Kritik Landbote - Der Theatermacher

Stadtkultur
Der Landbote
Mittwoch, 9. September 2015
Der Weltverbesserer
und der Individualist
Neuim Kino
Fack Ju Göthe 2
Die Fortsetzung der Schulkomödie
spielt an einem thailändischen
Strand. Dorthin fährt Gesamtschullehrer Zeki Müller (Elyas
M’Barek) mit seinen Schülern auf
der Schulreise – allerdings nicht
ganz freiwillig. Denn die Diamanten, die aus seiner ersten Karriere
als Kleinkrimineller übrig geblieben sind, haben durch eine Verkettung unglücklicher Umstände den
Weg nach Südostasien angetreten.
Derweil steht Zekis Freundin Elisabeth Schnabelstedt (Karoline
Herfurth) wegen einer Wasserflasche in Handgranatenform unter
Terrorverdacht und kann nicht
ausreisen. Trotz unterhaltsamer
Einfälle kommt die Fortsetzung
nicht an den ersten Teil heran (ab
Do, Kinos Kiwi und Maxx,
Deutsch). dpa
Bühne Das Theaterensemble Obertor spielt in Wülflingen
«Marat/Sade» von Peter Weiss. Eine sehenswerte Aufführung:
Es handelt sich um ein herausragendes Stück des modernen
Theaters, dargestellt von starken Schauspielern.
Der Regisseur und Theaterleiter
Marius Leutenegger gibt ohne
Umschweife zu: «Das Stück ist besonders schwierig aufzuführen.
Wir haben ein Jahr lang daran gearbeitet.» Das Theaterensemble
Obertor ist eine Laiengruppe. Das
forderte einen doppelten Einsatz
von der Regie und den Schauspielern. Beim Publikum lässt die Aufführung weder Zweifel noch Zögern aufkommen. Noch während
die Besucher ihre Plätze einnehmen, hat das Stück im Theater
Wülflingen (bei der Kirche
St. Laurentius) bereits begonnen,
Marat (Madeleine Graf ) thront
bereits in seiner Badewanne auf
einem Podest über der Bühne. Die
Schauspieler sind im Saal verteilt,
tuscheln. Dann tritt der Ausrufer
(Jonas Bühler) auf, klopft mit
einem dicken Stock auf den Boden und kündigt die erste Szene
an: «Aufstellung». Der Ausrufer
führt durch das Stück und fasst
wichtige Ausschnitte der Hand-
lung zusammen. Damit übernimmt er die Rolle des Chors. Dieser Rückgriff auf die antike Tradition ist ein beliebtes Gestaltungsmittel des modernen Theaters
der Nachkriegszeit.
Laien auch in der Vorlage
Die Handlung stellt den Mord am
Revolutionär Jean Paul Marat
durch Charlotte Corday (Lena
Kern) dar. 13. Juli 1793. Die Revolution in Frankreich steht auf der
Kippe. Wohl sind die alten Mächte gestürzt. Doch sie sinnen nach
Rache und sammeln sich zum
Gegenangriff. Die revolutionäre
Regierung wehrt sich mit Gewalt.
Die Guillotine hat Hochbetrieb.
Anderseits gärt es im Volk. Die
Massen hungern und darben, genauso wie vor der Revolution. Für
sie hat sich nichts verbessert. Die
Revolutionäre sind untätig und
zerfleischen sich in wilden Debatten. In dieser Lage verfasst Marat
in seiner Badewanne einen lei-
ZuM STücK
Der vollständige Titel des 1964
in Berlin uraufgeführten Stücks
von Peter Weiss fasst seine
Spielanlage zusammen: «Die
Verfolgung und Ermordung
Jean Paul Marats, dargestellt
durch die Schauspieltruppe des
Hospizes zu Charenton unter
Anleitung des Herrn de Sade».
Das Ideendrama stellt den Revolutionär Marat mit seinem
Verlangen nach Gerechtigkeit
dem individualistischen Marquis de Sade gegenüber, der
sich längst von der Realität ver-
abschiedet hat, und skizziert
damit einen Grundkonflikt der
Neuzeit: Wie sich unter gut gemeinten Ideen für Gerechtigkeit, Glück und Wohlstand für
alle immer wieder der Egoismus Bahn bricht. Oder, wie Marat es ausdrückt: «Da stehen wir
wieder / und hängen an die
verbürgten Menschenrechte /
das heilige Recht der Bereicherung.» Die Ideale der Freiheit
und Gleichheit münden «in
eine fröhliche wechselseitige
Ausbeutung». dwo
Youth
Gebührt dem Revolutionär ein Ehrenkranz? Marat in der Wanne, umgeben von Anstaltsinsassen.
denschaftlichen Aufruf an seine
Mitbürger. Während dieser Arbeit
erdolcht ihn Charlotte Corday.
Im Stück von Peter Weiss wird
Marats Tod in der Irrenanstalt
Charenton bei Paris von den Patienten aufgeführt. Regie führt
der berühmteste Insasse: Donatien Marquis de Sade (Matías
Lanz), bekannt als Namensgeber
des Sadismus. Natürlich sind die
Patienten der Anstalt Laien und
stören den Ablauf der Handlung
immer wieder.
Starke Darsteller
Das kommt der Wülflinger Aufführung durch ein Laienensemble
entgegen. Mögliche Schwächen
werden durch die groteske Rahmengeschichte geschickt getarnt.
«Marat/Sade» hat für das Ensem-
ble zudem den Vorteil, dass es viele Rollen zu verteilen gibt. Die
Rahmengeschichte spielt im Jahr
1808. Die Revolution und ihre
Freiheiten sind schon Geschichte. Napoleon hat Frankreich in ein
Kaiserreich verwandelt. Die Anstaltsdirektorin (Silvana Naef )
zensuriert das Stück, und de Sade
streitet mit Marat.
Für de Sade, den Vertreter eines
absoluten Individualismus, war
die Revolution ein Fiasko. Diese
Debatte ist inhaltlich der Kern
des Stücks. Lassen sich die Lebensbedingungen der Allgemeinheit wirklich verbessern? Oder
sind alle Mühen und Kämpfe umsonst? Peter Weiss gestaltete mit
«Marat/Sade» ein Ideendrama.
Weltanschauungen kommen lebendig auf die Bühne. Wenn im
Patrick Gutenberg
Stück von «unserer Zeit» die Rede ist, bezieht sich das stets auch
auf die Gegenwart.
Die starken Darsteller des Ensembles, neben anderen Matías
Lanz, Lena Kern und vor allem
der junge Jonas Bühler, halten
das Stück zusammen. Der Ausrufer beeindruckt mit seiner Stimme und seiner Präsenz. Der singende Chor und die eigens von Jonas Gassmann komponierte Musik verleihen der Aufführung
einen eingängigen Ton. Dem
Theaterensemble Obertor gelingt
es, ein wunderbares Theaterstück
kraftvoll zur Geltung zu bringen.
Christian Felix
Marat/Sade: Theater Wülflingen,
bei der Kirche St. Laurentius.
Aufführungen bis 25.9.
Sechs Stunden Kultur für zehn Franken
Kulturnacht Für zehn
Franken können am Samstag
13 Kulturorte und Events
besucht werden. Der «Kulturherbst» von 2013 ist zur
«Kulturnacht» geschrumpft.
Es genügt heute nicht mehr, wenn
Kulturhäuser Kultur veranstalten. Um Publikum anzuziehen,
müssen sie zusätzlich auf sich
aufmerksam machen, am besten
gemeinsam. Besonders die Museen bekommen den Hang zur
Eventkultur zu spüren. Sie waren
denn auch beim Winterthurer
Kulturherbst federführend, den
vor zwei Jahren 17 Veranstalter
gemeinsam organisierten.
Das über Wochen sich hinziehende Festival war vor allem für
die beteiligten Institutionen eine
gute Erfahrung, die untereinander Berührungsängste abbauen
und Kontakte knüpfen konnten.
Das Echo beim Publikum blieb
zehn Franken können 13 Kulturinstitutionen besucht werden, von
der Kunsthalle über das Theater
Winterthur bis zur Alten Kaserne.
Dort erwarten sie Konzerte,
Gesprächsrunden, Filme, SlamSessions und mehr sowie insgesamt 15 weitere Institutionen, die
dort zu Gast sind. Das Eintrittsticket kann an jeder Abendkasse sowie bei Winterthur Tourismus gelöst werden. Die Veranstaltungen
dauern in der Regel etwa 30 Minuten.
Das Technorama inszeniert vor dem Gewerbemuseum einen Farbnebel. pd
jedoch unter den Erwartungen.
Vielleicht wäre es besser, das Festival würde sich auf zwei Wochen
beschränken, meinte Dieter
Schwarz damals in einer kritischen Nachbetrachtung; der Di-
9
rektor des Kunstmuseums war
massgeblich am Zustandekommen des Festivals beteiligt. Am
Samstag wird die Idee nun weitergeführt: als Kulturnacht. Für
einen einmaligen Eintritt von
Kreidefelsen fressen
So trägt etwa die Slam-Poetin Hazel Brugger ihr Comedyprogramm «Kreide-Felsen-Fressen»
nicht im Casinotheater, sondern
im Museum Oskar Reinhart vor,
wo Friedrichs Gemälde «Kreidefelsen auf Rügen» hängt – eine
nicht sakrale Begegnung mit dem
Aushängeschild der Winterthurer
Museen ist somit garantiert. Zum
Abschluss bringen die vier Winterthurer Musikclubs ein DJTeam ins Zentrum für Fotografie.
Musiker Fred (Michael Caine),
in Begleitung seiner Tochter Lena (Rachel Weisz), und Regisseur Mick (Harvey Keitel) gehen
beide auf die achtzig zu. Im Nobelhotel in den Schweizer Bergen, wo sie ihre Tage verbringen,
lernen sie zahlreiche Gäste und
Bedienstete kennen. In der idyllischen Umgebung scheint die
Zeit irgendwie stehen geblieben
zu sein. Doch Fred und Mick wissen, dass ihre Zeit abläuft. Das
Rezept der Schweizer Co-Produktion (Regie: Paolo Sorrentino) wirkt wie eine Kopie des
Films «The Clouds of Sils
Maria», ein Handlung sucht man
vergeblich (ab Do, Kino Loge,
E/d/f ). red
La tête haute
Porträt eines aggressiven Teenagers (Rod Paradot), der immer
wieder bei der Jugendrichterin
landet, dank der mütterlichen
Strenge von Juge Florence Blaque (Catherine Deneuve) und
der Geduld seiner Betreuer es
aber schliesslich doch schafft,
seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Der Film von Emmanuelle Bercot zelebriert erstaunlich unkritisch die segensreiche Wirkung des französischen Justizsystems (ab Do,
Kino Loge, F/d). red
Das Publikum mischen
Mit dem «Zusammenspiel unterschiedlicher Kunstformen» soll
nicht nur auf die Kulturstadt
Winterthur aufmerksam gemacht
werden. Die Veranstalter wollen
damit auch «eine breite Publikumsvermischung sowie Synergien aller Art» erreichen, wie Pascal Mettler von der Kulturbau
GmbH in einer Medienmitteilung
schreibt. Seine Firma koordiniert
das Projekt zusammen mit Susanna Kumschick, Kuratorin am Gewerbemuseum, und Thomas Selig, Direktor des Fotomuseums.
dwo
Konzert Der Gitarrist Antonio
Malinconico spielt Stücke seiner
beiden CDs «Vamos Al Sur» und
«Por Siempre Sur». Der 1979 geborene, in St. Gallen aufgewachsene Secondo liebt den Tango und
die Volksmusik der Region um
Neapel, wo die Wurzeln seiner Familie liegen. Leidenschaft und
Melancholie verschmelzen zu
einer bittersüssen Mischung. red
Winterthurer Kulturnacht:
Antonio Malinconico: Samstag,
Samstag, 12. 9., ab 17 Uhr. Zahlreiche Museen sind bis 23 Uhr offen.
www.kulturnachtwinterthur.ch
Leidenschaft,
Melancholie
12.9., 19.30 Uhr, Monatsbar
der Neuen Werkstatt,
Oberer Deutweg 1.
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