FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG Geisteswissenschaften M I T T WO C H , 2 3 . S E P T E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 2 1 · S E I T E N 3 Raspails „Heerlager“ Apokalypse lieber später Monumente einer Philologie, die zur Bildung der Nation beitragen wollte: Bücher der Brüder Grimm in der unlängst eröffneten Kasseler „Grimmwelt“ ie Philologie als Verfahren, den Sinn von Texte zu verstehen und dabei die Voraussetzungen des Verstehens zu reflektieren, hat in der Geschichte verschiedene Gestalten angenommen. Vertraut ist uns das deutsche Modell einer national orientierten Disziplin. Doch als erkenntnisträchtiger erweist sich eine Komparatistik der Philologien, die ebenso vergessene eigene Traditionen heranzieht, wie sie den weltweiten Vergleich sucht, etwa in chinesischen Traditionen der Interpretation von Literatur in Gedichten, in der Rivalität einer poetischen und einer philologischen Disziplin in der arabischen Kultur im neunten Jahrhundert oder im Schaffen einer Dichtersprache durch Sanskritgelehrte. Friedrich Schleiermacher notierte 1805 für seine Berliner Hermeneutik-Vorlesung, Texte ließen sich auf zweierlei Weisen verstehen. Entweder man geht von dem Vorurteil aus, dass Texte grundsätzlich verständlich sind und es nur gilt, konkrete Probleme des Verstehens aus dem Weg zu räumen. Dann stehen die eigenen Erfahrungen im Zentrum: Das Verständnis ist an die Grenzen des eigenen Lebens gebunden. Davon zeugt die gängige Auffassung, jeder habe ein Recht auf seine eigene Lektüre. Oder man geht von der ursprünglichen Unverständlichkeit und Fremdheit der Texte aus und spricht erst dann von Verstehen, wenn die Fremdheit nicht nur gesucht wird, sondern der Philologe innerhalb des fremden Texts auch dessen Notwendigkeit und innere Logik erkennt und rekonstruiert. Schleiermacher votiert für den zweiten Weg und verschafft den philologischen Wissenschaften, die sich vor allem schwierigen Texten widmen, den nötigen Ernst. Der Ernst ist heute alles andere als selbstverständlich. Dominant ist die Vorstellung von der prinzipiellen Ambivalenz literarischer Werke, die einer Vielzahl von Lesern zu ihrer Entfaltung bedarf. Diese Vorstellung verbündet sich in der Literaturwissenschaft häufig mit dem Verfahren, die Bedeutung einzelner Textphänomene durch jeweils andere Theorien zu begründen. So zieht man Theorien und philosophische Ansätze aus anderen Fächern – Psychoanalyse, Soziologie, cultural studies – heran. Die solcherart gesteigerte theoretische Komplexität wird für die angemessene Antwort auf literarische Vieldeutigkeit gehalten. Umgekehrt greifen die Anstrengungen in der analytischen Literaturwissenschaft zu kurz. Sie möchte die vorgebliche Offenheit durch eine begriffliche Bestimmung der Analyseinstrumente (Kontext, Autorschaft, Strukturen) kontrollieren. Allein es mangelt an Kriterien dafür, wie die Begriffe im jeweiligen D Achtung vor den fremden Werken Zuerst lesen wir hingerissen, dann lesen wir analytisch. Über die philologische Aufgabe, den Sinn schwieriger Texte zu verstehen. Von Christoph König Werk angewandt werden sollen. Zu wenig Aufmerksamkeit schenkt man den eigenen Lektüren, die der wissenschaftliche Analyse tatsächlich vorausgehen. Die Philologie kennt einen ihr eigenen Königsweg: Sie sucht die Antwort auf die Frage nach einer eigenen Wissenschaftstheorie in der Reflexivität ihrer Gegenstände. Weil die Poesie denkt, kann ihr der Interpret gedanklich auf den Spuren sein. Der Interpret trachtet danach, der poetischen Reflexivität gerecht zu werden. Zur methodischen Kontrolle dieser Spurensuche lässt sich die philologische Praxis von einer Theorie der Praxis (wie die Hermeneutik eine ist) steuern. Eine insistierende Wiegebewegung zwischen Lektüre und Reflexion der Bedingungen der Lektüre entsteht. In diese Reflexion sind maßgeblich die Philosophie und die Wissenschaftsgeschichte einbezogen. Literaturwissenschaftliche Theorien erhalten allein dort eine Bedeutung, wo sie von den Werken implizit selbst kommentiert werden und auf diese Weise deren Teil geworden sind. Emblematisch für das Verhältnis von Textreflexion und dem Ernst philologischer Praxis ist die Frage des französischen Gräzisten Jean Bollack (F.A.Z. vom 6. Dezember 2012): „Würden Sie sich von Ihrem Kollegen am offenen Herzen operieren lassen?“ Bollacks Frage richtet sich auf die Qualität philologischer Praxis, und sie fordert, dass es in den Philologien genauso ernst zugehe wie in der Medizin. Bollacks Sorge gilt, wenn man so will, dem Leben der Werke. Auf die Richtigkeit der Lektüre komme es also an, und in weiterer Folge auch auf Bildung und auf gesellschaftliches Handeln, die beide auf einer richtigen oder eben falschen Lektüre aufbauen. Viel stehe also auf dem Spiel. Bollacks Sorge resultiert aus der zutreffenden Beobachtung, dass in den Geisteswissenschaften allgemein und den Literaturwissenschaften insbesondere das Dogma der Pluralität den Ernst und die Qualität der Forschung beeinträchtigt. Zielt die Frage Bollacks darauf, die Werke zu verteidigen, indem man ihre besondere Logik würdigt, so macht er damit auch deutlich, wie diese Subjektivität zu verteidigen sei: Im Mittelpunkt stehe eine Handlung – das Operieren und nicht eine Theorie des Herzens. Für eine Idee der Philologie sei es also nicht nötig, den literarischen Gegenstand theoretisch zu bestimmen („Was ist Literatur?“), denn er wird sich in seiner Individualität in der Lektürepraxis erschließen. Die Ästhetik ist der Philologie fremd. Verstehen ohne Theorien Die Germanistik beginnt um 1800, sich als Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur zu institutionalisieren. Sie tut das im Gravitationsfeld der schon etwas früher erfolgreichen Klassischen Philologie, und sie tut es auf naive Weise, insofern sie die reine Spezialisierung als Qualitätsmaßstab in den Vordergrund schiebt. Das junge Fach grenzt sich so gegen eine öffentliche Legitimation (in Gestalt einer populären Vermittlung von Wissen) und gegen die Theorie ab. Es entstehen vor allem große Editionen (wie Karl Lachmanns „Parzival“) oder auch die ersten Bände des „Deutschen Wörterbuchs“ von Jacob und Wilhelm Grimm. Gleichzeitig erreicht die philologische Reflexion schon zu Beginn in Deutschland eine unerhörte Höhe, die der Diskussion von Dichtern, Philosophen und Philologen in Weimar und Jena, von Goethe, Wilhelm von Humboldt und F. A. Wolf etwa, alles verdankt. Das ist zumal in Friedrich Schlegels Notaten „Zur Philologie“ (1797) und in Schleiermachers Hermeneutik greifbar. In Frontstellung dazu beharren die deutschen Philologen auf den Tugenden und Charaktereigenschaften des „Sitzfleisches“. Die Rolle der Praxis verschafft sich Gehör, doch bleibt sie unbedacht. Der Erfolg der Germanistik verdankt sich insgesamt nicht der Reflexion, sondern dem an sie herangetragenen Bildungsauftrag, der Rolle als Nationalphilologie. Die von den Fachgründern wie den Grimms vorausgesetzte nationale Legitimation wird Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch die Bevorzugung des Deutschen an der Schule verstärkt. Und in der Fächerkonkurrenz um 1900 behauptet sich die bis dahin naiv an ihrer Praxis festhaltende Disziplin durch eine geistesgeschichtliche Grundlegung. Die literarischen Gegenstände erhalten einen diagnostischen Wert; sie werden gebraucht, um die für höher gehaltenen Konstrukte wie Leben, Geist, Nation, Stamm und Volk zu erkennen. Die Diagnose unterläuft den Blick für die Eigengesetzlichkeit der Werke; sie erleichtert freilich eine strategisch-funktionale Karriere der Disziplin. Dieses Erbe wirkt bis heute. Kürzlich hat Peter Strohschneider die notwendige Interaktion der Begriffe „Disziplin“ und „Relevanz“ entfaltet. Notwendig sei ihre Wechselwirkung, weil der Selbstbezüglichkeit der Disziplinen die Erwartungen demokratischer Mehrheiten entgegenzusetzen seien, um Prioritäten bilden zu können. Freilich funktioniert dieses Modell nicht mehr recht, wenn die Disziplin, wie es heute der Fall ist, in ihrer nationalen Relevanz geschwächt ist. Um die von Strohschneider geforderten produktiven Spannungen zwischen Innen- und Außenperspektive auf die Deutung von Literatur gleichwohl zu bewahren, sollte man daher eine Logik der subjektiven Forschung entwickeln, in der diese Spannungen, buchstäblich am Schreibtisch des Gelehrten und nicht disziplinär, aufrechterhalten werden. Die Spannung von Verstehen und institutionellen wie auch bildungspolitischen Ansprüchen ist der philologischen Praxis immanent. Friedrich Schlegel schreibt in einem seiner Fragmente: „Die Kritik der schriftlichen Antiken beruht auf historistischen Prinzipien – besonders die sogenannte höhere.“ Historistisch bedeutet so viel wie im Abstand geschichtlicher Fremdheit – das ist der Ausgangspunkt, um die Kräfte des Philologen anzuspannen. In einer dreifachen Stufung von „Wissenschaft“ (etwa der Grammatik), Vermögen (dazu zählen Hermeneutik und die höhere Kritik) und schließlich der Kunst steigern sich jene Kräfte. Im Zentrum steht der Gedanke, dass in der Praxis Fähigkeiten auszubilden sind, kraft derer ein Leser Regeln gebrauchen kann, ohne dafür selbst wieder Regeln zu besitzen. Mit anderen Worten: Man kann Texte verstehen, gerade indem man sich in der Praxis des Verstehens nicht von Theorien leiten lässt. Eine unausgesprochene Vernunft sei anstelle der Regeln am Werk. Die solcher- Foto Imago art zustande gekommene Lektüre soll allerdings nachträglich reflektiert werden, damit der Philologe beim nächsten Mal – wieder ohne Regeln – noch genauer und umfassender zu reagieren vermag. Wieder die Wiegebewegung. Schlegel spricht von der „Cyklisation“ und meint ein Insistieren auf den Schwierigkeiten eines Werks, indem man wiederholt die unwillkürlich gelingenden Lektüren reflektiert und solcherart geübt immer neue (unwillkürliche) Lektüreanläufe unternimmt. Das praktische Vermögen lasse sich in die Höhe treiben. Das nennt Schlegel mit Kants Worten „kunstmäßig“. Der Stil und das Individuelle Das Paradox einer kunstmäßig zu handhabenden Wissenschaft hat Schlegel zu lösen versucht, indem er die Kunst selbst als die höchste Form des Verstehens heranzieht – und so seinen Roman „Lucinde“ schreibt. Heute sind die in diesem Paradox gewonnenen Einsichten diskursiv zu begründen. Nicht als Kunst begründet sich eine Einsicht, sondern im Argument. Dabei sind drei Gesichtspunkte vorrangig: Die Philologien sind, erstens, historisch verfasst. Historisch sind sie in ihrem Praxisbezug, zugleich gewinnen die Philologien daraus auch die Möglichkeit, Stellung zu beziehen. Denn im historischen Vergleich zeigen sich Konstanten des Verstehens, die sich gegenüber den Einflüssen von Disziplin und Relevanz verteidigen lassen. In der Kenntnis der historischen Forschung lässt sich, zweitens, die Idee der Tätigkeit freilegen, die sie konstituiert. Diese Tätigkeit ist von Kernkonflikten geprägt: In der philologischen Praxis steht die Wissenschaft gegen die Kunst, steht das ästhetische einem historischen Interesse gegenüber, das die Philologie als Altertumswissenschaft oder als Kulturwissenschaft prägt. Und der Erkenntniswille ist in Bildungsansprüche gebettet. Schließlich geht es, drittens, um jene Hartnäckigkeit, die Schlegel „Cyklisation“ nannte. Man erkennt die nötige Hartnäckigkeit an der Treue der Forscher zu ihren Gedanken (die Zahl solcher Gedanken ist in einem Forscherleben naturgemäß beschränkt), an der Kritik solcher Gedanken oder an der Diskussion früherer Forschungen, wie sie die Wissenschaftsgeschichte überliefert. Auf den Stil kommt es bei alledem besonders an. Nicht weil die Forschungsarbeiten schön oder unterhaltsam sein sollen, sondern weil der Gegenstand, das literarische Werk, individuell ist. Im Stil lässt sich mit den generellen Argumenten und den Begriffen der Wissenschaft gedanklich ringen, um die Individualität zu fassen. Der Stil ist diese Gedankenarbeit. Christoph König lehrt Neuere und Neueste deut- sche Literatur an der Universität Osnabrück. Kulinaristik oder die Lehre vom guten Leben Erst kommt das gepflegte Fressen: In China trafen sich Germanisten aus aller Herren Ländern und sprachen auch über Ernährungskultur Der 13. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik, der unlängst an der Tongji-Universität in Schanghai stattfand, wurde zur unverhofften diätetischen Erfahrung. Man traf auf manch ungewohnte Speise. Da passte es, dass sich unter den zahlreichen Sektionen eine zur Kulinaristik fand, die sich der elementaren Frage stellte: Was isst der Mensch und warum? Eingeladen hatte das 2008 gegründete Kulinaristik-Forum, ein interdisziplinäres Netzwerk, das sich dem „sozialen Totalphänomen“ (Marcel Mauss) der Ernährung widmet. Alois Wierlacher (Walldorf) sprach das sogenannte Omnivor-Paradox an: Da der Mensch von Natur aus alles essen kann, muss er selbst für eine bekömmliche Auswahl sorgen. Religiöse Speisevorschriften sind eine mögliche Antwort. Längst hat sich das Kulinarische zu einem komplexen Zeichensystem entwickelt, das zur Identitätsbildung beiträgt. Kulturen definieren sich nicht zuletzt über ihre Essensordnungen. Thomas Wortmann (Mannheim) präsentierte eine neue Lektüre von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Komödie „Der Hofmeister“, in deren Mittelpunkt die klassenspezifischen Codierung des Geschmacks stand: Der Hauslehrer Läuffer scheitert, weil er das Falsche verzehrt und begehrt. Sein Gegenbild ist der Schulmeister Wenzeslaus, dessen Freiheit in der Beschränkung liegt. Statt Kapaun mit Champignonsauce isst er lieber Gurkensalat und Wurst; statt die Tochter der Herrschaft zu schwängern, saugt er am Brustersatz seiner Pfeife. Eine standesgemäße Diät zu wählen ist Bürgerpflicht – und auf jeden Fall eine konsequent durchgeführte, für das zeitgenössische Publikum unmittelbar verständliche Bedeutungsebene. Leyla Coşan (Istanbul) untersuchte deutsche Reiseberichte aus dem Osmanischen, Reich hinsichtlich der Ess- und Trinkgewohnheiten. Während Martin Luther die militärischen Erfolge der Türken darauf zurückführte, dass sie weniger „sauffen und fressen“ als die deutschen Landsknechte, dominiert in späteren Beschreibungen das Klischee ihres maßlosen Umgangs mit Knoblauch, Zucker und dem an sich verbotenen Alkohol. Noch als Wilhelm II. 1898 auf dem Weg nach Palästina in Istanbul Station machte, klagte sein Leibkoch über die „für Europäer ungenießbaren“ Süßspeisen. Selbst der geschätzte café turc wurde zum Problem, da die Delegation ihn bis zu zwanzigmal am Tag zur Begrüßung einnehmen muss. Heute steht die türkische Kaffeekultur neben dem Mahl der Franzosen auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco, die zurzeit keine deutschen Einträge kennt. Das scheinbar wertfreie Nebeneinander konkurrierender Geschmackssysteme verdeckt die Sprengkraft kulinarischer Fremdheitserfahrungen. Schließlich ist es etwas anderes, sich die Produkte einer fremden Küche einzuverleiben, als die musealisierten Artefakte des Weltkulturerbes bloß zu betrachten. Ess- und Verdauungsanekdoten gehö- ren daher bis heute zum Kernrepertoire der Reisepublizistik. Wie eng Moral und Kochkunst verwoben sind, zeigte Dessislava Stoeva-Holm (Uppsala) anhand des „Koch-Gesprächs“, das Ditlevus Maius, Leibkoch der Königin Christina von Schweden, 1644 vorlegte. Die Küche erscheint als zentrale Schaltstelle, um Leib und Seele gesund zu erhalten, so dass die Rezepte ihren vollen Sinn erst im Zusammenspiel mit dem medizinisch-theologischen Überbau entfalten. Von dieser Einsicht kann die moderne Kochbuchforschung nur profitieren. Der Streit über das richtige Essen meint meist das gute Leben im Ganzen. Auch die Molekularküche bekam in Schanghai ihr Fett weg. Im Anschluss an den Vortrag der Linguistin Beate HennMemmesheimer (Mannheim) über „Schaum“ in der Gegenwartssprache kam es zu der überraschend einmütigen Feststellung, die Erfindung der Espuma durch Ferran Adrià sei „Missbrauch des Sahnespenders“, der nur naturwissenschaftli- che Laien begeistern könne. In der Popularkultur ist ein Abflauen der regressiven Tendenz zum Schaumschlürfen nicht zu erwarten. Selbst in Asien breitet sich das Latte-macchiato-Wesen flächendeckend aus. Wie Google hat die Volksrepublik einen großen Magen und will nur das Gute in der Welt. Statt über die Krise der Geisteswissenschaften zu klagen, wurde der Germanistik im Reich der Mitte eine glänzende Zukunft im Windschatten der Wirtschaft prophezeit. Und so kooperiert das Kulinaristik-Forum eher mit China statt mit Indien oder Japan. Rätselhaft bleibt, wie es dazu kam, dass Goethes Geburtstag, der in Weimar traditionell mit einem Festmahl begangen wird, ausgerechnet auf der weltgrößten Germanisten-Versammlung unter den Tisch fiel. Taiwan und Hongkong vermarkten den Geburtstag des Konfuzius sogar als Touristenattraktion. Die Statue des Vorsitzenden Mao auf dem Campus lächelt darüber souverän hinweg. CHRISTOPH SCHMÄLZLE 800 000 Flüchtlinge kommen an Ostern in Europa an. Und das Abendland geht diesmal wirklich unter. So malte es sich der französische Schriftsteller Jean Raspail 1973 in seinem Roman „Das Heerlager der Heiligen“ (Verlag Antaios, Schnellroda 2015) aus. Unlängst feierte er, der Royalist und katholische Reaktionär, seinen neunzigsten Geburtstag. Raspails Buch ist so wenig realistisch wie Huxleys Dystopie „Schöne neue Welt“ (die allerdings die Vorlage aller Kulturkritik an der genetischen oder drogen-chemischen Verbesserung des Menschen bis heute abgibt) oder wie Orwells „1984“, ein Roman, der in manchen Diagnosen des Abhörens von der Wirklichkeit längst überholt wurde, sich andererseits aber das Schreckensszenario nur stalinistischbrutal und nicht kapitalistisch-sanft vorstellen konnte. Raspails Vision war eine Dimension der Zuwanderung, die weit über das damals rational prognostizierbare hinausging, und insofern hat sein Roman in der Tat prophetische oder albtraumhafte Qualitäten. Allerdings „irrte“ er, wenn man das bei visionären literarischen Werken überhaupt sagen kann, indem er seiner Geschichte einen apokalyptischen Plot unterlegte. Schon der Titel des Romans spielt auf die Offenbarung des Johannes an, und das vorangestellte Motto spricht es geradezu aus: „Und wenn die tausend Jahre vollendet sein werden, wird der Satan aus seinem Gefängnisse losgelassen und wird ausgehen und die Völker verführen, die an den vier Enden der Erde sind, deren Zahl ist wie der Sand des Meeres, und wird sie zum Kampfe versammeln. Und sie zogen herauf über die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen.“ Der Feind ist „das Tier“ der Apokalypse. Martin Lichtmesz, der verdienstvolle Übersetzer der neuen Ausgabe, hat auf diese apokalyptische Erzähltechnik hingewiesen – mit einer überraschenden Pointe. Wenn Raspail die Menschen der indischen Armada, die an der Südküste Frankreichs anlanden, in der Art von Zombies schildere, so nehme er doch nur einen Gedanken Jean-Paul Sartres auf, den dieser bei Gelegenheit von Frantz Fanons Dritte-Welt-Manifest „Die Verdammten dieser Erde“ formuliert hatte. Sartre schrieb nämlich, in einer auch von Raspail kaum überbotenen obszönen Phantasmagorie grauenhafter EndSchlachten: „Europäer, ihr müsst dieses Buch öffnen und darin eintreten. Nach ein paar Schritten in der Dunkelheit werdet ihr Fremde sehen, um ein Feuer versammelt; tretet näher, hört hin, denn sie sprechen von dem Schicksal, das sie euren Handelszentren zugedacht haben, und den Söldnern, die diese schützen sollen. Sie werden euch sehen – vielleicht –, aber sie werden fortfahren, untereinander zu sprechen, und sie werden noch nicht einmal ihre Stimmen dämpfen. (. . .) Ihre Väter waren nur tote Seelen, ihr habt euch nicht die Mühe gemacht, mit solchen Zombies zu reden. Dreht und wendet euch, wie ihr wollt, in diesem Schattenreich, das eine neue Morgenröte ankündigt, werdet ihr die Zombies sein.“ Von einer „modernen Völkerwanderung“, die wir gerade erleben, sprach am vergangenen Wochenende auch Bundesinnenminister de Maizière. Auch er sieht die völlig neue Dimension der Flüchtlingsbewegung. Der Unterschied liegt in der Bewältigung. Bei Raspail brechen die gewohnten Verwaltungsapparate zusammen, vielmehr sie lösen sich auf. Der Armee ist nicht mehr zu trauen, Truppen, die man nach Süden hatte schicken wollen, setzen sich in aller Stille ab. Das deutsche Wunder aber ist die – bislang noch – relative Stabilität der Verwaltungen. Immerhin knirscht es vernehmlich, und das unangenehme Begleitgeräusch wird zunehmen. Dass jemand wird bezahlen müssen und dass es nicht die Konzerne sein werden, ist wohl schon klar; der Mindestlohn wird in diesen Tagen in Frage gestellt, Kirchenmänner wie der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mahnen bereits: „Unser Wohlstand und die Weise, in Frieden zu leben, werden sich ändern.“ Auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx erklärte unlängst, Deutschland dürfe keine „Insel des Wohlstands werden“. Die Stimmung in Deutschland ist derzeit in hohem Maße beweglich. Raspails literarische Leistung geht aber über das Groteske und Apokalyptische weit hinaus. Und dies ist es, was das Buch auch heute lesbar macht: die ungemein starke satirische Kraft in der Vision, die der europäische Zerfallsprozess freisetzt. Auf den letzten Seiten bringen sich die Neutralen in Sicherheit: „Denn die Schweiz hatte mobilgemacht. Wie immer, wenn ein Weltkrieg um sie herum ausbrach. Sie ernannte einen befehlshabenden General. Sie schloss die Grenzen.“ Dunkle Hautfarbe gilt als Verdachtsgrund: „Wobei ich mich frage“, sagt der Erzähler, „ob das im Bannerträgerland der internationalen Freiheiten nicht immer schon so gewesen ist.“ „Das Heerlager der Heiligen“ dürfte ein Kultbuch werden. Aber eine apokalyptische literarische Erfindung ist kein Ratgeberbuch, auch nicht für die intellekLORENZ JÄGER tuelle Rechte.
© Copyright 2024 ExpyDoc