Dänemark vor der Wahl: Rot oder Blau? von Andreas Storm Die Bürgerinnen und Bürger in unserem nördlichen Nachbarland Dänemark sind am kommenden Donnerstag aufgerufen, ein neues Parlament, den Folketing, zu wählen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die seit vier Jahren an der Spitze einer sozialdemokratisch-geführten Minderheitsregierung stehende Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt (S) ihr Amt verteidigen kann oder ob ihr Amtsvorgänger und heutiger Spitzenkandidat der oppositionellen liberalen Partei VENSTRE, Lars Lokke Rasmussen (V), einen Regierungswechsel herbeiführen kann. Da das Parteiensystem in Dänemark im Gegensatz zu den Verhältnissen in Deutschland bereits seit langer Zeit stark segmentiert ist und in der Folge die Bildung von Minderheitsregierungen eine lange Tradition aufweist, soll ein kurzer Überblick über das Wahlsystem, das Parteiensystem, die Praxis der Regierungsbildung sowie die sich aus der parlamentarischen Vertretung der autonomen Länder Färöer und Grönland für die Mehrheitsbildung im Folketing ergebenden Besonderheiten gegeben werden. Anschließend wird die Ausgangslage für die Wahlen auf der Grundlage der aktuellen Meinungsumfragen dargestellt. 1. Das dänische Wahlsystem Das dänische Parlament, der Folketing, besteht aus 179 Abgeordneten. Von diesen werden 175 im Kernland Dänemark gewählt. Hinzu kommen jeweils zwei Vertreter der autonomen Länder Färöer und Grönland, die nach besonderen Regeln von den Wählern bestimmt werden. Für die Wahl im Kernland Dänemark gilt ein reines Verhältniswahlrecht. Dazu ist das Wahlgebiet in drei Regionen mit insgesamt zehn Wahlkreisen aufgeteilt. Jeder Wähler hat eine Stimme, mit der er den Kandidaten einer Partei oder einen unabhängigen Bewerber in seinem Wahlkreis wählen kann. Die Verteilung der Parlamentsmandate erfolgt unter allen Parteien, die mindestens zwei Prozent der Stimmen im gesamten Wahlgebiet oder mindestens ein Direktmandat in einem der zehn Wahlkreise (Grundmandat) errungen haben. In einem zweistufigen Verfahren werden zunächst 135 Sitze nach einem vorab festgelegten Verteilungsschlüssel auf die zehn Wahlkreise verteilt. In einer anschließenden zweiten Runde werden weitere 40 Kompensationsmandate derart vergeben, dass die Sitzverteilung einer weitgehend proportionalen Abbildung der Stimmenanteile aller Parteien entspricht, die die landesweite ZweiProzent-Hürde übersprungen haben.1 2. Das dänische Parteiensystem Traditionell formieren sich die dänischen Parteien in zwei großen Wahlblöcken: - Dem ROTEN BLOCK unter der Führung der SOZIALDEMOKRATEN (S) von Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt gehören die SOZIALLIBERALEN („Radikale Venstre“; RV), die SOZIALISTISCHE VOLKSPARTEI (SF) und die ROT-GRÜNE EINHEITSLISTE (EL) an. Erstmals kandidiert bei dieser Folketingswahl die neugegründete Partei ALTERNATIVE (AL), die ebenfalls zum ROTEN BLOCK zählt und somit eine sozialdemokratisch-geführte Regierung unterstützten will. 1 Für eine ausführliche Darstellung des zweistufigen Verfahrens der Sitzverteilung anhand des Wahlergebnisses von 2011 siehe: DANISHPARLIAMENT.DK: The Parliamentary Electoral System in Denmark, Kopenhagen, 2011 1 - Zum BLAUEN BLOCK unter der Leitung des Oppositionsführers Lars Lokke Rasmussen von der liberalen Partei VENSTRE (V) zählen die rechtsgerichtete DÄNISCHE VOLKSPARTEI (DF), die LIBERALE ALLIANZ (LA), die KONSERVATIVE VOLKSPARTEI (KF) sowie die derzeit nicht im Parlament vertretenen CHRISTDEMOKRATEN (CD). Die Tabelle 1 zeigt das Ergebnis der Wahlen zum Folketing im Jahr 2011 auf: Tab. 1: Ergebnis der Wahlen zum Folketing in Dänemark 2011 (ohne Färöer, Grönland) 2011 Partei % Sitze 2011 Partei % Sitze Sozialdemokraten S 24.8 44 Venstre (Liberale) V 26.7 47 Sozialliberale RV 9.5 17 Dän. Volkspartei DF 12.3 22 Sozialist. Volkspartei SF 9.2 16 Liberale Allianz LA 5.0 9 Rot-Grüne Einheitsliste EL 6.7 12 Kons. Volkspartei KF 4.9 8 Alternative AL . . Christdemokraten KD 0.8 - 50.2 89 49.7 86 Roter Block Blauer Block Quelle: DANMARKS STATISTIK, 19.09.2011 3. Die Praxis der Regierungsbildung Dänemark weist eine jahrzehntelange Tradition der Bildung von Minderheitsregierungen auf. Nach der Folketingswahl führt die dänische Königin zunächst Konsultationsgespräche mit den Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien. Danach beauftragt sie in der Regel den Kandidaten der stärksten Partei des führenden Parteienbündnisses mit der Regierungsbildung. Entscheidend ist somit, welcher der beiden Wahlblöcke eine Mehrheit der Abgeordneten im Folketing vorweisen kann. Während sich traditionell alle zu einem der beiden Blöcke zählenden Parteiführer bei den Konsultationen zur Vergabe des Auftrags zur Regierungsbildung hinter den jeweiligen Spitzenkandidaten ihres Wahlblocks stellen, bedeutet dies keineswegs, dass sie sich anschließend auch alle an der Regierung beteiligen. So haben nach der letzten Folketingswahl die SOZIALDEMOKRATEN eine Koalition mit den SOZIALLIBERALEN und der SOZIALISTISCHEN VOLKSPARTEI gebildet. Diese Minderheitsregierung wurde zunächst von der ROT-GRÜNEN EINHEITSLISTE toleriert. Nachdem die SOZIALLISTISCHE VOLKSPARTEI zu Beginn des vergangenen Jahres aus der Regierung ausgeschieden ist, führen die SOZIALDEMOKRATEN gemeinsam mit den SOZIALLIBERALEN ihre Minderheitsregierung alleine weiter. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach dem in Dänemark geltenden „Prinzip des negativen Parlamentarismus“ eine Regierung so lange im Amt bleibt, wie ihr nicht eine Mehrheit im Parlament ausdrücklich das Misstrauen ausspricht. 4. Die Vertretung von Färöer und Grönland im dänischen Folketing Die beiden nordatlantischen Außengebiete Dänemarks, Färöer und Grönland, genießen heute eine weitgehende Autonomie und regeln ihre inneren Angelegenheiten selbständig. So haben beide Länder jeweils ein eigenes Landesparlament und eine eigene Landesregierung. Dänemark verfügt hingegen insbesondere in den Bereichen der Außen- und Verteidigungspolitik über die Regelungskompetenz. Deshalb sind die beiden autonomen Länder mit jeweils zwei Abgeordneten im dänischen Folketing vertreten. Dort nehmen sie allerdings eine gewisse Sonderstellung ein, zumal in beiden Ländern voll eigenständige Parteiensysteme bestehen. 2 Bei den letzten Folketingswahlen konnten in Grönland die Partnerparteien des ROTEN BLOCKS erneut beide Parlamentsmandate erobern. Auf Färöer ging jeweils ein Sitz an einen Vertreter des ROTEN sowie des BLAUEN BLOCKS. Da der ROTE BLOCK somit über drei zusätzliche Abgeordnetenmandate aus den nordatlantischen Ländern und damit insgesamt mit 92 Sitzen über die erforderliche Mehrheit im Folketing verfügte, ging der Auftrag zur Regierungsbildung an die SOZIALDEMOKRATEN. 5. Die Umfragen: Rot und Blau liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen Drei Tage vor der Wahl deuten die Meinungsumfragen auf ein sehr knappes Rennen zwischen den beiden Wahlblöcken hin. Dabei hatte bis Ende Mai 2015 über viele Monate hinweg der BLAUE BLOCK in allen veröffentlichten Umfragen einen klaren Vorsprung vor dem linken Lager (ROTER BLOCK). Angesichts dieses scheinbar so eindeutigen demoskopischen Befundes schien die Wahl bereits zum Zeitpunkt der Ankündigung des Wahltermins durch die Ministerpräsidentin am 27. Mai zugunsten des bürgerlichen Lagers (BLAUER BLOCK) entschieden zu sein. Doch seit Beginn der heißen Wahlkampfphase vor zwei Wochen hat sich das Bild gründlich gewandelt. Derzeit werden täglich bis zu einem halben Dutzend neuer Umfrageergebnisse veröffentlicht. Dabei hat sich gezeigt, dass der ROTE BLOCK den Rückstand zum BLAUEN BLOCK nahezu vollständig eingeholt hat und damit der Ausgang der Wahl wieder völlig offen erscheint. Die Tabelle 2 zeigt die aktuellen Umfrageergebnisse von fünf führenden dänischen Meinungsforschungsinstituten: Tab. 2: Umfragen zur Parlamentswahl in Dänemark am 18. Juni 2015 2 Partei Gallup 13.6. Epinion 14.6. Greens 13.6. Voxmeter 13.6. Wilke 13.6. % Sitze % Sitze % Sitze % Sitze % Sitze S 26.3 47 24.9 44 23.6 43 26.1 46 24.5 43 RV 5.0 9 4.3 8 5.3 9 4.7 8 5.5 10 SF 4.9 9 5.3 9 5.3 11 6.3 11 6.5 11 EL 8.4 15 8.6 15 9.1 14 7.1 13 8.2 14 AL 4.4 8 5.0 9 3.8 7 4.3 8 4.3 8 ROT 49.0 88 48.1 85 47.1 84 48.5 86 49.0 86 V 21.0 37 20.2 36 20.6 36 23.3 41 20.2 36 DF 18.4 33 18.8 33 20.2 34 16.9 30 17.0 30 LA 6.4 11 8.2 14 8.0 16 7.6 13 8.9 16 KF 3.5 6 3.9 7 2.9 5 2.6 5 4.1 7 KD 1.5 - 0.8 - 1.2 - 0.8 - 0.8 - BLAU 50.8 87 51.9 90 52.9 91 51.2 89 51.0 89 Quelle: ELECTOGRAPH.COM: Denmark General Election, Stand: 14. Juni 2015 Aus den Umfragen lassen sich folgende Erwartungen für das Wahlergebnis ableiten: - Die SOZIALDEMOKRATEN (S) werden die liberale VENSTRE (V) als stärkste politische Kraft ablösen. Die oppositionelle VENSTRE (V) muss mit starken Stimmenverlusten rechnen. - Im BLAUEN BLOCK ist eine deutliche Verlagerung der Gewichte zugunsten der rechtslastigen DÄNISCHEN VOLKSPARTEI (DF) zu erwarten. Während sich die LIBERALE ALLIANZ (LA) ebenfalls 2 Die Angaben beziehen sich auf das Kernland Dänemark, d.h. alle Angaben ohne die Ergebnisse für Färöer und Grönland. 3 deutlich verstärken dürfte, muss die KONSERVATIVE VOLKSPARTEI (KF) erneut mit massiven Stimmenverlusten rechnen. Sie könnte sogar nur knapp über der Zwei-Prozent-Hürde liegen. - Die CHRISTDEMOKRATEN (KD) haben nach übereinstimmenden Ergebnissen aller Umfragen aus den letzten Wochen auch bei dieser Wahl keine Chance zum Einzug ins dänische Folketing. - Im ROTEN BLOCK dürften sich die Gewichte zwischen den Parteien ebenfalls erheblich verändern. So müssen sowohl die SOZIALLIBERALEN (RV) als auch die SOZIALISTISCHE VOLKSPARTEI (SF) mit deutlichen Stimmenverlusten rechnen. Für die ROT-GRÜNE EINHEITSLISTE (EL) sind hingegen eher Stimmenzuwächse zu erwarten. - Die erstmals kandidierende Partei ALTERNATIVE (AL) kann nach allen Umfrageergebnissen mit dem sicheren Einzug ins dänische Parlament rechnen. Die wahlentscheidende Frage, welcher Block die Mehrheit der Mandate erhalten wird und damit den Anspruch auf die Regierungsbildung stellen kann, muss weiterhin offen bleiben. So liegt derzeit nur bei Gallup der ROTE BLOCK in Führung, während bei den übrigen vier Instituten (Epinion, Greens, Voxmeter, Wilke) der BLAUE BLOCK knapp vorne liegt. Dabei sind die denkbaren Ergebnisse der beiden nordatlantischen Außengebiete noch gar nicht berücksichtigt. Nicht völlig ausgeschlossen erscheint angesichts des sich abzeichnenden Kopf-an-Kopf-Rennens ein Wahlausgang, bei dem das bürgerliche Lager (BLAUER BLOCK) zwar im Kernland Dänemark mit 88 Mandaten eine knappe Mehrheit erringt, der ROTE BLOCK aber durch den erneuten Gewinn von drei der vier zu vergebenden nordatlantischen Sitze die Mehrheitsverhältnisse im Folketing umkehren kann. Es bleibt also spannend bei unseren Nachbarn im Norden. 4
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