Achtung vor den fremden Werken

FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG
Geisteswissenschaften
M I T T WO C H , 2 3 . S E P T E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 2 1 · S E I T E N 3
Raspails „Heerlager“
Apokalypse
lieber später
Monumente einer Philologie, die zur Bildung der Nation beitragen wollte: Bücher der Brüder Grimm in der unlängst eröffneten Kasseler „Grimmwelt“
ie Philologie als Verfahren, den
Sinn von Texte zu verstehen und
dabei die Voraussetzungen des
Verstehens zu reflektieren, hat in der Geschichte verschiedene Gestalten angenommen. Vertraut ist uns das deutsche
Modell einer national orientierten Disziplin. Doch als erkenntnisträchtiger erweist sich eine Komparatistik der Philologien, die ebenso vergessene eigene Traditionen heranzieht, wie sie den weltweiten Vergleich sucht, etwa in chinesischen
Traditionen der Interpretation von Literatur in Gedichten, in der Rivalität einer
poetischen und einer philologischen Disziplin in der arabischen Kultur im neunten Jahrhundert oder im Schaffen einer
Dichtersprache durch Sanskritgelehrte.
Friedrich Schleiermacher notierte
1805 für seine Berliner Hermeneutik-Vorlesung, Texte ließen sich auf zweierlei
Weisen verstehen. Entweder man geht
von dem Vorurteil aus, dass Texte grundsätzlich verständlich sind und es nur gilt,
konkrete Probleme des Verstehens aus
dem Weg zu räumen. Dann stehen die eigenen Erfahrungen im Zentrum: Das Verständnis ist an die Grenzen des eigenen
Lebens gebunden. Davon zeugt die gängige Auffassung, jeder habe ein Recht auf
seine eigene Lektüre. Oder man geht von
der ursprünglichen Unverständlichkeit
und Fremdheit der Texte aus und spricht
erst dann von Verstehen, wenn die Fremdheit nicht nur gesucht wird, sondern der
Philologe innerhalb des fremden Texts
auch dessen Notwendigkeit und innere
Logik erkennt und rekonstruiert. Schleiermacher votiert für den zweiten Weg und
verschafft den philologischen Wissenschaften, die sich vor allem schwierigen
Texten widmen, den nötigen Ernst.
Der Ernst ist heute alles andere als
selbstverständlich. Dominant ist die Vorstellung von der prinzipiellen Ambivalenz literarischer Werke, die einer Vielzahl von Lesern zu ihrer Entfaltung bedarf. Diese Vorstellung verbündet sich in
der Literaturwissenschaft häufig mit dem
Verfahren, die Bedeutung einzelner Textphänomene durch jeweils andere Theorien zu begründen. So zieht man Theorien und philosophische Ansätze aus anderen Fächern – Psychoanalyse, Soziologie, cultural studies – heran. Die solcherart gesteigerte theoretische Komplexität
wird für die angemessene Antwort auf literarische Vieldeutigkeit gehalten.
Umgekehrt greifen die Anstrengungen
in der analytischen Literaturwissenschaft zu kurz. Sie möchte die vorgebliche Offenheit durch eine begriffliche
Bestimmung der Analyseinstrumente
(Kontext, Autorschaft, Strukturen) kontrollieren. Allein es mangelt an Kriterien
dafür, wie die Begriffe im jeweiligen
D
Achtung vor den
fremden Werken
Zuerst lesen wir hingerissen, dann lesen wir
analytisch. Über die philologische Aufgabe,
den Sinn schwieriger Texte zu verstehen.
Von Christoph König
Werk angewandt werden sollen. Zu wenig Aufmerksamkeit schenkt man den eigenen Lektüren, die der wissenschaftliche Analyse tatsächlich vorausgehen.
Die Philologie kennt einen ihr eigenen
Königsweg: Sie sucht die Antwort auf die
Frage nach einer eigenen Wissenschaftstheorie in der Reflexivität ihrer Gegenstände. Weil die Poesie denkt, kann ihr
der Interpret gedanklich auf den Spuren
sein. Der Interpret trachtet danach, der
poetischen Reflexivität gerecht zu werden. Zur methodischen Kontrolle dieser
Spurensuche lässt sich die philologische
Praxis von einer Theorie der Praxis (wie
die Hermeneutik eine ist) steuern. Eine
insistierende Wiegebewegung zwischen
Lektüre und Reflexion der Bedingungen
der Lektüre entsteht. In diese Reflexion
sind maßgeblich die Philosophie und die
Wissenschaftsgeschichte einbezogen. Literaturwissenschaftliche Theorien erhalten allein dort eine Bedeutung, wo sie
von den Werken implizit selbst kommentiert werden und auf diese Weise deren
Teil geworden sind.
Emblematisch für das Verhältnis von
Textreflexion und dem Ernst philologischer Praxis ist die Frage des französischen Gräzisten Jean Bollack (F.A.Z. vom
6. Dezember 2012): „Würden Sie sich von
Ihrem Kollegen am offenen Herzen operieren lassen?“ Bollacks Frage richtet sich
auf die Qualität philologischer Praxis,
und sie fordert, dass es in den Philologien
genauso ernst zugehe wie in der Medizin.
Bollacks Sorge gilt, wenn man so will,
dem Leben der Werke. Auf die Richtigkeit der Lektüre komme es also an, und in
weiterer Folge auch auf Bildung und auf
gesellschaftliches Handeln, die beide auf
einer richtigen oder eben falschen Lektüre aufbauen. Viel stehe also auf dem
Spiel. Bollacks Sorge resultiert aus der zutreffenden Beobachtung, dass in den Geisteswissenschaften allgemein und den Literaturwissenschaften insbesondere das
Dogma der Pluralität den Ernst und die
Qualität der Forschung beeinträchtigt.
Zielt die Frage Bollacks darauf, die
Werke zu verteidigen, indem man ihre besondere Logik würdigt, so macht er damit
auch deutlich, wie diese Subjektivität zu
verteidigen sei: Im Mittelpunkt stehe eine
Handlung – das Operieren und nicht eine
Theorie des Herzens. Für eine Idee der
Philologie sei es also nicht nötig, den literarischen Gegenstand theoretisch zu bestimmen („Was ist Literatur?“), denn er
wird sich in seiner Individualität in der
Lektürepraxis erschließen. Die Ästhetik
ist der Philologie fremd.
Verstehen ohne Theorien
Die Germanistik beginnt um 1800, sich
als Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur zu institutionalisieren.
Sie tut das im Gravitationsfeld der schon
etwas früher erfolgreichen Klassischen
Philologie, und sie tut es auf naive Weise,
insofern sie die reine Spezialisierung als
Qualitätsmaßstab in den Vordergrund
schiebt. Das junge Fach grenzt sich so gegen eine öffentliche Legitimation (in Gestalt einer populären Vermittlung von
Wissen) und gegen die Theorie ab. Es
entstehen vor allem große Editionen
(wie Karl Lachmanns „Parzival“) oder
auch die ersten Bände des „Deutschen
Wörterbuchs“ von Jacob und Wilhelm
Grimm. Gleichzeitig erreicht die philologische Reflexion schon zu Beginn in
Deutschland eine unerhörte Höhe, die
der Diskussion von Dichtern, Philosophen und Philologen in Weimar und
Jena, von Goethe, Wilhelm von Humboldt und F. A. Wolf etwa, alles verdankt.
Das ist zumal in Friedrich Schlegels Notaten „Zur Philologie“ (1797) und in Schleiermachers Hermeneutik greifbar. In
Frontstellung dazu beharren die deutschen Philologen auf den Tugenden und
Charaktereigenschaften des „Sitzfleisches“. Die Rolle der Praxis verschafft
sich Gehör, doch bleibt sie unbedacht.
Der Erfolg der Germanistik verdankt
sich insgesamt nicht der Reflexion, sondern dem an sie herangetragenen Bildungsauftrag, der Rolle als Nationalphilologie. Die von den Fachgründern wie den
Grimms vorausgesetzte nationale Legitimation wird Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch die Bevorzugung des Deutschen an der Schule verstärkt. Und in der
Fächerkonkurrenz um 1900 behauptet
sich die bis dahin naiv an ihrer Praxis festhaltende Disziplin durch eine geistesgeschichtliche Grundlegung. Die literarischen Gegenstände erhalten einen diagnostischen Wert; sie werden gebraucht,
um die für höher gehaltenen Konstrukte
wie Leben, Geist, Nation, Stamm und
Volk zu erkennen. Die Diagnose unterläuft den Blick für die Eigengesetzlichkeit
der Werke; sie erleichtert freilich eine strategisch-funktionale Karriere der Disziplin. Dieses Erbe wirkt bis heute.
Kürzlich hat Peter Strohschneider die
notwendige Interaktion der Begriffe „Disziplin“ und „Relevanz“ entfaltet. Notwendig sei ihre Wechselwirkung, weil der
Selbstbezüglichkeit der Disziplinen die
Erwartungen demokratischer Mehrheiten entgegenzusetzen seien, um Prioritäten bilden zu können. Freilich funktioniert dieses Modell nicht mehr recht,
wenn die Disziplin, wie es heute der Fall
ist, in ihrer nationalen Relevanz geschwächt ist. Um die von Strohschneider
geforderten produktiven Spannungen zwischen Innen- und Außenperspektive auf
die Deutung von Literatur gleichwohl zu
bewahren, sollte man daher eine Logik
der subjektiven Forschung entwickeln, in
der diese Spannungen, buchstäblich am
Schreibtisch des Gelehrten und nicht disziplinär, aufrechterhalten werden.
Die Spannung von Verstehen und institutionellen wie auch bildungspolitischen
Ansprüchen ist der philologischen Praxis
immanent. Friedrich Schlegel schreibt in
einem seiner Fragmente: „Die Kritik der
schriftlichen Antiken beruht auf historistischen Prinzipien – besonders die sogenannte höhere.“ Historistisch bedeutet so
viel wie im Abstand geschichtlicher
Fremdheit – das ist der Ausgangspunkt,
um die Kräfte des Philologen anzuspannen. In einer dreifachen Stufung von „Wissenschaft“ (etwa der Grammatik), Vermögen (dazu zählen Hermeneutik und die höhere Kritik) und schließlich der Kunst steigern sich jene Kräfte. Im Zentrum steht
der Gedanke, dass in der Praxis Fähigkeiten auszubilden sind, kraft derer ein Leser
Regeln gebrauchen kann, ohne dafür
selbst wieder Regeln zu besitzen. Mit anderen Worten: Man kann Texte verstehen, gerade indem man sich in der Praxis des Verstehens nicht von Theorien leiten lässt.
Eine unausgesprochene Vernunft sei
anstelle der Regeln am Werk. Die solcher-
Foto Imago
art zustande gekommene Lektüre soll allerdings nachträglich reflektiert werden,
damit der Philologe beim nächsten Mal –
wieder ohne Regeln – noch genauer und
umfassender zu reagieren vermag. Wieder die Wiegebewegung. Schlegel spricht
von der „Cyklisation“ und meint ein Insistieren auf den Schwierigkeiten eines
Werks, indem man wiederholt die unwillkürlich gelingenden Lektüren reflektiert
und solcherart geübt immer neue (unwillkürliche) Lektüreanläufe unternimmt.
Das praktische Vermögen lasse sich in
die Höhe treiben. Das nennt Schlegel mit
Kants Worten „kunstmäßig“.
Der Stil und das Individuelle
Das Paradox einer kunstmäßig zu handhabenden Wissenschaft hat Schlegel zu lösen versucht, indem er die Kunst selbst
als die höchste Form des Verstehens heranzieht – und so seinen Roman „Lucinde“ schreibt. Heute sind die in diesem Paradox gewonnenen Einsichten diskursiv
zu begründen. Nicht als Kunst begründet
sich eine Einsicht, sondern im Argument.
Dabei sind drei Gesichtspunkte vorrangig: Die Philologien sind, erstens, historisch verfasst. Historisch sind sie in ihrem
Praxisbezug, zugleich gewinnen die Philologien daraus auch die Möglichkeit, Stellung zu beziehen. Denn im historischen
Vergleich zeigen sich Konstanten des Verstehens, die sich gegenüber den Einflüssen von Disziplin und Relevanz verteidigen lassen. In der Kenntnis der historischen Forschung lässt sich, zweitens, die
Idee der Tätigkeit freilegen, die sie konstituiert. Diese Tätigkeit ist von Kernkonflikten geprägt: In der philologischen Praxis
steht die Wissenschaft gegen die Kunst,
steht das ästhetische einem historischen
Interesse gegenüber, das die Philologie
als Altertumswissenschaft oder als Kulturwissenschaft prägt. Und der Erkenntniswille ist in Bildungsansprüche gebettet.
Schließlich geht es, drittens, um jene
Hartnäckigkeit, die Schlegel „Cyklisation“ nannte. Man erkennt die nötige Hartnäckigkeit an der Treue der Forscher zu
ihren Gedanken (die Zahl solcher Gedanken ist in einem Forscherleben naturgemäß beschränkt), an der Kritik solcher
Gedanken oder an der Diskussion früherer Forschungen, wie sie die Wissenschaftsgeschichte überliefert. Auf den Stil
kommt es bei alledem besonders an.
Nicht weil die Forschungsarbeiten schön
oder unterhaltsam sein sollen, sondern
weil der Gegenstand, das literarische
Werk, individuell ist. Im Stil lässt sich mit
den generellen Argumenten und den Begriffen der Wissenschaft gedanklich ringen, um die Individualität zu fassen. Der
Stil ist diese Gedankenarbeit.
Christoph König lehrt Neuere und Neueste deut-
sche Literatur an der Universität Osnabrück.
Kulinaristik oder die Lehre vom guten Leben
Erst kommt das gepflegte Fressen: In China trafen sich Germanisten aus aller Herren Ländern und sprachen auch über Ernährungskultur
Der 13. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik, der unlängst
an der Tongji-Universität in Schanghai
stattfand, wurde zur unverhofften diätetischen Erfahrung. Man traf auf manch ungewohnte Speise. Da passte es, dass sich
unter den zahlreichen Sektionen eine zur
Kulinaristik fand, die sich der elementaren Frage stellte: Was isst der Mensch und
warum? Eingeladen hatte das 2008 gegründete Kulinaristik-Forum, ein interdisziplinäres Netzwerk, das sich dem „sozialen Totalphänomen“ (Marcel Mauss) der
Ernährung widmet. Alois Wierlacher
(Walldorf) sprach das sogenannte Omnivor-Paradox an: Da der Mensch von Natur
aus alles essen kann, muss er selbst für
eine bekömmliche Auswahl sorgen. Religiöse Speisevorschriften sind eine mögliche Antwort.
Längst hat sich das Kulinarische zu einem komplexen Zeichensystem entwickelt, das zur Identitätsbildung beiträgt.
Kulturen definieren sich nicht zuletzt
über ihre Essensordnungen. Thomas
Wortmann (Mannheim) präsentierte
eine neue Lektüre von Jakob Michael
Reinhold Lenz’ Komödie „Der Hofmeister“, in deren Mittelpunkt die klassenspezifischen Codierung des Geschmacks
stand: Der Hauslehrer Läuffer scheitert,
weil er das Falsche verzehrt und begehrt.
Sein Gegenbild ist der Schulmeister Wenzeslaus, dessen Freiheit in der Beschränkung liegt. Statt Kapaun mit Champignonsauce isst er lieber Gurkensalat und
Wurst; statt die Tochter der Herrschaft zu
schwängern, saugt er am Brustersatz seiner Pfeife. Eine standesgemäße Diät zu
wählen ist Bürgerpflicht – und auf jeden
Fall eine konsequent durchgeführte, für
das zeitgenössische Publikum unmittelbar verständliche Bedeutungsebene.
Leyla Coşan (Istanbul) untersuchte
deutsche Reiseberichte aus dem Osmanischen, Reich hinsichtlich der Ess- und
Trinkgewohnheiten. Während Martin Luther die militärischen Erfolge der Türken
darauf zurückführte, dass sie weniger
„sauffen und fressen“ als die deutschen
Landsknechte, dominiert in späteren Beschreibungen das Klischee ihres maßlosen Umgangs mit Knoblauch, Zucker und
dem an sich verbotenen Alkohol. Noch
als Wilhelm II. 1898 auf dem Weg nach
Palästina in Istanbul Station machte,
klagte sein Leibkoch über die „für Europäer ungenießbaren“ Süßspeisen. Selbst
der geschätzte café turc wurde zum Problem, da die Delegation ihn bis zu zwanzigmal am Tag zur Begrüßung einnehmen muss.
Heute steht die türkische Kaffeekultur
neben dem Mahl der Franzosen auf der
Liste des immateriellen Kulturerbes der
Unesco, die zurzeit keine deutschen Einträge kennt. Das scheinbar wertfreie Nebeneinander
konkurrierender
Geschmackssysteme verdeckt die Sprengkraft kulinarischer Fremdheitserfahrungen. Schließlich ist es etwas anderes, sich
die Produkte einer fremden Küche einzuverleiben, als die musealisierten Artefakte des Weltkulturerbes bloß zu betrachten. Ess- und Verdauungsanekdoten gehö-
ren daher bis heute zum Kernrepertoire
der Reisepublizistik.
Wie eng Moral und Kochkunst verwoben sind, zeigte Dessislava Stoeva-Holm
(Uppsala) anhand des „Koch-Gesprächs“, das Ditlevus Maius, Leibkoch
der Königin Christina von Schweden,
1644 vorlegte. Die Küche erscheint als
zentrale Schaltstelle, um Leib und Seele
gesund zu erhalten, so dass die Rezepte ihren vollen Sinn erst im Zusammenspiel
mit dem medizinisch-theologischen Überbau entfalten. Von dieser Einsicht kann
die moderne Kochbuchforschung nur profitieren. Der Streit über das richtige Essen meint meist das gute Leben im Ganzen. Auch die Molekularküche bekam in
Schanghai ihr Fett weg. Im Anschluss an
den Vortrag der Linguistin Beate HennMemmesheimer
(Mannheim)
über
„Schaum“ in der Gegenwartssprache kam
es zu der überraschend einmütigen Feststellung, die Erfindung der Espuma durch
Ferran Adrià sei „Missbrauch des Sahnespenders“, der nur naturwissenschaftli-
che Laien begeistern könne. In der Popularkultur ist ein Abflauen der regressiven
Tendenz zum Schaumschlürfen nicht zu
erwarten. Selbst in Asien breitet sich das
Latte-macchiato-Wesen flächendeckend
aus.
Wie Google hat die Volksrepublik einen großen Magen und will nur das Gute
in der Welt. Statt über die Krise der Geisteswissenschaften zu klagen, wurde der
Germanistik im Reich der Mitte eine glänzende Zukunft im Windschatten der Wirtschaft prophezeit. Und so kooperiert das
Kulinaristik-Forum eher mit China statt
mit Indien oder Japan. Rätselhaft bleibt,
wie es dazu kam, dass Goethes Geburtstag, der in Weimar traditionell mit einem
Festmahl begangen wird, ausgerechnet
auf der weltgrößten Germanisten-Versammlung unter den Tisch fiel. Taiwan
und Hongkong vermarkten den Geburtstag des Konfuzius sogar als Touristenattraktion. Die Statue des Vorsitzenden
Mao auf dem Campus lächelt darüber souverän hinweg. CHRISTOPH SCHMÄLZLE
800 000 Flüchtlinge kommen an Ostern
in Europa an. Und das Abendland geht
diesmal wirklich unter. So malte es sich
der französische Schriftsteller Jean Raspail 1973 in seinem Roman „Das Heerlager der Heiligen“ (Verlag Antaios,
Schnellroda 2015) aus. Unlängst feierte
er, der Royalist und katholische Reaktionär, seinen neunzigsten Geburtstag. Raspails Buch ist so wenig realistisch wie
Huxleys Dystopie „Schöne neue Welt“
(die allerdings die Vorlage aller Kulturkritik an der genetischen oder drogen-chemischen Verbesserung des Menschen bis
heute abgibt) oder wie Orwells „1984“,
ein Roman, der in manchen Diagnosen
des Abhörens von der Wirklichkeit längst
überholt wurde, sich andererseits aber
das Schreckensszenario nur stalinistischbrutal und nicht kapitalistisch-sanft vorstellen konnte.
Raspails Vision war eine Dimension
der Zuwanderung, die weit über das damals rational prognostizierbare hinausging, und insofern hat sein Roman in der
Tat prophetische oder albtraumhafte
Qualitäten. Allerdings „irrte“ er, wenn
man das bei visionären literarischen Werken überhaupt sagen kann, indem er seiner Geschichte einen apokalyptischen
Plot unterlegte. Schon der Titel des Romans spielt auf die Offenbarung des Johannes an, und das vorangestellte Motto
spricht es geradezu aus: „Und wenn die
tausend Jahre vollendet sein werden,
wird der Satan aus seinem Gefängnisse
losgelassen und wird ausgehen und die
Völker verführen, die an den vier Enden
der Erde sind, deren Zahl ist wie der
Sand des Meeres, und wird sie zum Kampfe versammeln. Und sie zogen herauf
über die Breite der Erde und umringten
das Heerlager der Heiligen.“ Der Feind
ist „das Tier“ der Apokalypse.
Martin Lichtmesz, der verdienstvolle
Übersetzer der neuen Ausgabe, hat auf
diese apokalyptische Erzähltechnik hingewiesen – mit einer überraschenden
Pointe. Wenn Raspail die Menschen der
indischen Armada, die an der Südküste
Frankreichs anlanden, in der Art von
Zombies schildere, so nehme er doch nur
einen Gedanken Jean-Paul Sartres auf,
den dieser bei Gelegenheit von Frantz Fanons Dritte-Welt-Manifest „Die Verdammten dieser Erde“ formuliert hatte.
Sartre schrieb nämlich, in einer auch von
Raspail kaum überbotenen obszönen
Phantasmagorie grauenhafter EndSchlachten: „Europäer, ihr müsst dieses
Buch öffnen und darin eintreten. Nach
ein paar Schritten in der Dunkelheit werdet ihr Fremde sehen, um ein Feuer versammelt; tretet näher, hört hin, denn sie
sprechen von dem Schicksal, das sie euren Handelszentren zugedacht haben,
und den Söldnern, die diese schützen sollen. Sie werden euch sehen – vielleicht –,
aber sie werden fortfahren, untereinander zu sprechen, und sie werden noch
nicht einmal ihre Stimmen dämpfen.
(. . .) Ihre Väter waren nur tote Seelen,
ihr habt euch nicht die Mühe gemacht,
mit solchen Zombies zu reden. Dreht
und wendet euch, wie ihr wollt, in diesem Schattenreich, das eine neue Morgenröte ankündigt, werdet ihr die Zombies sein.“
Von einer „modernen Völkerwanderung“, die wir gerade erleben, sprach am
vergangenen Wochenende auch Bundesinnenminister de Maizière. Auch er sieht
die völlig neue Dimension der Flüchtlingsbewegung. Der Unterschied liegt in
der Bewältigung. Bei Raspail brechen die
gewohnten Verwaltungsapparate zusammen, vielmehr sie lösen sich auf. Der Armee ist nicht mehr zu trauen, Truppen,
die man nach Süden hatte schicken wollen, setzen sich in aller Stille ab. Das deutsche Wunder aber ist die – bislang noch –
relative Stabilität der Verwaltungen.
Immerhin knirscht es vernehmlich,
und das unangenehme Begleitgeräusch
wird zunehmen. Dass jemand wird bezahlen müssen und dass es nicht die Konzerne sein werden, ist wohl schon klar; der
Mindestlohn wird in diesen Tagen in Frage gestellt, Kirchenmänner wie der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mahnen bereits: „Unser Wohlstand und die
Weise, in Frieden zu leben, werden sich
ändern.“ Auch der Münchner Kardinal
Reinhard Marx erklärte unlängst,
Deutschland dürfe keine „Insel des Wohlstands werden“. Die Stimmung in
Deutschland ist derzeit in hohem Maße
beweglich.
Raspails literarische Leistung geht
aber über das Groteske und Apokalyptische weit hinaus. Und dies ist es, was das
Buch auch heute lesbar macht: die ungemein starke satirische Kraft in der Vision, die der europäische Zerfallsprozess
freisetzt. Auf den letzten Seiten bringen
sich die Neutralen in Sicherheit: „Denn
die Schweiz hatte mobilgemacht. Wie immer, wenn ein Weltkrieg um sie herum
ausbrach. Sie ernannte einen befehlshabenden General. Sie schloss die Grenzen.“ Dunkle Hautfarbe gilt als Verdachtsgrund: „Wobei ich mich frage“,
sagt der Erzähler, „ob das im Bannerträgerland der internationalen Freiheiten
nicht immer schon so gewesen ist.“
„Das Heerlager der Heiligen“ dürfte
ein Kultbuch werden. Aber eine apokalyptische literarische Erfindung ist kein
Ratgeberbuch, auch nicht für die intellekLORENZ JÄGER
tuelle Rechte.