Kejř, Jiří: Žil jsem ve středověku [Ich lebte im Mittelalter]. Der

Rezensionen
169
Kejř, Jiří: Žil jsem ve středověku [Ich lebte im Mittelalter].
Academia, Praha 2012, 277 S., ISBN 978 -80 -200 -2046 -8.
Der unlängst im Alter von knapp 94 Jahren verstorbene Jiří Kejř war einer der
bedeutendsten tschechischen Rechtshistoriker und Mediävisten der Nachkriegszeit.
Er erhebt mit seinen Memoiren nicht den Anspruch, große Geschichte zu schreiben,
sondern spricht vielmehr von Erinnerungen, die in erster Linie für Verwandte, enge
Freunde und Kollegen bestimmt seien. Doch obwohl sich Kejř über große Strecken
auf die eigene Lebensgeschichte und seine wissenschaftliche Arbeit konzentriert,
kommt er ab und an einfach nicht umhin, die historischen Ereignisse zu schildern
und zu bewerten, die sein langes Leben rahmten. Zumindest in diesem Sinne legt das
Buch des großen Rechtshistorikers auch ein wertvolles Zeugnis von den Zeitläuften
und dem Umfeld ab, in dem er arbeitete und das er selbst als „Milieu der Wissenschafts-Gemeinde“ bezeichnet.
Jiří Kejř wurde am 28. August 1921 als einziges Kind eines Brauereibesitzers in
Prag-Bubny geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er aber überwiegend in einem
Dorf an der Grenze zwischen Mittel- und Ostböhmen, wo sein Vater eine Brauerei
gepachtet hatte. 1940 legte er am Realgymnasium in Nový Bydžov das Abitur ab.
Die restlichen Jahre der Protektorats-Zeit verbrachte Kejř auf rangniedrigen Verwaltungsposten und später im „Totaleinsatz“ in der Nähe seines ehemaligen Wohnorts.
Mit dem Studium an der Juristischen Fakultät der Karls-Universität konnte er erst
im Alter von 24 Jahren nach der Befreiung der Tschechoslowakei beginnen. 1948
schloss er es ab, war danach kurzzeitig in einem Notariat angestellt und wurde
schließlich im Dezember 1952 Mitarbeiter an der neugegründeten Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (Československá akademie věd, ČSAV).
Konkret trat Kejř in das „Kabinett für Staats- und Rechtsgeschichte in der Tschechoslowakei“ (Kabinet dějin státu a práva v Československu) ein, dem Professor Václav
Vaněček vorstand und das Bestandteil des „Instituts für Staat und Recht der
Akademie der Wissenschaften“ (Ústav státu a práva ČSAV) war. Nach Auflösung
dieses Instituts wurde Kejř 1973 Mitarbeiter im Archiv der Akademie der Wissenschaften, dessen Direktor damals Vaněček war. Dort konnte Kejř seine bisherige
wissenschaftliche Arbeit bis zur Pensionierung Ende 1985 fortsetzen. Zum Archiv
der Akademie gehörte die Kommission zur Inventarisierung und zum Studium von
Handschriften (Komise pro soupis a studium rukopisů), der Kejř von 1956 an als
Mitglied angehörte. Der Regimewechsel im November 1989 stellte für ihn einen
neuen Impuls zur wissenschaftlichen, aber auch pädagogischen Arbeit dar. Trotz
fortgeschrittenen Alters und angeschlagener Gesundheit unterrichtete er an der neu
errichteten Juristischen Fakultät in Olomouc kanonisches Recht und hielt auch gelegentlich Vorlesungen an der Karls-Universität, vor allem an ihren erneut inkorporierten theologischen Fakultäten. Mit 72 Jahren wurde er an der Prager Philosophischen Fakultät habilitiert. Bis 2006 nahm er auch an wissenschaftlichen Konferenzen
im Ausland teil und erhielt zahlreiche bedeutende internationale und einheimische
Preise und Auszeichnungen.
In den ersten beiden Kapiteln des Buchs, die Kejřs Jugend gewidmet sind, fesseln
den Leser unter anderem die Reflexionen des Autors über die tschechische Kultur
170
Bohemia Band 55 (2015)
der 1930er Jahre und der Zeit des Protektorats, die auf einer hervorragenden Beobachtungsgabe beruhen. Vor allem Musik und Theater interessieren Kejř. Auch die
Schilderungen der Verhältnisse an der Prager Juristischen Fakultät während der
ersten Nachkriegsjahre und die Erinnerungen an die Dozenten sind sehr lesenswert.
In diesen Passagen fließen die authentische Perspektive des jungen Studenten und
die des späteren lebenserfahrenen Autors zusammen. Kejř verbindet hier geschickt
persönliche Erinnerungen, oftmals scheinbar kleine Details, mit prägnanten Charakterisierungen einzelner Lehrender. Neben bedeutenden Persönlichkeiten der damaligen Prager Rechtswissenschaften (beispielsweise dem Rektor Karel Engliš und
den Rechtswissenschaftlern Jan Krčmář, Arnošt Wenig und Zdeněk Peška) widmet
er vor allem all jenen Lehrern seine Aufmerksamkeit, die während seines Studiums
an der Karls-Universität Rechtsgeschichte und Kanonistik unterrichteten (Miroslav
Boháček, Vratislav Bušek, Jiří Cvetler, Theodor Saturník, Josef Tureček, Václav
Vaněček). Faszinierend sind vor allem die Porträts des Romanisten Boháček und des
Professors für tschechische Rechtsgeschichte Vaněček, denen er in den folgenden
Jahrzehnten näherkam. Bringt er Boháček Hochachtung als Mensch und Wissenschaftler entgegen, ist sein Verhältnis zu Vaněček ambivalent, was, wie er selbst einräumt, daran liegen könnte, dass dieser von Anfang der 1950er Jahre bis in die erste
Hälfte der 1980er Jahre nicht nur sein Vorgesetzter war, sondern in gewisser Weise
auch die schützende Hand über ihn hielt. Seine gespaltene Sicht auf die Koryphäe
der kommunistischen Rechtsgeschichte bringt Kejř wie folgt auf den Punkt: Es habe
„gewissermaßen zwei Vaněčeks“ gegeben, „der erste ein hochtalentierter und fleißiger Wissenschaftler noch aus der Vorkriegszeit“ und der zweite ein „Exponent der
kommunistischen Partei“ (S. 90). Dennoch würdigt Kejř Vaněčeks Fähigkeit und
Bereitschaft, „sich um seine Schüler zu kümmern und ihnen Schutz vor drohendem
politischen Druck zu gewähren“ (S. 91).
Unter Vaněčeks Schülern widmet der Autor vor allem jenen Aufmerksamkeit, mit
denen er in der ersten Hälfte der 1950er Jahre im Kabinett für Staats- und Rechtsgeschichte zusammentraf (Jaroslav Houser, Jiří Klabouch, Vladimír Procházka,
Vladimír Růžička und Valentin Urfus). Er erinnert daran, dass hier auch Menschen
wirken konnten, die aus der Perspektive der damaligen Kaderpolitik äußerst problematisch erschienen, wie zum Beispiel Urfus, Sohn eines Bezirkshauptmanns der
Ersten Republik, oder Procházka, dessen Bruder aus politischen Gründen in Haft
war. Als weiteren Ort, an dem Wissenschaftler, die nach 1948 gezwungen waren, die
Universitäten zu verlassen, ihre Arbeit fortsetzen konnten – wenn auch in engen
Grenzen – nennt Kejř die Kommission zur Inventarisierung und zum Studium von
Handschriften. Sie entstand im Jahr 1953 und wurde 1956 Bestandteil des Zentralarchivs der Akademie der Wissenschaften, das damals unter der Führung von Václav
Vojtíšek stand. Die Kommission wurde vor allem für Boháček, für den ehemaligen
Brünner Professor für tschechische Rechtsgeschichte František Čáda und auch für
den Literaturwissenschaftler Václav Černý zum Zufluchtsort.
Die Schilderung dieser Nischen gewährt einen tiefen Einblick in das Funktionieren der Wissenschaft im Kommunismus. Aber auch Kejřs Beschreibungen seiner
Reisen in den Westen verraten viel über die Logik, nach der die sozialwissenschaftliche Forschung organisiert war. Seine erste Reise ins „kapitalistische Ausland“ trat
Rezensionen
171
Kejř 1960 im Alter von 39 Jahren an, als er zu einem Historikerkongress nach Stockholm fuhr. Zwei Jahre später gelang es ihm als einem der wenigen Nichtkommunisten sogar, an einem Symposium in den USA teilzunehmen – nicht ohne zuvor
zahlreiche administrative Hindernisse überwunden zu haben. Er schildert aber nicht
nur diese, sondern widmet seine Aufmerksamkeit auch vielen ausländischen Wissenschaftlern, die er auf seinen Reisen kennenlernte und mit denen er Freundschaft
schloss.
Nicht allein Einladungen zu internationalen Konferenzen ermöglichten es Kejř zu
reisen: 1963 wurde er Nachfolger von Vojtíšek als Geschäftsführer der Gesellschaft
des Hus-Museums, die das Hus-Haus in Konstanz besaß. Dank dieses Amtes konnte Kejř auch nach dem Wechsel ins Archiv der Akademie der Wissenschaften nach
dem Beginn der Normalisierung weiter ins westliche Ausland reisen.
Das Kapitel zu dieser Zeit bietet in Kejřs Erinnerungen eher ein Bündel von
Episoden, partiellen Reflexionen und mehr oder weniger ausführlichen Charakterisierungen verschiedener Persönlichkeiten – von tschechischen und ausländischen
Kollegen und Freunden, Repräsentanten der Normalisierungs-Forschung – denn
eine in sich geschlossene Darstellung. Fesselnd ist hier beispielsweise eine Passage,
die sich mit den Symposien befasst, die von 1980 an in Tábor stattfanden, wo eine
tolerante und wenig ideologische Atmosphäre herrschte. Aufschlussreich sind auch
die Informationen über die informelle Gruppe von Wissenschaftlern, die sich Ende
der 1970er Jahre um Amadeo Molnár bildete, und Erinnerungen an einen Aufenthalt
an der Universität Cambridge im Sommer 1986.
Die zwei Jahrzehnte nach 1989 handelt Kejř relativ kurz und primär mit Blick
auf das Persönliche ab. In dieser Zeit engagierte er sich einerseits in der Kommission für das Studium der Persönlichkeit, des Lebens und des Werks von Jan Hus,
andererseits arbeitete er an seinen wissenschaftlichen Projekten – namentlich an
seiner Geschichte der mittelalterlicher Städte und der Geschichte der Prager Juristischen Fakultät. Für seine Tätigkeit in der Hus-Kommission wurde Kejř im
Jahr 2000 verdientermaßen mit dem Vatikanischen Orden des Hl. Silvester ausgezeichnet.
Im vorletzten Kapitel „Die Suche nach der Vergangenheit“ berührt der Autor
erstmals ausgewählte Aspekte der hussitologischen Forschung und formuliert anhand seiner Forschungsfelder Standpunkte zu allgemeineren ideologischen und
methodologischen Fragen. Kejřs eindeutige Ablehnung des Marxismus (und des sogenannten Historischen Materialismus) mit seinen „allgemein gültigen“ Kategorien ist nicht programmatisch ideologisch, sondern empirisch begründet: Als Feudalismus werden beispielsweise viele verschiedene Formen bezeichnet, „die so
unterschiedlich“ sind, „dass ihre Einordnung unter einen Begriff bei einem ernsthaften vergleichenden Studium schwer überwindbare Probleme bereitet“ (S. 214).
Dasselbe gilt laut Kejř für „die Mehrheit solcher Bezeichnungen einschließlich des
Dogmas über die Klassenaufteilung und den Klassenkampf in der Gesellschaft“
(ebenda).
Wenn Kejř über sich selbst schreibt, er sei kein Schöpfer großer historischer Konzeptionen (S. 220), fällt es schwer, ihm beizupflichten. Entschieden widersprechen
aber muss man seiner Behauptung, kein großer Historiker zu sein. Mir persönlich
172
Bohemia Band 55 (2015)
stehen Kejřs Ansichten über die gegenwärtige Rechtsgeschichte sehr nahe und ich
teile seine Meinung voll und ganz, dass die Rechtsgeschichte „vor allem ein historisches Fach“ von interdisziplinärem Charakter ist (S. 228-232). Auch seine Feststellung, dass ein Studium der Rechtsgeschichte nicht ohne Kenntnisse des Prozessrechts möglich ist und seine Äußerungen über das Niveau, das die Lehre und
Forschung der Rechtsgeschichte an den tschechischen juristischen Fakultäten heute
haben, kann man nur unterschreiben. Dieser Zustand hat dazu geführt, dass in
den letzten beiden Jahrzehnten solide rechtshistorische Forschung vor allem von
Archivaren, Mediävisten und Forschern aus dem Bereich der historischen Hilfswissenschaften geleistet wurde.
Das letzte Kapitel „Usque ad finem“ ist nur mehr eine abschließende Reflektion.
Am Ende des Buchs finden sich Erklärungen des Autors zu einigen verwendeten
Begriffen sowie ein Namensregister. Faktografisch ist Kejřs Buch (wie ich wiederholt bei verschiedenen Gelegenheiten überprüft habe) sehr zuverlässig. Sollte sich
der Autor dabei allein auf sein Gedächtnis verlassen haben, ist das eine unglaubliche
Leistung. Kejř legt mit seinen Erinnerungen nicht nur ein persönliches Zeugnis
ab, sondern bezieht auch klar Stellung zu den grundlegenden Fragen seines Fachs
und allgemeinen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens. Mitunter rechnet der Leser nach einer langen Hinführung gar nicht mehr mit so einer prägnanten Meinung. Was die Äußerungen über einzelne Personen angeht, zeigt sich Kejř überaus versöhnlich: Geht es um Negatives, führt er häufig keine Namen an oder
drückt sich sehr allgemein aus. Weiß er Positives über Kollegen und nahestehende
Personen zu berichten, tut er das mit Vergnügen. Vor 20 Jahren wäre sein Urteil vielleicht weniger nachsichtig ausgefallen, und meiner Meinung nach hätte das an manchen Stellen der Sache nicht geschadet. Denn so verschwimmen – etwa in der Beurteilung einstiger StB-Agenten im akademischen Milieu – die Hintergründe,
Umstände und Motive, die zu ihrem Handeln führten. Und das ist auch in Hinblick
auf die Rolle, die diese Menschen nach 1989 spielten und spielen durften, nicht ohne
Relevanz.
Kejřs Erinnerungen stellen ein wertvolles und intellektuell inspirierendes Werk
dar. Ihre Bedeutung liegt zu einen darin, dass sie Zeugnis vom Leben, den Meinungen und Einstellungen eines wichtigen tschechischen, nichtmarxistischen Mediävisten und Rechtswissenschaftlers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablegen.
Zum anderen bilden sie eine wertvolle Quelle für die Geschichte der tschechischen
Wissenschaft – insbesondere der Geschichts- und der Rechtswissenschaft – mit ihren
Besonderheiten, Deformationen und Paradoxien in der kommunistischen Zeit. Kejř
stand mitten in diesem Geschehen. Er betrachtete diese Deformationen und Paradoxien mit bewundernswerter Distanz und zugleich als etwas, mit dem man sich
arrangieren musste.
Prag
Petr Kreuz