Wirtschaftsregion Heilbronn

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Verlagsspezial
1. Oktober 2015
KLUGES WIRTSCHAFTEN
KLUGE FÖRDERMASSNAHMEN
K L U G E K Ö P F E M I T W E LT R U H M
Hidden Champions und Markenführer: Sie alle
profitieren von den kurzen Zulieferwegen. Seite V2
Auf dem Land sind kreative und nachhaltige Lösungen
zur Nachwuchsförderung gefragt. Seite V3
Weltmarktführer, Weltmeister und Weltraumfahrer –
sie alle kommen aus Heilbronn-Franken. Seite V4
Region Heilbronn-Franken
Erfolgreiches Heilbronn-Franken: Hier sind viele Unternehmen angesiedelt, die Marktnischen besetzen.
FOTO PICTURE ALLIANCE/ZB/EUROLUFTBILD.DE
Still und leise zur Weltmarktführerschaft
In kaum einer Region Deutschlands gibt es mehr Unternehmen mit Marktführerschaften als in Heilbronn-Franken.
Dennoch bleibt es schwierig, hochqualifizierte Mitarbeiter in die ländliche Region zu locken. Von Achim Ühlin
A
ls der regionale Wirtschaftsförderer erstmals mit dem
Slogan „Region der Weltmarktführer“ auf den Markt
ging, fremdelten einige Unternehmen in HeilbronnFranken damit. „Die Hohenloher sind sehr
bodenständig“, erzählt Gerhard Sturm, Gründer des Ventilatorenherstellers EBM-Papst in
Mulfingen. „Mir war der Begriff „Weltmarktführer“ daher überzogen, obwohl es ja eigentlich stimmt.“ Ihrem Naturell entsprechend,
schaffen und genießen Unternehmer hier ihren Erfolg eigentlich lieber im Stillen. Heute
werben Sturms und andere Spitzenunternehmen jedoch mit ihren Auszeichnungen als Arbeitgeber ebenso selbstverständlich wie mit
ihrer Marktführerschaft.
Ein Motiv fürs Umdenken ist der Wettbewerb um hochqualifi zierte Mitarbeiter. Zwar
kann Heilbronn-Franken als größte Region
Baden-Württembergs mit ihrer Landschaft,
Kulturangeboten, geringer Arbeitslosenquote sowie innovativen und guten Arbeitgebern punkten. High Potentials zieht es oft
trotzdem in Metropolen. Deshalb verkündete
der Künzelsauer Befestigungsspezialist Berner auch im Mai, einen Teil seiner Holding
nach Köln zu verlegen. Dabei muss sich die
Region nicht verstecken. Unternehmen von
alfi, Beyerdynamic, Knorr – heute Unilever –,
Lidl bis zu Würth genießen weltweit einen
guten Ruf. Audi produziert in Neckarsulm
unter anderem den A6 und A8, der Sportwagen R8 wird im nahen Heilbronn gefertigt.
Bernd Venohr hatte das Thema Weltmarktführer ins Rollen gebracht. Lange hatte
der Wirtschaftswissenschaftler und heutige
Unternehmensberater zu erfolgreichen Mittelständlern geforscht und eine Datenbank
deutscher Spitzenunternehmen aufgebaut.
Durch sein Buch zur Würth-Gruppe ging der
Mitherausgeber des Lexikons deutscher Weltmarktführer erstmals auf Tuchfühlung mit
der Region und lernte einige der Hidden Champions näher kennen. Bezogen auf 100 000 Einwohner, gab es in Heilbronn-Franken 2008
fast dreimal so viele Weltmarktführer wie im
bundesweiten Durchschnitt. Die Konzentration auf kleine und kleinste Marktnischen,
Familienbesitz und langfristiges Denken,
der Wille zu Spitzenleistungen sowie die Bereitschaft, sich immer wieder zu verbessern,
zeichnen Weltmarktführer laut Venohr aus.
„Ungewöhnlich sind hier viele ganz normale
Mittelständler mit Umsätzen zwischen 30 und
150 Millionen Euro, die weltweit ganz vorne
mitspielen“, nennt Venohr Besonderheiten hiesiger Weltmarktführer.
Das war kaum absehbar. Denn während
Heilbronn bereits im 19. Jahrhundert zur
führenden Industrie- und Handelsstadt im
ehemaligen Königreich Württemberg aufstieg, blieben die Kreise der Region bis nach
dem Zweiten Weltkrieg industriell weitgehend blank. Dass sich dies dann grundlegend änderte, liegt Venohrs Analyse zufolge
auch an den Erbrechtsregelungen. Höfe wurden geteilt, nur durch Landwirtschaft allein
war so keine Familie zu ernähren. So erlernten viele zusätzlich handwerkliche Berufe.
Keimzelle des Aufstiegs
Nicht zuletzt spielte auch der Zufall der
Region in die Hände. So in Künzelsau: Die
15 000-Seelen-Stadt im Hohenlohischen ist
Sitz von Würth, Berner, dem Ventilatorenhersteller Ziehl-Abegg und lange auch der
Firma Stahl. Allesamt welt- oder europaweit Marktführer ihrer Sparten. Keimzelle
der Industrialisierung im Hohenlohischen
wird eine alte Schlossmühle in der Stadt am
Kocher. Stahl, damals bereits auf Explosionsschutz spezialisiert, verlagert seinen
Standort 1944 aus dem zerstörten Stuttgart
in das Gebäude. 1949 holt das Unternehmen
den Ventilatorenhersteller Ziehl-Abegg in
die Schlossmühle. Bereits vor dem Krieg
hatte Stahl von den Berlinern Aufzugsmotoren bezogen. Adolf Würth, Gründer der
heutigen Würth-Gruppe, zieht bereits 1945
mit seiner Schraubengroßhandlung ebenfalls in ein Nebengebäude der Mühle. Sohn
Reinhold ist gerade einmal 19 Jahren als
er 1954 die Firma des verstorbenen Vaters
übernehmen muss. Er macht das Unternehmen zum Weltmarktführer im Bereich
Montage- und Befestigungstechnik mit über
68 000 Mitarbeitern und einem Umsatz
von mehr als zehn Milliarden Euro. Albert
Berner, früher Lehrling bei Adolf Würth,
gründet die heutige Berner Group, die zu
den führenden Direktvertrieblern in Industrie, Kfz- und Handwerk europaweit zählt.
Die Firmen Reisser und Arnold, bereits vor
dem Zweiten Weltkrieg im Schraubengeschäft, gehören heute zu Würth. Förch, BTI
oder Reca Norm sind weitere Unternehmen
im regionalen Montage- und Befestigungscluster. Cluster wie diese sind in HeilbronnFranken keine Seltenheit. Ziehl-Abegg wird
dank einer bahnbrechenden Erfi ndung des
Außenläufermotors zur Keimzelle zahl-
reicher erfolgreicher Ventilatorenhersteller. 1963 gründen Gerhard Sturm und sein
Mentor Heinz Ziehl die ebm, die heute als
EBM-Papst Weltmarktführer als Hersteller
von Ventilatoren und Motoren ist. Firmen
wie Rosenberg oder Gebhardt Ventilatoren
haben ihren Ursprung ebenfalls in ZiehlAbegg.
Sturm, inzwischen 80, hatte mit Berner
und Würth einst die Schulbank gedrückt.
Er sieht die Massierung von Wettbewerbern im Umkreis durchaus als Vorteil: „Dadurch ruhen wir uns niemals auf unserer
Position aus.“ Das gilt für die Entwicklung
von Innovationen, die Optimierung von
Prozessen ebenso wie bei der Positionierung als Arbeitgeber im „War for Talents“.
Von direkten Wettbewerbern profitieren
auch andere Cluster, etwa Verpacker im
Landkreis Schwäbisch Hall wie Optima,
Bausch und Ströbel oder Schubert, die alle
als Weltmarktführer gelistet sind. Oder
Ventil-, Mess- und Regeltechnik-Spezialisten im Kochertal wie Bürkert, Gemü und
Kriwan, ebenfalls Marktführer in ihren
Bereichen.
Bartec, eine Ausgründung der Firma
Stahl, mit Sitz in Bad Mergentheim, ist heute
weltweit unter den Top Drei in ihrem Branchensegment. Keine zehn Kilometer entfernt
hat die Wittenstein AG in Igersheim ihren
Sitz. Der Weltmarktführer auf dem Gebiet
der mechatronischen Antriebstechnik kam
1952 mit der Produktion seiner Industrienähmaschinen nach Main-Tauber. Ende
der 70er Jahre übernimmt Manfred Wittenstein die Geschäftsführung vom Vater.
Er setzt auf neue Märkte und stellt 1983 das
weltweit erste spielarme Planetengetriebe
vor. Wittenstein investiert wie andere Weltmarktführer nicht nur kräftig in Forschung
und Entwicklung sowie Ausbildung. Mit Projekten für Schulen, die das Unternehmen im
Verbund durchführt, will er junge Menschen
für Technik begeistern.
Zukunftsvisionen aus Heilbronn
Während der Landkreis Heilbronn heute
mit einem stetig wachsenden Bosch-Entwicklungszentrum, Getrag und Audi stark
im Automobilsektor verankert ist, strebt
auch Heilbronn zu neuen Ufern. Mit Firmen wie Marbach, Illig oder Läpple nach
wie vor stark im industriellen Bereich, kam
inzwischen mit der Audi R8-Produktion
auch der Automobilbau zurück in die Neckarstadt. Die Stadt investiert kräftig in
ihre Infrastruktur. Mit Unterstützung vor
allem der Dieter Schwarz Stiftung wird
Heilbronn zur Wissensstadt ausgebaut.
Gleich drei Hochschulen haben inzwischen hier ihren Standort. Im Zukunftspark Wohlgelegen siedeln sich junge Firmen aus IT oder Life Science an. Über den
Zukunftsfonds Heilbronn bieten regionale
Unternehmensfamilien jungen Firmen Risikokapital und ihr Know-how – sie setzen
auf langfristiges Engagement. Mit Erfolg:
Im September stellte die Xenios AG, die im
Zukunftspark beheimatet ist, mit der städtischen Klinik eine Weltneuheit „Made in
Heilbronn“ vor. Ein Kreislauf-Unterstützungssystem, das den menschlichen Puls
simuliert. Die Erfolgsgeschichte der Region
wird fortgeschrieben.
EDITORIAL
Von Christiane Zimmer
Dass Baden-Württemberg zu den wirtschafts- und wettbewerbsstärksten Regionen Europas zählt, ist bekannt. Dass hier die
meisten Weltmarktführer ihren Sitz haben,
vielleicht nicht jedem. Besonders reich an
Weltmarktführern ist die Wirtschaftsregion
Heilbronn-Franken. „Schaffe, net schwätze“ lautete wohl auch das Motto derer, die
die Region zu dem gemacht haben, was sie
heute ist. Es war der Lohn der Tüchtigen,
gepaart mit Beharrlichkeit und einem gesunden Unternehmergeist, der nach dem
Zweiten Weltkrieg den Grundstein für den
Erfolg gelegt hat. Seither zehrt die Region
vom Erfolg der großen Namen wie Würth,
Berner und Sturm, die ihrem Land Arbeitsplätze und rosige Zeiten bescherten und bis
heute einen erheblichen Anteil an dessen
Wirtschaftskraft haben. Das alles darf nicht
den Blick in die Zukunft verschleiern. Denn
Heilbronn-Franken hat als ländliche Region
damit zu kämpfen, Nachwuchskräfte anzulocken. Auch hier unterstützen die regionalen Unternehmer, damit der Hochschul- und
Wissenschaftsstandort Heilbronn-Franken
attraktiv wird. Eine Region ist nur so gut wie
ihre Köpfe. Heilbronn-Franken profitiert von
vielen klugen Köpfen.
Absoluter Zufall
Drei junge Burschen drückten 1945 gemeinsam die
Schulbank im beschaulichen
Hohenlohe. Heute sind sie
Unternehmer von Weltrang,
die wesentlich dazu beigetragen haben, dass es in
ihrer Heimat viele Hidden
Champions gibt.
VO N M AT T H I A S S T O L L A
D
ie Kleinstadt Künzelsau in der
Region Heilbronn-Franken kann
zweifelsfrei als Keimzelle des regionalen Unternehmertums bezeichnet werden. Hier gab es sogar eine
Schulklasse der Weltmarktführer. In ihr
saßen drei junge Hohenloher, die – jeder
für sich – Unternehmen von Weltrang aufbauen sollten. „Ich hätte nie gedacht, dass
ich dort lande, du nicht und der Reinhold
auch nicht“, sagt Gerhard Sturm über sich,
Albert Berner und Reinhold Würth. Alle
drei haben Firmen aufgebaut, die Milliarden umsetzen, und haben Zehntausende
Arbeitsplätze geschaffen. Alle drei sind 80
und haben bis 1945 zusammen die Volksschulbank gedrückt. Für derart auffällige
Gemeinsamkeiten hat Albert Berner nur
eine lapidare Erklärung: „Absoluter Zufall.“
In Hohenlohe werden die drei verehrt
wie früher die Fürsten. Würth ist Weltmarktführer im Handel mit Montagetechnik (10,1 Milliarden Euro Jahresumsatz), Berner ist deutlich kleiner, aber sein
schärfster Konkurrent (1 Milliarde Euro
Jahresumsatz), und Sturm führt mit EBMPapst den Weltmarkt in der Herstellung von
Ventilatoren und Elektromotoren an (1,57
Milliarden Euro Jahresumsatz). Dass sich
alle drei aus der Führung zurückgezogen
haben, ignoriert die Öffentlichkeit. Jeder
weiß, dass Würth, Berner und Sturm immer noch mitreden, wenn es ums Geschäft
geht. Um nichts anderes geht es, wenn die
drei unter sich sind. „Wir machen das dreibis viermal im Jahr“, sagt Berner. Diesmal
sind Sturm und Berner zusammen. Würth
fehlt. Der Schraubenmilliardär ist außer
Landes. Das ist beinahe symptomatisch,
denn Würth spielt eine Sonderrolle.
Seine Kindheit beschreibt Sturm als
„entbehrungsreich“. Als er 1934 geboren
wurde, war das heute zu Künzelsau gehörende Nagelsberg noch eine eigenständige
Gemeinde. Sturm ist fest im katholischen
Glauben verwurzelt, hält sich im Hintergrund, ein Techniktüftler, der sich für sein
Umfeld engagiert. Jahrelang saß er für die
CDU in Gemeinderat und Kreistag und gilt
als Retter des Schulstandorts Mulfi ngen.
„Wir sind beide in bettelarmen Verhältnissen aufgewachsen“, sagt Berner über sich
und Sturm. „Wir waren wilde Hunde, trugen kratzige, selbstgestrickte Socken und
Unterwäsche, die nur samstags gewechselt
wurde.“ Die Triebfeder Armut habe bei ihm
und Sturm für Schwung gesorgt, sagt Ber-
ner: „Ich wollte nie mehr dort landen, wo
ich herkomme.“
Bei Würth war das anders. „Der Reinhold hatte ein feines Elternhaus“, sagt
Berner. Es gibt ein altes Foto, das ihn und
seinen Vater Adolf bei einem Spaziergang
zeigt: die selbstsichere Respektsperson
einerseits und den aufschauenden, Anerkennung wünschenden Heranwachsenden
andererseits. „Um meine Jugend bin ich
eigentlich herumgekommen“, sagte Würth
2014, als wäre ihm dadurch Schlimmes erspart geblieben, und erzählt, wie ihn sein
Vater mit 16 Jahren zum Schraubenverkaufen nach Düsseldorf schickte. Nach zwei
Wochen habe er ihm die Aufträge gezeigt.
Als „nichts Besonderes“ habe Adolf Würth
sie abgetan. Jahre später habe er von seiner Mutter erfahren, dass sein Vater zufrie-
den gewesen sei. „Das hat mir gezeigt, wie
wichtig Dank und Anerkennung sind“, sagt
Reinhold Würth heute. Dass Adolf Würth
1949 stirbt, beschleunigt zwei Karrieren.
Reinhold Würth übernimmt die Geschäfte des Vaters, und Albert Berner, den Adolf
Würth zum Handelskaufmann ausgebildet hat, kündigt, gründet 1953 sein eigenes
Unternehmen und wird zum Konkurrenten
seines Schulkameraden.
Ein Punkt aber eint die Schulfreunde von
einst bis heute: Am Unternehmensstandort
Hohenlohe, für den sich alle drei engagieren, indem sie Sport, Kultur und Soziales
fördern, wollen sie nicht rütteln. Verlagern
ist nicht drin. Reinhold Würth: „Das wäre so
schwachsinnig, würde so viel Geld kosten.“
Gerhard Sturm: „Wir krallen uns hier fest.“
Albert Berner: „Berner bleibt im Kochertal.“
V2
Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Region Heilbronn-Franken / 1. Oktober 2015
Wo die Zulieferer rund
um den Kirchturm arbeiten
In der Region Heilbronn-Franken profitieren die Unternehmen von kurzen Wegen und einer lokalen Zulieferkette. Nähe und Qualitätssicherung sind
dabei nicht die einzigen Erfolgsfaktoren, die den Weltmarktführern einen Wettbewerbsvorteil bringen. Von Ulrich Schreyer
A
us der Not eine Tugend machen: „Mit dieser Strategie
sind wir schneller als die
Wettbewerber gewachsen.“
Was Rainer Hundsdörfer,
Vorsitzender der Geschäftsführung beim Mulfi nger Ventilatorenhersteller EBM-Papst, inzwischen als Strategie
umschreiben kann, war zunächst nichts
anderes als eine Notlösung aus Geldmangel:
Als Gerhard Sturm 1963 das Unternehmen
gründete, fehlten ihm schlicht die nötigen
Mittel, um sich einen teuren Maschinenpark leisten zu können. Sein Geld steckte der
Jungunternehmer lieber in Forschung & Entwicklung – oder er gab es für den Ausbau des
Vertriebs aus. Dies hatte Folgen: „Gerhard
Sturm war auf Zulieferer angewiesen“, kann
Hundsdörfer heute berichten. „Denn die hatten die Maschinen, auf denen einzelne Teile
für die Ventilatoren produziert werden konnten.“ Natürlich hat der Ventilatorenhersteller
seit jenen Tagen kräftig in eigene Fabrikhallen investiert – doch auch das Netz an Zulieferern hat EBM-Papst stetig erweitert.
zend neuer Unternehmen. So etwa das eines
Meisters, der sich selbständig machte und
heute Messingteile an seinen ehemaligen
Arbeitgeber liefert. Zugekauft werden aber
auch Stanzteile, Produktionseinrichtungen,
Montageplätze oder Prüfstände.
Die Firmen, an denen Bürkert meist zur
Hälfte beteiligt ist, beschäftigen rund 450
Mitarbeiter – aber trotz der Beteiligung sollen sie nicht abhängig von Lieferungen an
das Unternehmen werden, aus dem sie entsprungen sind. „Wir streben an, dass sie
etwa 40 Prozent des Umsatzes mit Bürkert
machen, 60 Prozent aber mit anderen Kunden“, erklärt Rohrbeck. „Auch Wettbewerber könnten Prüfstände und Montagearbeitsplätze bei unseren Beteiligungsfi rmen
kaufen“, meint Rohrbeck, „da sind wir unerschrocken.“ Dass zu den Zulieferern ein
über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde, habe auch positive
Auswirkungen auf die Qualität. Weil man
schon lange zusammenarbeite, entstehe
auch eine emotionale Bindung. „Dem langjährigen Nachbarn und Partner will man
nichts Schlechtes liefern.“
Alles nah beieinander
Hohe Fertigungstiefe
Bei dem Mulfi nger Unternehmen mit einem
Umsatz von zuletzt knapp 1,6 Milliarden
Euro und weltweit rund 12 000 Mitarbeitern
sind rund ein Viertel im heimischen Hohenlohe tätig. Noch einmal so viele arbeiten bei
den etwa 50 Zulieferern „rund um den Kirchturm“. Gekauft werden bei diesen „pfi ffigen
Familienunternehmen“, wie Hundsdörfer
sagt, etwa Lüfterräder und andere Blechteile für die Ventilatoren, aber auch Kunststoffkomponenten, Leiterplatten, Kabel oder
Stecker. Die Zulieferer fertigen all dies im
Auftrag von EBM-Papst, ihrem mit großem
Abstand wichtigster Kunden. Die Komponenten der eingekauften Teile konstruiert
der Ventilatorenhersteller selbst, doch mehr
als 70 Prozent der Zulieferungen kommen
aus der Umgebung. „Die Qualität ist leichter
sicherzustellen, wenn die Lieferanten vor
Ort sind und man auch schnell einmal hinfahren kann“, meint der heutige EBM-PapstChef.
Nur gute 20 Kilometer entfernt von Mulfi ngen produziert die Wittenstein AG in
„Rund um den Kirchturm“: Das steht in der Region Heilbronn-Franken für die Nähe von Hersteller- zu Zuliefererunternehmen – ein Standortvorteil.
Igersheim elektromechanische Antriebssysteme, etwa für Werkzeugmaschinen, die Medizintechnik oder die Raumfahrt. Doch auch
wenn Komponenten hergestellt werden, die
in den Weiten des Weltalls ihren Dienst tun
sollen, setzt Wittenstein vielfach auf die regionale Nähe seiner Zulieferer. „Dies nützt
uns besonders in der Phase der Produktentwicklung“, sagt Oliver Palmert, der Leiter des
Einkaufs bei dem Unternehmen mit weltweit
1900 Beschäftigten und einem Umsatz von
254 Millionen Euro. Wittenstein versteht
sich als besonders innovativ. Weil ständig
Neues ausgetüftelt und produziert werde,
sei die frühe Einbeziehung der Zulieferer
ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Deswegen
rede das Unternehmen auch lieber von Wertschöpfungspartnern als von Lieferanten.
Nach Lauda-Königshofen sind es entlang
der Tauber sogar weniger als 20 Kilometer.
Dort hat die Lauda Dr. Wobser GmbH & Co.
ihren Sitz, ein Spezialist für Temperaturmessgeräte. Die Kunden des Unternehmens
mit einem Umsatz von 60 Millionen Euro
und 420 Mitarbeitern kommen aus der Halbleiterindustrie sowie aus der Medizintech-
nik. Sie kühlen aber auch Druckmaschinen,
Spritzgießanlagen und Laserbearbeitungsmaschinen. Wie seine Kollegen aus anderen
Unternehmen lobt auch der geschäftsführende Gesellschafter Gunther Wobser die Nähe
zu seinen Lieferanten: „Das hilft uns bei der
Termintreue und der Qualität.“
Auch das ist keine Weltreise: Etwa 40 Kilometer südlich von Lauda-Königshofen liegt
Ingelfi ngen – und das Familienunternehmen
Bürkert. Dieses stellt Steuerungstechniken,
Sensoren und Ventile für Flüssigkeiten und
Gase her. „Wir produzieren fast ausschließ-
Gut vernetztes Ökosystem
M
it einer Gesamtbevölkerung von
knapp einer Million Einwohner
gehört die Region HeilbronnFranken innerhalb BadenWürttembergs zu den eher dünnbesiedelten Bereichen. Aber dennoch: So gering die
Bevölkerungsdichte, so stark ist die Wirtschaftskraft der Region. Die wirtschaftliche
Stärke resultiert aus überwiegend familiengeführten Weltmarktführern und Standorten von namhaften Unternehmen wie Bosch
und Audi oder der Schwarz Gruppe (mit Lidl
und Kaufland) sowie Intersport Deutschland. Aber auch Wittenstein, Bechtle und
Schunk seien unter den renommierten Akteuren in der Region genannt.
Auffällig für Heilbronn-Franken ist
die hohe Dichte an Ventilatorenherstellern, die, historisch betrachtet, Ausgründungen aus der Firma Ziehl-Abegg sind.
Ziehl-Abegg ist ursprünglich ein Berliner
Unternehmen, das sich nach dem Zweiten
Weltkrieg in der Region angesiedelt hat.
Vor allem in den vergangenen 60 Jahren
haben es viele Ausgründungen aus diesem
Unternehmen zu wirtschaftlichem Erfolg
auf dem europäischen Markt gebracht. So
beschäftigt die Firma EBM-Papst aktuell
etwa 12 000 Mitarbeiter, die Rosenberg
Gruppe etwa 1500. Aus diesen Unternehmen sind wiederum zahlreiche weitere
Ausgründungen entstanden. Ähnliches gilt
für den Landkreis Schwäbisch Hall. Das
dortige Cluster Verpackungs- und Abfüll-
Klassische Faktoren vorhanden
Auf der Suche nach den Gründen für den
wirtschaftlichen Erfolg dieser Region werden zunächst die klassischen Faktoren wie
Hochschul- und Verkehrsinfrastruktur betrachtet. Hier lässt sich festhalten, dass die
Anbindung der Region an das Schienennetz
als eher schlecht bezeichnet werden kann.
Dagegen ist die Region mit der Autobahn
A 6, die Heilbronn, Hohenlohe und Schwäbisch Hall miteinander verbindet, sehr
gut ausgebaut. Über die A 81 ist die Region Main-Tauber angebunden, welche aber
nicht die Bedeutung der A 6 oder der A 3
im Norden hat. Seitens der Hochschulinfrastruktur konnte sich die Hochschule
Heilbronn in den vergangenen Jahren in
den Hochschulrankings kontinuierlich verbessern. Den herausragenden wirtschaftlichen Erfolg der Region können diese Faktoren alleine aber noch nicht hinreichend
begründen.
Es gibt viele Bedingungen, die gleichzeitig gegeben sein müssen, um die Wirtschaft
in einer Region nachhaltig zu stärken. So
verfügt Heilbronn-Franken über einen guten
Branchenmix, der zum einen breit gestreut
ist, zum anderen aber auch eine Häufung an
Unternehmen in einer bestimmten Nische
aufweist. Die hohe Dichte an Weltmarktführern sowie intensive innerregionale
Verflechtungen der Branchen entlang der
Wertschöpfungskette zeichnen die Region
ebenfalls aus.
Die Vernetzung der Akteure untereinander scheint ebenfalls ein wesentlicher
Erfolgsfaktor für Heilbronn-Franken zu
sein. Analysiert man die Region im Detail,
so deutet vieles darauf hin, dass die oft von
der Wissenschaft geforderte formale Vernetzung in speziell dieser Region aber kein
kritischer Erfolgsparameter zu sein scheint.
Es gibt zwar einige Cluster und Netzwerke,
jedoch können diese alleine nicht den Erfolg
der Region ausmachen. Vielmehr werden die
regionalen Cluster von informellen Strukturen untermauert. So setzen etwa die Unternehmer der Region viele Projekte in Eigenregie um und leisten somit einen wesentlichen
Beitrag zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung in der Region.
Die Projekte werden wiederum von Unternehmerpersönlichkeiten getragen. Dies
hat den Vorteil, dass nicht erst eine rechtliche Struktur aufgebaut und am Leben gehalten werden muss, sondern Entscheidungen direkt und schnell getroffen werden.
Diese Mentalität wird ergänzt von einem
in der Region sehr stark verwurzelten Mäzenatentum. Hier sind die beiden Akteure Dieter Schwarz und Reinhold Würth zu
nennen. Beide Unternehmen engagieren
sich stark in ihrer Region – Schwarz in
Heilbronn und Würth im Hohenlohekreis.
So unterstützt die Schwarz-Stiftung den
Hochschulausbau in Heilbronn, sichert den
technologiebegeisterten Nachwuchs durch
die in Heilbronn ansässige Experimenta
und erstellt aktuell einen Bildungscampus. Analog hierzu engagiert sich Reinhold
Würth in Künzelsau beim Ausbau der Außenstelle der Hochschule Heilbronn und
bei weiteren Museen und Kunsthallen.
Getragen vom Engagement der
regionalen Unternehmer
Eine weitere Einrichtung in der Region ist
mit dem Venture Forum Neckar e. V. entstanden, dem ältesten Business-AngelsNetzwerk in Baden-Württemberg. Es wurde
im Jahr 2002 auf Initiative von Unternehmerpersönlichkeiten aus der Region Heilbronn-Franken aus der Taufe gehoben. Die
Business Angels des Venture Forums beteiligen sich an Unternehmen in einer sehr
frühen Phase und unterstützen die Start-ups
zudem mit Know-how und Kontakten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass
es in der Region Heilbronn-Franken eine
Ausgewogenheit gibt zwischen Unternehmergeist, Ausgründungsmentalität, Bodenständigkeit und regionaler Verbundenheit.
Dies trifft auf ein Venture Forum, das mit
meist deutlich mehr Kapital ausgestattet ist
als der Venture Capital Fonds des Landes
Baden-Württemberg.
Dr. Jürgen Jähnert ist Geschäftsführer der
BWcon GmbH, Ralf Lauterwasser leitet das
Steinbeis-Beratungszentrum Existenzgründung und ist Mitglied im Kernteam ClusterAgentur Baden-Württemberg.
K
t
ur
En
g el
kunftsweisenden Technologien in der Verpackungsbranche zu präsentieren.
T
VON JÜRGEN JÄHNERT
UND R ALF L AUTERWASSER
maschinen hatte seinen Ursprung in nur
drei Unternehmen. Heute sind daraus mehr
als 50 Unternehmen entstanden.
lich in Deutschland“, sagt der Vorsitzende
der Geschäftsführung, Heribert Rohrbeck.
Mit insgesamt 2500 Mitarbeitern, davon die
Hälfte in der Region, wurde im vergangenen
Jahr ein Umsatz von 412 Millionen Euro erzielt. Zu den Kunden gehören die Autoindustrie, die Textilindustrie, Kosmetikhersteller
oder Halbleiterproduzenten. Rohrbeck legt
Wert auf die Feststellung, das Unternehmen
verfolge keine Strategie der Verlagerung in
Billiglohnländer. „Wir arbeiten mit Lieferanten, die zum Teil Ausgründungen von Bürkert sind.“ Bisher entstand so ein halbes Dut-
„Wir haben den Anspruch,
immer einen Schritt weiter zu sein“
VA
Heilbronn-Franken:
Eine ländliche Region mit
großer Wirtschaftskraft.
Was steht dahinter? Ein
innovatives Ökosystem
aus Unternehmergeist,
Bodenständigkeit und Ausgründungsmentalität.
FOTO PRILL MEDIENDESIGN & FOTOGRAFIE/ISTOCK/THINKSTOCK
„Wir sind auf Wachstum programmiert,
weil wir diese Struktur der Wertschöpfungsketten haben“, meint Peter Schweiker, für
Standortfragen zuständiger Geschäftsführer bei der Industrie- und Handelskammer
Heilbronn-Franken. Doch nicht immer ist
die Kooperation gerade im verarbeitenden Gewerbe so ausgeprägt wie etwa zwischen EBM-Papst oder Bürkert und ihren
Lieferanten. Dies liegt nach Meinung von
Peter Kirchner auch an der oft recht hohen
Fertigungstiefe bei den Unternehmen in
der Region. Man brauche eben wenig von
Zulieferern, meint der Professor für Geographie und Geographiedidaktik an der
Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Sein Schwerpunkt dort ist Wirtschaftsgeographie, er gilt als ausgewiesener Fachmann auch für die Wirtschaft der Region
Heilbronn-Franken. „Manchmal sagen die
Firmen auch, wir machen die Dinge lieber
selbst, als dass durch einen Zulieferer Informationen zu einem Wettbewerber geraten.“
T
FO
O
PR
I
Wirtschaftscluster gibt es
einige im süddeutschen
Raum. Eine Erfolgsgeschichte erzählt das Packaging
Valley Germany. Es vereint
die Spezialisten im Verpackungsmaschinenbau.
Geschäftsführer Kurt Engel
erläutert die gemeinsame
Strategie.
Herr Engel, wie kam das Packaging Valley
zustande, und was sind die Ziele?
Der Ausgangspunkt waren Überlegungen
von drei Initiatoren, Hans Bühler von Optima, Bernd Hansen von kocher-plastik und
Gerhard Schubert von der Schubert-Gruppe,
zu gemeinsamen Kooperationen im Bereich
Ausbildung und Studium. Daraus haben sich
dann mehrere Schwerpunkte entwickelt:
eine gemeinsame Basis bei der Weiterbildung, Marketingaktivitäten und die Lösung
von Problemen, die alle Mitgliedsunternehmen betreffen. Außerdem wollen wir in der
Region und darüber hinaus die Stärke des
Clusters zeigen. Zusätzlich fördern wir den
Austausch durch regelmäßige Treffen. Wir
haben den Anspruch, immer einen Schritt
weiter zu sein und damit die besten und zu-
Wie viele Weltmarktführer haben Sie im
Verein?
Unsere Mitglieder sind Unternehmen, die
weltweit unterwegs sind und ein Alleinstellungsmerkmal im Verpackungsmaschinenbau haben. Sei es als Anlagenbauer oder als
Dienstleister. Eine konkrete Zahl, wie viele
davon Weltmarktführer sind, lässt sich nicht
nennen, weil die Unternehmen und die Produkte ganz unterschiedlich international
positioniert sind. Es sind aber einige Weltmarktführer dabei.
Wie funktioniert das Netzwerk, was sind
gemeinsame Aktivitäten?
Wir präsentieren uns zum Beispiel gemeinsam
auf den großen Fachmessen. Auf der „Fachpack“ haben wir einen Gemeinschaftsstand
von 1200 m². Zwölf Mitglieder sind als Aussteller dabei, die anderen haben die Möglichkeit,
dort Kundentermine zu machen. Die Mitglieder stellen dabei auch für die anderen Kontakte her. Die Unternehmen arbeiten in anderen
Bereichen wie der Aus- und Weiterbildung
oder im Marketing ebenfalls zusammen. Unsere Fachkompetenz zeigen wir auch bei den
„Packaging Valley Days“, einem Fachkongress
zu aktuellen Themen aus der Verpackungsindustrie, der alle drei Jahre stattfindet.
Welche Synergien ergeben sich? Sind
Cluster und Netzwerke hilfreich für die
Entwicklung von Weltmarktführern?
Das Netzwerk kann hilfreich sein für die
Entwicklung der einzelnen Unternehmen.
Durch die Kooperation untereinander profitieren auch die Kunden, da durch die Kontakte im Netzwerk Lösungen entstehen
können, die bei einer größeren räumlichen
Distanz vielleicht nicht so leicht zustande
kämen. Man kennt sich persönlich, und ich
stelle immer wieder fest, dass die großen Unternehmen die kleineren fördern.
Wie sehen Sie die Zukunft des Clusters?
Haben Sie eine gemeinsame Strategie,
oder müssen Sie vielleicht sogar Auflösungstendenzen befürchten?
Für die Zukunft von „Packaging Valley
Germany“ sehe ich gute Perspektiven. Wir
achten darauf, dass die Vorteile des Netzwerkes für die Mitglieder überwiegen. Unser Ziel ist es, dass die Unternehmen immer
einen Mehrwert von den gemeinsamen
Aktivitäten haben. Im Netzwerk entstehen
Synergien, die alle voranbringen. Ende dieses Jahres eröffnen wir zum Beispiel ein
eigenes „Virtual Reality Center“, in dem die
Unternehmen in der Entwicklung ihre Maschinen visualisieren und mit Modellen
Simulationen durchführen können. Das ist
ein Meilenstein für uns. Die Gesamtkosten
belaufen sich auf 700 000 Euro. Davon werden 200 000 Euro durch die EU gefördert,
der Hauptteil wird aber von den Mitgliedern
fi nanziert. Wenn wir nicht eine gemeinsame
Zukunftsvision hätten, wäre ein derartiges
Projekt nicht möglich.
Das Interview führte Annette Wenk.
PA C K A G I N G VA L L E Y G E R M A N Y
Der Verpackungsmaschinenbau hat im
süddeutschen Raum eine lange Tradition.
Die Entwicklung der Unternehmen lässt sich
direkt in Stammbäumen darstellen. Immer
wieder wagten Mitarbeiter von Gründerunternehmen den Schritt in die Selbständigkeit
und entwickelten eigene Schwerpunkte im
Anlagenbau, fertigten spezielle Komponenten
oder boten eine dazugehörige Dienstleistung
an. Im Bereich Schwäbisch Hall entstand so
das Cluster, das sich seit 2007 „Packaging Valley Germany“ nennt. Die heute 42 Mitglieder
sind Anlagenhersteller, Maschinen- und Komponentenhersteller sowie Dienstleister. Im
Alltag finden sich zahlreiche Produkte, die mit
den Maschinen genau dieser Unternehmen
verpackt werden. Wie lebendig die Entwicklung des Clusters ist, zeigen die Eckdaten
der beteiligten Unternehmen. Das älteste
wurde im Jahr 1900 gegründet, das jüngste
im Jahr 2007. Die Mitarbeiterzahl reicht von
drei bis 1800.
V3
Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Region Heilbronn-Franken / 1. Oktober 2015
Im Verbund attraktiv sein
In der Region Heilbronn-Franken ziehen Wirtschaft und Bildungseinrichtungen an einem Strang.
Es geht darum, die klugen Köpfe von morgen zu fördern und zu halten. Das ist nicht immer einfach. Von Stefanie Pfäffle
E
s geht immer um die Köpfe.
„Wir haben eine super Wirtschaft, aber lauter Hidden
Champions, also Namen, die
keiner kennt“, verdeutlicht Peter Schweiker, als Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer
Heilbronn-Franken (IHK) für die Standortpolitik zuständig. „Gerade auf dem Land
gibt es echte Perlen, und es bedeutet einen
Riesenaufwand, die Leute davon zu überzeugen, was dieses Umfeld bieten kann.“
Dieser Herausforderung stellen sich in der
Region Heilbronn-Franken sowohl die Unternehmen als auch die Bildungseinrichtungen. Sie ziehen an einem Strang, damit
die Region auch in Zeiten des demographischen Wandels erfolgreich bleibt.
Hochschulen und Unternehmen –
eine Partnerschaft
Heilbronn-Franken ist die einzige Region
des Landes ohne Universitätsstandort. Dafür ist die dezentrale Hochschulstruktur
einmalig. Mit der Hochschule Heilbronn
(HHN), mit 8300 Studenten die größte Hochschule für Angewandte Wissenschaften in
Baden-Württemberg, der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) und der
German Graduate School of Management
and Law (GGS) sind drei Anbieter mit insgesamt fünf Standorten vertreten. Trotz des
großen Wachstums aller drei Einrichtungen
lässt sich die Anzahl der Studierenden in
der Region nur schwer erhöhen. „Manchmal ist das ein bisschen frustrierend“, gibt
Schweiker zu. Umso wichtiger ist die enge
Verzahnung mit der Wirtschaft. „Wir werben damit, dass wir gute Kontakte zu den
Unternehmen in der Region haben“, erklärt
Professor Jürgen Schröder, Rektor der HHN.
Das ist nicht nur Marketing.
Im Praxissemester gehen Studenten in
die Unternehmen, sie arbeiten gemeinsam
institut finanzieren, um dies direkt vor Ort zu
haben. Der Campus Schwäbisch Hall ist laut
Schröder überhaupt nur über die Finanzierung der Raumschaft mit Kommune und Unternehmen entstanden.
mit ihren Professoren an aktuellen Fragestellungen, die aus den Betrieben kommen.
In Transferprojekten werden Methoden neu
entwickelt, an der HHN getestet und dann in
die Unternehmen übertragen. Die Studenten
arbeiten so nicht nur an aktuellen Themen,
sie kommen in direkten Kontakt mit den
Weltmarktführern. In großen Netzwerken
im Bereich Controlling und Vertrieb sind die
Studenten direkt eingebunden, etwa bei Kongressen. Davon haben beide Seiten etwas.
„Für mich als Rektor ist es auch wichtig, dass
wir junge Leute in die Region holen, und das
geht nicht allein. Da könnten wir die tollste
Hochschule sein, wir müssen im Verbund attraktiv sein.“
Noch enger ist die Kooperation bei der
DHBW. Studenten absolvieren hier gleichzeitig ein Studium und sammeln im Wechsel
in ihren Betrieben Berufserfahrung. „Als
Mitglieder der Hochschule können die dualen Partner in den Gremien direkt an der
strategischen Weiterentwicklung der DHBW
mitwirken“, erläutert Professor Nicole Graf,
Leiterin des Standorts Heilbronn. Sie können
außerdem erfahrene Experten entsenden,
wodurch die Verbindung zur Berufspraxis
noch enger geknüpft wird.
Perspektiven früh ermöglichen
Auf Unterstützung angewiesen
Alle drei Hochschulen profitieren vom Engagement der Dieter-Schwarz-Stiftung. In der
Innenstadt von Heilbronn wächst ein immer
größerer Bildungscampus heran, der alle drei
beherbergt. „Ohne die Unterstützung wäre
das Wachstum und die frühe Eigenständigkeit der DHBW Heilbronn nicht möglich gewesen“, hebt Graf hervor. Doch auch an den
anderen HHN-Standorten tut sich viel aufgrund der Unterstützung aus der Wirtschaft
und der Region. Reinhold Würth gründete
eine Stiftung zur Förderung des Campus Künzelsau, der nach ihm benannt ist. EBM-Papst
will dort ein elektrotechnisches Forschungs-
Kampf um die besten Köpfe: Neben der HHN sind auch die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) und die
German Graduate School of Management (GGS) mit Standorten in der Region Heilbronn-Franken vertreten.
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„Auch das Silicon Valley ist klein gestartet“
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Die einst stolze Industriehochburg Heilbronn will
zur Wissensstadt werden.
Wieso sich die Stadt für
diesen Weg entschieden
hat und wie weit sie bereits
vorangeschritten ist,
erklärt Oberbürgermeister
Harry Mergel.
Herr Mergel, die Region Heilbronn-Franken ist wirtschaftlich stark. Tatsächlich
befindet sich Heilbronn selbst im
Umbruch. Einstige Branchengrößen der
Stadt haben an Bedeutung verloren oder
sind komplett vom Markt verschwunden.
Woran liegt das?
In der Wirtschaft ist wie im übrigen Leben
nichts in Stein gemeißelt. Der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ist kein Heilbronn-spezifi sches
Phänomen. Mit dem Zerfall des Ostblocks
haben sich für unsere Unternehmen neue
Märkte eröffnet, aber auch die Spielregeln
geändert. Dann die Globalisierung, die sich
durch die IT-Technik und das Internet rasant beschleunigt hat. Dass in diesem Umfeld nicht jedes Unternehmen seine Chancen
nutzen konnte, ist nur normal – in Heilbronn
und anderswo.
Wieso setzt Ihre Stadt beim Thema Strukturwandel so sehr auf das Thema Wissen?
Wir verfügen über keine nennenswerten
Bodenschätze. Unsere Stärke sind die Menschen, die hier leben: In ihrer Ausbildung,
ihrem Ideenreichtum, ihrer Innovationskraft und ihrem Fleiß liegt unsere Zukunft.
Tatsache ist auch, dass wir unsere Potentiale noch zu wenig nutzen. Wir müssen allen
Menschen die Chance auf Bildung und Wissen ermöglichen – und das von klein auf.
Daran arbeiten wir in Heilbronn. Kostenfreie
Kindergartenplätze und Sprachförderung
helfen beim guten Start in die Schule. Unsere Schulen passen wir mit einem Schulentwicklungsplan an die demographischen
Herausforderungen und das veränderte
Schulwahlverhalten an. Auch unsere Hochschulangebote haben wir, mit massiver Unterstützung der Wirtschaft, weiter ausgebaut. Vor wenigen Jahren wäre ich noch zum
Träumer erklärt worden, wenn ich gesagt
hätte, dass Heilbronn bald 10 000 Studenten
haben würde. Inzwischen ist der Traum fast
zum Greifen nah. Ein weiterer starker Pluspunkt für Heilbronn ist die Experimenta, ein
Science Center der Dieter Schwarz Stiftung,
das junge Menschen für naturwissenschaftliche Phänomene begeistert. Denn MINT-Berufe sind Innovationstreiber und sichern den
Standort.
Viele der Heilbronner Initiativen werden
von der Wirtschaft nicht nur unterstützt,
sondern federführend vorangetrieben.
Wie beurteilen Sie die Verquickung von
Wirtschaft und Wissenschaft?
Wenn Wirtschaft und Wissenschaft Hand
in Hand arbeiten, kann das nur von Vorteil
sein. Die Ressourcen in der Wissenschaft erhöhen sich, auch fi nanziell. Studierende wiederum haben die Chance, sehr praxis- und
anwendungsorientiert für die Bedürfnisse
der Wirtschaft und des Marktes zu forschen.
Das ist sicherlich der Schwerpunkt unserer
Hochschullandschaft. Dass andere Wissenschaftssparten, die weniger ökonomisch
ausgerichtet sind, nicht unter den Tisch
fallen dürfen, ist aber selbstverständlich.
Ein Beispiel: Forschungen zu „Deutsch als
Fremdsprache“ sind vielleicht früher belächelt worden. Heute wissen wir, wie notwendig griffige Konzepte sind, um Menschen aus
anderen Ländern auch über die Sprache gut
zu integrieren.
Allen Anstrengungen zum Trotz wird das
Stadtbild aber nicht wirklich von innovativen Branchen geprägt. Immer noch sind
viele der großen Arbeitgeber klassische
Industriebetriebe.
Gegen große klassische Industriebetriebe ist nichts einzuwenden. Viele sind auf
dem Weg Richtung Industrie 4.0. Und: Ist
es nicht so, dass auch klassische Unternehmen, die nicht innovativ sind, irgendwann
von der Konkurrenz verdrängt werden?
Dass wir hier ordentliche Industrieunternehmen haben, spricht doch für deren Innovationskraft.
Aber wie erfolgreich sind Ihre Projekte
zur Ansiedelung innovativer Branchen
tatsächlich?
In unserem Zukunftspark bieten wir gezielt
jungen Unternehmen aus Zukunftsbranchen
wie Life Science, Medizin und IT eine hervorragende Infrastruktur. Hier können mittelfristig neue Branchen-Cluster entstehen.
Dankbar bin ich zudem dem Heilbronner
Zukunftsfonds, der mit dem Risikokapital
regionaler Unternehmerfamilien vielversprechende Jungunternehmen zu uns holt
und sie nachhaltig unterstützt – nicht nur
fi nanziell, sondern auch mit unternehmerischem Know-how. Ob sich dadurch künftige
Weltmarktführer angesiedelt haben, wird
zwar erst die Zukunft zeigen. Aber Potential
haben die jungen Firmen allemal. Und vergessen wir nicht: Auch das Silicon-Valley ist
klein gestartet.
Welche Schritte sind denn noch zu
machen, um den Strukturwandel zur
Wissensstadt zu schaffen?
Gemeinsam mit anderen Akteuren, von
den Bildungseinrichtungen und Hochschulen bis hin zur Wirtschaft, wollen wir
als Stadt ein tragfähiges Fundament dafür schaffen, dass die Menschen bei uns
beste Bildungsmöglichkeiten, Berufs- und
Lebensperspektiven erhalten. Dafür wird
zum Beispiel der Hochschulcampus in unserer Innenstadt auch mit Unterstützung
der Dieter Schwarz Stiftung weiter ausgebaut. Wir entwickeln im Zuge der Bundesgartenschau 2019 zudem ein komplett
neues Stadtquartier in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zukunftspark. Ich kenne
kaum eine vergleichbare Stadt, die wie wir
in die Zukunft investiert. Zur Bewältigung
des Strukturwandels müssen wir zudem
Antworten auf die Folgen der demographischen Entwicklung fi nden. Neben der Bildung spielen da etwa altersgerechte Wohnkonzepte und eine Willkommens- und
Integrationskultur, die Neuankömmlinge
mitnimmt, eine große Rolle.
Das Interview führte Werner Tewes.
IMPRESSUM
Region Heilbronn-Franken
Verlagsspezial der
Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH
Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt:
Frankfurt Business Media GmbH
Bismarckstraße 24, 61169 Friedberg
Geschäftsführung: Dr. André Hülsbömer,
Torsten Bardohn
Redaktion: Christiane Zimmer, Christina Lynn Dier
(verantwortlich)
Layout: F.A.Z. Creative Solutions, Marcel Salland
Autoren: Jürgen Jahnert, Ralf Lauterwasser,
Stefanie Pfäffle, Ulrich Schreyer, Matthias Stolla,
Werner Tewes, Achim Ühlin, Annette Wenk
Verantwortlich für Anzeigen: Ingo Müller,
für Anzeigenproduktion: Andreas Gierth
Weitere Angaben siehe Impressum auf Seite 4.
FOTO HOCHSCHULE HEILBRONN
Bildung fängt aber nicht erst in der Hochschule an. Bereits 2000 haben sich rund 20
Betriebe unter dem Titel Innovationsregion
Hohenlohe der Aufgabe verschrieben, Kindern und Jugendlichen Spaß an Technik
zu vermitteln. Es gibt unter anderem Erfi nderwochen in den Ferien, durchgängige
Kooperationen mit Schulen, die technische
Oberschule in Künzelsau und MINTecWerkstätten vom Kindergarten bis ins
Gymnasium. „Uns ist es wichtig, nachhaltig
zu agieren, um das schwindende Technikinteresse wieder zu wecken“, erklärt Geschäftsstellenleiterin Mirjam Rammhofer.
Im ländlichen Raum müsse man einfach
mehr machen, weil es den Nachwuchs
sonst wegziehe.
Dazu trägt auch die gemeinnützige Akademie für innovative Bildung und Management (AIM) bei. Diese bietet Bildungsangebote von der Geburt über die Kindheit bis ins
gesamte Berufsleben. „Solche Angebote sind
für unsere Region ein echter Glücksfall“, betont Schweiker. Denn so werden bereits Kinder ermutigt, ihre Talente zu entdecken und
auszuleben, was sich später in der Berufswahl niederschlagen kann. Schüler und Studenten bekommen dank des Engagements
der Firmen in der klein differenzierten Wirtschaftsregion Zugang zu Dingen wie großen
Maschinen, der sonst verbaut bliebe. „Die
Region ist in ihren Bildungsstrukturen sehr
bodenständig, und unsere Aufgabe ist es,
den jungen Leuten die Vorteile und die Perspektiven, die daraus entstehen, zu vermitteln.“ Sonst sind die Köpfe, um die es letztlich
geht, am Ende weg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Region Heilbronn-Franken / 1. Oktober 2015
Mit Talent, Mut und Beharrlichkeit zum Erfolg
Eine kleine Region mit großer Wirtschaftskraft und klugen Köpfen. Aus Heilbronn-Franken kommen auch
Weltmeister, Weltraumfahrer und Weltmänner mit Weitsicht. Von Christiane Zimmer
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Robert von Mayer
Theodor Heuss
Eberhard Gienger
Anja Fichtel
Alexander Gerst
Dem Tüchtigen wird späte Ehre zuteil
Er gab Deutschland ein neues Gesicht
Ein Tausendsassa mit Stehvermögen
Deutschlands beste Fechterin aller Zeiten
Der Tüftler im Weltall
D
as Schicksal des Heilbronner Arztes Robert von
Mayer steht für Beharrlichkeit und das Fazit:
Dem Tüchtigen wird irgendwann die verdiente
Ehre zuteil. Robert Mayer gilt als Erfi nder des Energieerhaltungsgesetzes. Er war der Erste, der erkannte, dass „Bewegung und Wärme nur verschiedene
Erscheinungsformen ein und derselben Kraft seien“,
wie er selbst als 60-Jähriger rückblickend schrieb.
Doch die Fachwelt nahm von seiner bahnbrechenden Erfi ndung lange Zeit keine Notiz. Sie verstand
ihn nicht, da er als Mediziner die Fachterminologie
der Physiker nicht beherrschte. Mayer verzweifelte
gar, als berühmte Physiker einige Jahre nach ihm in
die gleiche Richtung forschten und den Energiebegriff
als Schlüssel für das Weltverständnis proklamierten,
ohne von seinen Schriften über das Thema annähernd
Kenntnis zu nehmen. Alle Versuche Mayers, einer Anerkennung seines Erstrechtes, wurden verschmäht.
Als 1850 ein höhnischer Kommentar über ihn in der
Zeitung erschien, zweifelte Mayer vollends an seinem
Verstand. Er erlebte einen körperlichen wie seelischen
Zusammenbruch. Doch 1854 kam die Wende: Der
renommierte Physiker Hermann Helmholtz erkannte Mayers Verdienst um den Energieerhaltungssatz
an und sprach ihm öffentlich das Prioritätsrecht zu.
Mayer wurde fortan mit Ehrungen überschüttet. 1867
bekam er das Ritterkreuz des Verdienstordens der
württembergischen Krone verliehen und wurde in
den persönlichen Adelsstand erhoben. Fortan durfte
er sich „von Mayer“ nennen.
N
ach ihm sind Straßen, Plätze, Schulen und
andere öffentliche Einrichtungen benannt:
Theodor Heuss. Spätestens in der Grundschule weiß jedes Kind, wer der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland war. Was
nicht jeder weiß: Heuss ist auch ein Kind der Region
Heilbronn-Franken. Geboren und aufgewachsen in
Brackenheim im Landkreis Heilbronn, studierte er
Nationalökonomie, Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte und Staatswissenschaften
an der Münchner und an der Berliner Universität.
1905 promovierte Theodor Heuss über Weinbau und
Weingärtnerstand in Heilbronn. Nach seinem Studium war er politischer Redakteur und leitete von
1912 bis 1918 die Redaktion der „Neckar-Zeitung“ in
Heilbronn. Neben seiner journalistischen Passion
war Theodor Heuss ein leidenschaftlicher liberaler
Politiker. Mit der Gründung der FDP 1948 war er ihr
erster Vorsitzender. Nur ein Jahr später wurde Heuss
ins höchste Amt der noch jungen Bundesrepublik berufen. Als Bundespräsident trug er maßgeblich dazu
bei, das Bild des Nachkriegsdeutschlands als „Land
der Dichter, Philosophen und Musiker wiederherzustellen“, wie die Londoner „Times“ 1972 schrieb. Mit
79 Jahren starb Theodor Heuss 1963 in seinem Haus
in Stuttgart. Dort, am Rande der Feuerbacher Heide,
ist seit dem 7. März 2002 das Theodor-Heuss-Haus
als Museum für die Öffentlichkeit zugänglich. In seinem Geburtsort Brackenheim gibt es ebenfalls ein
Theodor-Heuss-Museum.
F
ans des Turnsports kennen ihn – den berühmten Gienger-Salto, der lange Zeit eine der Höchstschwierigkeiten im Reckturnen war. Sein „Erfinder“ Eberhard Gienger ist heute 64 und neben der
sportlichen vor allem auf der politischen Bühne aktiv:
Seit 2002 ist Gienger Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Arbeitsgruppe Sport und Ehrenamt der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion. Als einer der berühmtesten
Turner Deutschlands ist Gienger auch sportlich nach
wie vor eine Institution. Mehrfacher Deutscher Meister
und 1974 Weltmeister im Reckturnen sowie 1976 Bronzemedaillengewinner bei den Olympischen Spielen in
Montreal. 1974 und 1978 wurde Gienger in Deutschland
Sportler des Jahres und 2007 – mehr als 30 Jahre nach
seinen größten Erfolgen – wurde er in die International
Gymnastics Hall of Fame aufgenommen. Der gebürtige
Künzelsauer ist ein Tausendsassa und nicht unterzukriegen: Politiker, erfolgreicher Geschäftsmann und
bis Ende 2010 unter anderem Leistungssportchef im
Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). 1975 war
Gienger sogar Fluchthelfer für den früheren Vize-Weltmeister im Kunstturnen und DDR-Bürger Wolfgang
Thüne, den er bei der Europameisterschaft in Bern in
seinem Auto mit in die Bundesrepublik schleuste. Seine
Bodenständigkeit und Willensstärke stellt Gienger immer wieder unter Beweis. 2000 überlebte er nur knapp
einen Fallschirmabsturz und auch elf Jahre später
konnte ihn eine schwere Krankheit nicht davon abhalten, kurze Zeit nach der Genesung wieder die Reckstange zu erklimmen.
I
n den 80er Jahren war sie das Aushängeschild
der deutschen Fechter und ist bis heute eine der
erfolgreichsten Florettfechterinnen der Welt: Mit
17 Jahren wurde Anja Fichtel jüngste Fechtweltmeisterin aller Zeiten, mit 20 Jahren gewann sie bei
den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul zwei
Goldmedaillen. Vier Jahre später in Barcelona gelang
ihr das Kunststück, als frischgebackene Mutter die
Silbermedaille im Team zu gewinnen. Damals war
ihr Sohn Laurin gerade ein paar Wochen alt. Für ihre
herausragenden Erfolge wurde die gebürtige Tauberbischofsheimerin 2001 mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet – der höchsten sportlichen
Auszeichnung in Deutschland. Erst kürzlich wurde
ihr eine weitere Ehre zuteil: Gemeinsam mit Boris
Becker, Michael Groß und anderen Sportgrößen wurde Anja Fichtel in die „Hall of Fame des deutschen
Sports“ aufgenommen. Ihre Heimatstadt Tauberbischofsheim ist ebenfalls nicht ohne Grund Deutschlands „Fechtstadt“. In den 70er Jahren prägten Emil
Beck, Anja Fichtels weltbekannter Fechttrainer und
späterer Chefbundestrainer, und der FC Tauberbischofsheim den Ruf der Stadt als „Tauberbischofsheimer Goldschmiede“. Seit 1986 ist der Verein Olympiastützpunkt. Hier betreut Anja Fichtel heute den
Nachwuchs. Vom einstigen Ruhm ist die Fechtstadt
Tauberbischofsheim heute aber weit entfernt. Eine
Rückkehr zum Erfolg vergangener Zeiten scheint in
weiter Ferne. Was bleibt, sind Erinnerungen an die
Helden von damals.
EB
S
eine Fotos und Berichte von seinem Aufenthalt auf
der ISS haben ihn berühmt gemacht. Derzeit ist
Alexander Gerst der sicherlich bekannteste Kopf
aus der Region Heilbronn-Franken. Astro-Alex wurde
in der Wiege der Weltmarktführer geboren. Genauer
in Künzelsau. Dort wo einst eine Handvoll Tüftler und
Denker den Boden für den wirtschaftlichen Erfolg der
Region gegründet haben, wuchs er auf und besuchte die
Schule bis zum Abitur. Ein Tüftler ist auch Alexander
Gerst, was ihm wohl ebenso in die Wiege gelegt wurde. Schließlich war es sein Großvater, der laut Gerst die
Leidenschaft seines Enkels für die Raumfahrt entfacht
hat. Doch so bodenständig wie der neue Ehrenbürger
von Künzelsau auch ist, wenn es darum geht, seinen
Wissensdurst zu stillen, zieht es ihn in die Ferne. Dafür
reist er nicht nur ins Weltall, sondern erkundet ebenso
die Welt von unten. Vulkane sind seine Leidenschaft.
„Wenn das mit der Bewerbung als Astronaut nicht geklappt hätte, wäre ich wohl nach Alaska gezogen, um
Vulkane zu erkunden”, sagt er 2014. Für seine Doktorarbeit über den antarktischen Vulkan Mount Erebus harrte der Geophysiker und Vulkanologe sechs Wochen lang
bei minus 45 Grad Celsius aus. „Dort habe ich erstmals
erlebt, was Einsamkeit wirklich bedeutet.” Einsam ist
der vielgefragte Astronaut seit seiner Blue-Dot-Mission
sicher nicht mehr, auch wenn er sich die Stille vielleicht
das ein oder andere Mal zurückwünscht. Wer weiß,
vielleicht fliegt der Ehrenbürger aus Künzelsau demnächst wieder ins Weltall und betrachtet in aller Stille
die Erde vom Mond aus.
Irgendwo im Nirgendwo –
und doch mittendrin
Eine Region voller Weltmarktführer, aber ohne
Metropole: Wie lebt es sich
in Heilbronn-Franken? Gar
nicht mal so schlecht. Hier
ein paar Tipps, wieso die Region auch abseits der Wirtschaft punkten kann.
VON WERNER TEWES
W
as ist das Beste an HeilbronnFranken? Viele Einheimische
erwidern die Frage mit: „Die
81 nach Stuttgart.“ Gemeint
ist die Autobahn in Richtung Landeshauptstadt. Tatsache ist, dass die Antwort erstens
zumeist mit einem Augenzwinkern versehen
ist, zweitens aber auch zeigt, dass sich nicht
wenige Menschen schwertun, die Vorzüge
ihrer Region – abseits wirtschaftlicher Stärken – auf den Nenner zu bringen.
Unterschiedlichste Identitäten
sind hier vereint
Problem eins: Heilbronn-Franken existiert
als Region eigentlich nur auf dem Papier,
nicht im Bewusstsein der Einwohner, die
sich wahlweise eher als Kraichgauer, Badener, Hohenloher, Unterländer, Schwaben oder
Franken fühlen. Problem zwei: Heilbronn ist
zwar das Zentrum der Region und mit knapp
120 000 Einwohnern formell auch eine Großstadt; der Charakter einer echten Metropole
fehlt ihr allerdings. Viel zu entdecken gibt es
in der Region dennoch – und zwar nicht nur,
aber auch in ihrem Zentrum.
Heilbronn sagt man nach, dass es vor der
Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein imposantes Stadtbild hatte – vielleicht nicht so
prächtig, aber doch ähnlich dem der rund
60 Kilometer nordwestlich gelegenen Stadt
Heidelberg. Alte Fotografien belegen das.
Heute erschließt sich dem Besucher der
Heilbronn sagt man
nach, dass es vor
der Zerstörung im
Zweiten Weltkrieg
ein imposantes
Stadtbild hatte –
vielleicht nicht so
prächtig, aber doch
ähnlich dem der
rund 60 Kilometer
nordwestlich
gelegenen Stadt
Heidelberg.
Charme erst auf den zweiten Blick. Doch der
lohnt sich. Mit 514 Hektar hat Heilbronn beispielsweise die größte Rebfläche einer Großstadt in Deutschland. Die Weinberge an den
Rändern der Stadt sind malerisch. Wer auf
dem Wartberg entlang des Wein-PanoramaWegs spaziert, dem eröffnet sich ein herrliches Panorama, besonders im Herbst. Weiterer Tipp: Unbedingt einen Stopp in einer
der zahlreichen Besenwirtschaften einlegen. Besenwirtschaften – so nennt man die
von den Winzern, die in Württemberg übrigens Wengerter heißen, saisonal geöffneten
Gastbetriebe. Wann welches Weingut zum
Verweilen einlädt, ist unter anderem dem
„Besenkalender“ der lokalen Zeitung zu entnehmen, die sogar einen Weinredakteur in
ihren Reihen hat.
Genießen und Golfen
Überhaupt kann die Region mit einem starken gastronomischen Angebot punkten.
Hohenlohe zum Beispiel nennt sich „Genießerregion“ – nicht zu Unrecht. Wer eine
Gourmetküche der Besenwirtschaft vorzieht, fi ndet sie etwa im Wald- & Schlosshotel Friedrichsruhe in Zweifl ingen, östlich
von Heilbronn gelegen, keine halbe Stunde
Autofahrt entfernt, wo mit Boris Benecke
ein Sternekoch die Fäden in der Hand hält.
Verbinden lässt sich der dortige Restaurantbesuch mit einem Gang zum Spa oder einer
Partie Golf.
Noch etwas weiter östlich liegt Schwäbisch Hall. Ein Ort, der vielen Menschen
außerhalb Heilbronn-Frankens vor allem
durch die Bausparkasse ein Begriff sein
mag, der aber auch kulturell viel zu bieten
hat. Genannt sei die Kunsthalle Würth, in
der unter anderem schon Werke von Georg Baselitz, Max Liebermann und Edvard
Munch zu sehen waren. Die historische Altstadt wiederum wartet mit einzigartigem
mittelalterlichen Flair auf. Allein der Marktplatz ist umsäumt von Bauwerken verschiedenster Stile: die romanisch-gotische St. Michael-Kirche mit ihrer 70 Meter breiten und
53 Stufen hohen Freitreppe, dann das Café
am Markt im Rokoko- sowie das Rathaus im
spätbarocken Stil. Wer von Juni bis August
in Schwäbisch Hall vorbeischaut, kann seinen Ausflug zusätzlich mit einem Besuch zu
Lohnenswert, vor allem im Herbst: Der Wein-Panorama-Weg auf dem Wartberg.
den Freilichtspielen verknüpfen, den zweitältesten Deutschlands. Die Aufführungen
fi nden unter anderem auf der Freitreppe vor
St. Michael statt.
Stichwort einzigartiges Flair: Ganz
Deutschland fährt nach Nürnberg, um mit
dem Christkindlesmarkt einen besonderen
Weihnachtsmarkt zu erleben. Ganz Deutschland? Die Menschen aus Heilbronn-Franken,
für die Nürnberg gar nicht so weit weg ist,
haben mit dem Altdeutschen Weihnachtsmarkt in Bad Wimpfen eine zumindest ebenbürtige Veranstaltung in ihrer Region. In den
engen Gassen der Kleinstadt lässt sich an
den ersten drei Adventswochenenden mindestens genauso gut Spekulatius und Glühwein genießen. Das Motto: weniger Plastik,
mehr Authentizität.
„Schaffe, net schwätze“
Natürlich ist die Liste an Sehenswürdigkeiten subjektiv zusammengestellt und je nach
Geschmack vielfältig erweiterbar. Niemand
weiß das so gut wie die Bewohner der Region selbst. Deshalb lautet der eigentliche
FOTO HANSULRICH-ANSEBACH/ISTOCK/THINKSTOCK
Tipp: hinter die Fassade, gerade auch der
Menschen zu schauen. Ihre Mentalität ist
zwar „Schaffe, net schwätze“, doch wer sie
erst mal zum „Schwätzen“ gebracht und damit das Eis gebrochen hat, fi ndet Charaktere
mit einer Mischung aus Bodenständigkeit,
Herzlichkeit, Schlitzohrigkeit und Lebensfreude vor, garniert mit feinem Humor – was
schnell offenbart, wieso die Menschen „die
81“ vielleicht mal nutzen, um der Landeshauptstadt Stuttgart einen kurzen Besuch
abzustatten, nicht aber, um ihrer Region den
Rücken zu kehren.