Bundesverdienstkreuz am
Bande, Bundesverdienstkreuz 1. Klasse,
Ehrenplakette der Landesärztekammer
Hessen in Silber und Paracelsusmedaille.
Die letzten Jahre begleitete ihn Ada Hoyer, eine Frau, die er überaus liebte und ihm
eine wunderbare Partnerin war.
Die Landesärztekammer Hessen dankt
Siegmund Kalinski für die eingebrachte
Persönlichkeit, die eingebrachten Ideen
und für die vielen gemeinsamen Aktivitäten in den vergangenen Jahrzehnten. Der
Tod von Siegmund Kalinski am 10. Dezember 2015 reißt einen wertvollen Menschen aus unserer Mitte. Eine Persönlichkeit europäischen Zuschnitts mit vielen
Facetten. Siegmund Kalinski wird uns fehlen.
Dr. med. Siegmund Drexler
Der Nachruf ist ein Auszug aus
Dr. Drexlers Trauerrede.