Ratschläge für Angehörige von Zwangspatienten Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein. (Christian Morgenstern) Die Anweisungen für Angehörige von Angstkranken gelten analog auch für die Angehörigen von Zwangskranken. Auf einige spezielle Aspekte soll jedoch besonders hingewiesen werden: 1. Sprechen Sie Ihren Angehörigen auf seine Zwangsstörung hin an. Sagen Sie ihm, dass Sie sich viele seiner Verhaltensweisen nur so erklären können, dass er unter Zwängen leidet. Zwangskranke versuchen ihre Störung so lange als möglich zu verbergen, auch vor den Angehörigen, weil sie letztlich wissen, dass ihr Verhalten nicht normal ist. Vermitteln Sie ihm das Gefühl, dass Sie seine Person mögen, seine Zwänge jedoch nicht akzeptieren können. 2. Verzichten Sie auf moralische Appelle an den Zwangskranken, sich mehr zusammenzunehmen, seine Zwänge zu unterdrücken und vernünftig zu denken. Appelle an den Verstand können bei einem Problem, das mit unerträglichen Gefühlen (Angst oder Unbehagen) zusammenhängt, nichts ausrichten. Verweisen Sie vielmehr darauf, dass der Betroffene Ihrer Meinung nach eine medizinische Abklärung und psychotherapeutische Behandlung benötigt. 3. Verzichten Sie auf Ursachen-Diskussionen. Es bringt nichts außer Streit und Enttäuschung, wenn Sie sich auf die Suche nach dem Schuldigen (Sie selbst, der Angehörige selbst, sein Elternhaus usw.) begeben. Zwänge haben nicht eine Ursache und daher auch nicht einen Schuldigen, sondern können durch eine Vielfalt von Faktoren bedingt sein. Entscheidend ist für den Anfang vielmehr, den falschen Problemlösungsversuch zu unterbrechen, eine durch zwangsauslösende Reize bedingte Angst und Unruhe letztlich doch wieder durch ein Zwangsritual zu beseitigen, das nur kurzfristig hilft und die Zwangssymptomatik langfristig verstärkt. 4. Unterstützen und ermutigen Sie den Zwangskranken in jeder nur erdenklichen Weise, ausgenommen die Ausführung seiner Zwänge. Schlagen Sie gemeinsame Aktivitäten vor (z.B. Spaziergänge, sportliche Betätigung, Spiele, Kinobesuche, Einkaufsfahrten, Ausflüge), um den Angehörigen von der Ausführung seiner Zwänge abzulenken. Sie stärken dadurch auch die gesunden Persönlichkeitsanteile des Zwangskranken. 5. Helfen Sie dem Zwangskranken nicht bei der Ausführung seiner Zwänge, weil er selbst nicht mehr damit zurechtkommt (z.B. Hilfestellung bei bestimmten Kontrollen, damit der Betroffene schneller fertig wird). Sie geraten dadurch unvermeidlich in den starken Sog der Zwangsstörung. Nehmen Sie dem Betroffenen auch keine Routinehandlungen ab, die er vermutlich wegen seiner zwanghaften Langsamkeit nicht zeitgerecht ausführen kann (z.B. Einkäufe, Kochen, Wohnungsreinigung, Behördenwege). Erst dadurch wird dem Betroffenen richtig bewusst, dass seine Genauigkeit letztlich nur dazu führt, dass nichts mehr rechtzeitig fertig wird. Lassen Sie sich auf keinen Fall in die Zwangssymptomatik Ihres Angehörigen einbinden, auch nicht auf größtes Drängen hin, weil dadurch nur die Zwangsstörung fixiert und verstärkt wird. Helfen Sie durch Nicht-Helfen! 6. Führen Sie selbst keinerlei Zwangshandlungen aus, um den Zwangskranken dadurch zu beruhigen. Übernehmen Sie auf keinen Fall die Standards zwangsbedingter Sauberkeit, Ordnung und Kontrolle. Weigern Sie sich, Türen, Fenster, Elektrogeräte, Gasherd, Wasserhahn, Türklinken, Fußboden u.a. immer wieder zu überprüfen oder bestimmte Reinigungsrituale zur Angstreduktion des Zwangspatienten auszuführen. Waschen Sie sich selbst nicht mehr als nötig Ihre Hände, wechseln Sie auch nicht die Kleidung, wenn Sie sie noch sauber finden. Wenn Sie nach Hause kommen, setzen Sie sich im Wohnzimmer mit der momentanen Straßenbekleidung nieder, ohne dass Sie sich vorher umziehen oder duschen. Wenn Sie von der Arbeit heimkommen, greifen Sie weiterhin die Tür mit der bloßen Hand und nicht mit einem Taschentuch an, das Sie nachher sofort in den Mülleimer werfen müssen. Verweigern Sie eine übertriebene Reinigung Ihrer Schuhe, wenn Sie nach Hause kommen. Wischen Sie nichts in der Wohnung stärker und häufiger ab, als Ihnen nötig erscheint. Werfen Sie keine Lebensmittel weg, die Ihnen noch schmecken, auch wenn Sie nach Auffassung Ihres Angehörigen mit irgendetwas infiziert sein könnten. Ein derartiges "hartes" Vorgehen steht in scheinbarem Widerspruch zu menschlicher Wärme und partnerschaftlicher Liebe, ist jedoch im Interesse des Zwangskranken sowie zur Vermeidung der Eskalation der Zwänge auf das ganze Familienleben unbedingt erforderlich. 7. Achten Sie darauf, dass auch die anderen Familienmitglieder (insbesondere kleinere Kinder) die Zwänge nicht ausführen. Der Zwangskranke muss durch eine klare "Gegenwelt" erfahren, dass seine Welt nicht normal ist, anderenfalls entsteht kein Veränderungsdruck. 8. Achten Sie darauf, dass alle Familienmitglieder die Fragen des Zwangskranken nach Rückversicherung nicht beantworten. Fragen wie "Ist die Klobrille jetzt sauber?"; "Sind nun wirklich alle Reste des chemischen Mittels beseitigt?"; "Sind alle Fenster tatsächlich fest verschlossen?"; "Habe ich den Ofen garantiert abgedreht?"; "Kann mir wirklich nichts passieren, wenn ich mich jetzt nicht (mehr) wasche?" sollten vereinbarungsgemäß (und dem Zwangskranken vorher angekündigt) folgendermaßen beantwortet werden: "Du weißt, wir haben ausgemacht, dass Du diese Frage selbst beantworten musst"; "Du sollst lernen, auf Dich selbst zu vertrauen, daher werde ich Deine Frage nicht beantworten, weil Dir das nicht hilft"; "Ich rede mit Dir jetzt gerne weiter, aber nicht über Deine zwanghaften Fragen"; "Erinnere Dich an die Therapieprinzipien, die wir gemeinsam in der Therapiestunde gehört haben". Wenn Ihnen derartige Antworten schwer fallen, dürfen Sie sich auch auf die Anweisungen des Psychotherapeuten ausreden: "Du weißt, dass ich Dir auf diese Frage bisher immer eine Antwort zu Deiner Beruhigung gegeben habe. Der Therapeut hat jedoch gesagt, dass das nicht gut ist für Dich, und daran halte ich mich jetzt". 9. Vertreten Sie Ihre Prinzipien freundlich und bestimmt, ohne dass Sie sich auf gehässige Streitereien einlassen. Rechnen Sie jedoch damit, dass der Zwangskranke durch Ihr konsequentes Verhalten in großen Druck geraten und zu einer aggressiven Entlastungsreaktion neigen kann, manchmal sogar zu Tätlichkeiten, die sonst nie vorkommen, weil Zwangskranke typischerweise recht aggressionsgehemmt sind (die Aggression ist jedoch unterschwellig oft deutlich spürbar). 10. Hindern Sie den Zwangskranken nie direkt oder gar mit Druckmitteln bzw. Brachialgewalt an der Ausführung seiner Zwänge. Ihr Angehöriger ist ein freier Mensch wie Sie und hat das Recht zur Ausführung seiner Zwänge, so wie Sie das Recht haben, nicht nach diesen Zwängen leben zu müssen. 11. Wenn Sie als Partner hinsichtlich der sexuellen Beziehung mit dem Zwangskranken unzufrieden sind, bedenken Sie, dass sich die Zwangssymptomatik häufig in Form sexueller Ängstlichkeit, Verklemmtheit und mangelnder Spontaneität äußert. Legen Sie schon auch in Ihrem Interesse auf eine Therapie der Grundstörung Ihres Partners großen Wert. 12. Verweisen Sie bei anhaltenden Spannungen immer wieder auf die Notwendigkeit einer Psychotherapie, wenn sich die familiären und partnerschaftlichen Beziehungsstrukturen bessern sollen. Sie können die Anweisungen für den Umgang mit Zwangskranken auf Dauer nur schwer allein durchhalten, weil Sie der Zwangskranke ständig bezichtigen wird, dass Sie ihn nicht mehr lieben, sonst würden Sie auf seine (zwanghaften) Bedürfnisse mehr Rücksicht nehmen. Die Dynamik einer Zwangsstörung besteht wesentlich darin, dass der Betroffene versucht, seine Ängste so gering wie möglich zu halten und daher alle Familienmitglieder in die Zwangsstörung einzubeziehen. Angehörige von Zwangskranken können niemals die Therapeutenrolle übernehmen, weil sie damit den familiären Machtkampf extrem verschärfen. Der Hilferuf der Angehörigen an Außenstehende wie Ärzte oder Psychotherapeuten stellt daher eine oft schon längst fällige Entlastung für das familiäre Klima dar. Geben Sie Ihrem Angehörigen zu verstehen, dass Sie ihn deshalb nicht verachten, sondern eine Hilfe in dieser Situation als etwas durchaus Normales betrachten, wobei Sie auf Wunsch des Therapeuten sogar an der Psychotherapie teilnehmen würden. Autor: Dr.Hans Morschitzky
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