Erika Thomalla (Berlin) Die polemische Sippschaft. Philologische Netzwerke im 19. Jahrhundert In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit der deutschen Philologie ein neues Fach an den Universitäten etabliert, das für Jahrzehnte ein uneinheitliches Bild abgab. Die Vertreter der entstehenden Disziplin befanden sich weder über ihre Gegenstände noch über ihre Methoden im Konsens: Neben deutscher Sprache und Literatur wurden vielfach auch politische Geschichte oder Rechtshistorie, kulturelle Sitten und Gebräuche gelehrt. Den Verfechtern einer strengen philologischen Textkritik standen Fachvertreter gegenüber, denen es in erster Linie um die breitenwirksame Vermittlung deutschen Kulturguts ging. Auch die Konsolidierung des Fachs ist von Unregelmäßigkeiten geprägt: Neu eingerichtete Lehrstühle wurden nach der Versetzung oder dem Tod des Inhabers oft jahrelang nicht nachbesetzt, zudem wurden immer wieder auch fachfremde Wissenschaftler berufen. Mein Vortrag geht der Frage nach, wie es den Vertretern der deutschen Philologie trotz dieser ungünstigen Ausgangslage gelang, einen Bedarf für ihr Fach zu formulieren, ein spezifisch philologisches „Ethos“ zu entwerfen sowie Paradigmen philologischer Professionalität zu etablieren. Die These lautet, dass die Formierung wissenschaftlicher Communities vor allem über nicht formalisierte bzw. instiutionalisierte Kommunikationsweisen und Praktiken vollzogen wurde: Durch Briefwechsel, Reisen und die gemeinsame Arbeit an Texten entstanden Netzwerke jenseits institutioneller und territorialer Grenzen. Dabei wurden gerade randständige Textformen wie Widmungen, Vorworte und Nekrologe dazu genutzt, kollektive Arbeitszusammenhänge sichtbar zu machen und zugleich Bedingungen für die Partizipation an der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu formulieren. Im Anschluss an Ansätze aus der relationalen Soziologie und der Akteur-NetzwerkTheorie soll somit nach den Verbindungen, Medien und Praktiken gefragt werden, die eine Fachkultur zuallererst hervorbringen. Dabei spielen auch und vor allem die Ränder der wissenschaftlichen Gemeinschaft und interne Konkurrenzverhältnisse eine Rolle: Über die polemische Diskreditierung von „Dilettanten“ oder „Pfuschern“ und durch exklusive Publikationsprojekte werden Ausschlüsse produziert, die die Bedingungen der fachlichen Professionalität definieren sollen. Erika Thomalla, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Prof. Dr. Steffen Martus) der HumboldtUniversität zu Berlin. Nach dem Studium der Fächer Deutsche Literatur, Medienwissenschaft, Gesang und Musiktheater an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Bauhaus-Universität Weimar und der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar war sie Stipendiatin im Graduiertenprogramm des German Department der Cornell University, Ithaca (NY). Ihr Dissertationsprojekt befasst sich mit der Geschichte und Theorie der Herausgeberschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Weitere Forschungsinteressen liegen im Bereich der Literatur- und Wissensgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts sowie der Netzwerk- und Kulturtechnikforschung. Publikationen u.a.: Literaturwissenschaftliche Netzwerkforschung zum 18. Jahrhundert (Forschungsbericht), in: Zeitschrift für Germanistik 1/2016 (zusammen mit Hannes Fischer). Die Normalität der Krise. Beobachtungen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft aus Fußnotenperspektive, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 2015 „Zur Lage der Universität“ (zusammen mit Steffen Martus und Daniel Zimmer). Geisterwissenschaften. Der gelehrte Diskurs über Erscheinungen und Gespenster um 1800, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4/2015, S. 1-36. Kosmische Kurzsichtigkeit. Visualität und Fiktion in der astronomischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Evelyn Dueck und Nathalie Vuillemin (Hrsg.): „Der Augen Blödigkeit“. Trugwahrnehmungen und visuelle Epistemologie im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2015, S. 137-152. Botschafter aus dem Geisterreich. Die Gespensterdebatte um 1800, in: Lorenz Aggermann u.a. (Hrsg.): „Lernen mit den Gespenstern zu leben“. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik, Berlin: Neofelis 2015, S. 31-44.
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