Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. Fachverband im Deutschen Caritasverband CBP e.V. Postfach 420 79004 Freiburg i.Br. Geschäftsstelle Herr Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Friedrichstraße 108 10117 Berlin Postfach 420, 79004 Freiburg i. Br. Karlstraße 40, 79104 Freiburg i. Br. Lorenz-Werthmann-Haus Telefon-Zentrale: 0761 200–0 Telefon-Durchwahl: 0761 200-301 Telefax 0761 200-666 E-Mail: [email protected] www.cbp.caritas.de Vorab per E-Mail an: [email protected] 20.08.2015 Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderung Offener Brief Sehr geehrter Herr Bundesminister, mit einiger Überraschung haben wir anlässlich einer Ausschusssitzung des Deutschen Vereins zur Kenntnis genommen, dass die beiden Reformvorhaben zum SGB XI (Pflegestärkungsgesetz II) und XII (Bundesteilhabegesetz) innerhalb der Bundesregierung und den einschlägigen Ministerien offenbar nicht abgestimmt sind, obwohl diese zeitlich parallel erfolgen. Dies ist umso verwunderlicher, als sich eine Kardinalproblematik immer stärker abzeichnet, die von Anfang an die Pflegeversicherung im Verhältnis zur Eingliederungshilfe geprägt hat: das Herausfallen der Menschen mit Behinderung aus der Pflegeversicherung bei stationärer Unterbringung. Die Tatsache, dass mehrfachbehinderte Menschen, die nach heutigem Stand nach wie vor stationärer Betreuungssettings bedürfen Pflegeleistungen lediglich im Gegenwert eines Anerkennungsbetrags bekommen (siehe SGB XI §43a; 266.- €/Monat) verstößt u.E. nicht nur gegen die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern verwehrt den Zugang zu vollen Leistungen der Pflegeversicherung nach SGB XI (und im Übrigen auch zu Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach SGB V). Der genannte Personenkreis zeichnet sich durch eine gestiegene Lebenserwartung und wachsenden Pflegebedarf aus. Als gravierend sehen wir die Tatsache an, dass außerhalb des stationären Wohnens die Gewährung der Pflegeleistungen nicht infrage steht – hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch Menschen mit Behinderung pflegeversichert sind. Hier sehen wir einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Es könnte nun argumentiert werden, dass dieser Leistungsanspruch mit der Zahlung des Betrags nach §43a SGB XI abgegolten ist und die übrigen Pflegeleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe erbracht werden. Dies verkennt, dass das Recht der Eingliederungshilfe für eine angemessene Erfassung und Bewertung des pflegerischen Hilfebedarfs keine Instrumente kennt (vgl. sog. H.M.B.W. – Verfahren). Das von Ihrem Haus vorangebrachte Pflegestärkungsgesetz II führt u.a. aus diesem Grunde ein neues Begutachtungsinstrument ein, weil erkannt worden ist, dass in diesem Falle nicht körperlich basierte Pflegebedarfe (z.B. aus Demenz resultierend) nicht angemessen erfasst werden könnten. Das neue Bank für Sozialwirtschaft Karlsruhe IBAN: DE 37 6602 0500 0001 7200 00 BIC/SWIFT: BFSWDE33KRL 17 200 00 (BLZ 660 205 00) Steuernummer: 06469/44205 UST-IdNr.: DE230980810 BLZ 660 205 00 Geschäftsführender Vorstand: Johannes Magin, Jürgen Kunze, Dr. Hubert Soyer, Dr. Thorsten Hinz Vereinsregisternr.: VR 3547 Begutachtungsinstrument wird aber aus unserer Sicht die Versorgung pflegebedürftiger Menschen mit Schwerst-und Mehrfachbehinderung nicht verbessern, sondern ggfs. nur zur Entlastung der Träger der Eingliederungshilfe beitragen. Kritisch zu würdigen ist u.E. auch der sozialrechtliche Pflegebegriff (Pflegedürftigkeit), der nicht umfassend den WHO-Anforderungen der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) erfüllt. Er ist aus fachlicher Sicht ungenügend und muss daher zu Fehleinschätzungen führen. Beide geplanten Gesetze orientieren sich verstärkt an Zielgruppen: in der Pflegeversicherung sind v.a. ältere Menschen und die nötige Pflege im Alter im Blick; die Eingliederungshilfe fokussiert auf Menschen, die alltagspraktische Hilfen, Pflege und Förderung lebenslang benötigen. Zunehmende und differenzierte Pflegebedarfe entwickeln sich bei beiden Zielgruppen. In der Pflegeversicherung werden jetzt somatische Pflegeorientierungen ergänzt. In der Eingliederungshilfe fehlt genau die Anerkennung umfangreicher und spezifischer Pflegebedarfe. Aber beide Gesetze haben keine gemeinsame Schnittstelle. D.h. es bleibt unklar, was Pflege ist und wer dafür finanziell – gerade beim steigenden Pflegebedarf – aufzukommen hat. Wir halten es für dringend erforderlich, Menschen mit Behinderung den Zugang zu Pflegeleistungen im Rahmen ihres angestammten Hilfesystems zu erschließen. Andernfalls ist damit zu rechnen, dass der Personenkreis immer stärker in Pflegeeinrichtungen abgedrängt wird - und dass dies auch mit jüngeren Menschen mit Behinderung, die einen hohen Pflegebedarf haben und Menschen mit erworbenen Behinderungen (z.B. SchädelHirn-Trauma Patienten) geschieht. Nachdem die im Fokus stehenden Menschen mit Behinderung sowohl pflegeversichert als auch „eingestuft“ sind oder werden können (siehe MDK Pflegestufen 1-3a und künftig Pflegegrade 1-5), kann die Pflegeversicherung die Leistung nicht verweigern. Die Betroffenen verlieren allerdings ihre angestammte und gewohnte Umgebung, einen Förderrahmen inklusive eines sog. Zweiten Lebensbereichs und den Bezug zu Fachpersonal, dass spezifisch für die Belange der Inklusion ausgebildet ist (Assistenz). Der Umzug in eine Pflegeeinrichtung, den wir aus fachlichen Gründen grundsätzlich ablehnen, ist nur eines der möglichen Szenarien, die sich infolge der fehlenden Schnittstelle ergeben haben. Viele Kostenträger der Sozialhilfe – i.d.R. Kommunen – haben in der Vergangenheit den politisch gewollten Entlastungseffekt auf ihre Haushalte durch die Pflegeversicherung in Anspruch genommen und nach Wegen gesucht, diese Option auszuweiten (z.B. in Sachsen werden häufig Menschen mit Behinderung nach dem Ende ihrer Werkstatttätigkeit in Pflegeheime verwiesen). Ferner sind schon heute Mischformen entstanden, die hier aufzulisten den Rahmen dieses Schreiben übersteigen würde. Sie laufen alle darauf hinaus, dass Pflegeleistungen aus der Pflegeversicherung entweder direkt oder indirekt über die kommunalen Kostenträger in Anspruch genommen werden, obwohl die Betroffenen auch Leistungen der Eingliederungshilfe bekommen. Diese pragmatischen Lösungen bedürfen u.a. der Normenkontrolle, v.a. aber auch der Prüfung inwieweit damit rechtsstaatliche Lösungen gefunden wurden, die ggf. auch gerichtlich überprüfbar sind. U.E. kann es auch nicht angehen, dass angesichts der gesetzgeberisch ungeklärten Schnittstelle einzelne Kostenträger Entlastungen beanspruchen, die eigentlich den Betroffenen zugutekommen sollten. Fassen wir die Problemstellung noch einmal zusammen: Kommunale Kostenträger entlasten sich und ihre Haushalte indem sie Personen, die innerhalb des SGB XII zu versorgen sind entweder direkt oder über Kostenanteile in die Pflegeversicherung verschieben. Ältere Menschen mit Mehrfachbehinderungen und Pflegebedarf sowie Menschen mit erworbenen Mehrfachbehinderungen werden entweder direkt in Pflegeheime abgeschoben oder unter dem Regime der Pflegeversicherung und/oder in pflegeheimähnlichen Settings betreut. Die fehlende Schnittstelle erspart der Pflegeversicherung die Leistungsverpflichtung nicht, verhindert aber eine sozialrechtlich und rechtsstaatlich einwandfreie, auch fachlich nachvollziehbare Lösung. 2 Vor diesem Hintergrund fordern wir Sie nachdrücklich auf, im Rahmen der Gesetzgebung zum Pflegestärkungsgesetz II wie auch im Kontext der Gesetzgebung zum Bundesteilhabgesetz die fehlende Schnittstelle dem SGB XI zum SGB XII nachzurüsten und in diesbezügliche Gespräche mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einzutreten. Es ist an der Zeit diese Problematik, die seit 1995 existiert, aus der Welt zu schaffen. Die Diskussionen um eine Entlastung der kommunalen Haushalte im Rahmen der Reform der Eingliederungshilfe haben gezeigt, dass der Bund durchaus Spielräume hat, wo und wie er zur Entlastung beitragen kann. Ein weiterer Beitrag könnte sein, den oben skizzierten Bedarf der Pflegeversicherung zu übernehmen wie er sich über eine Aufnahme des Personenkreises aus den stationären Behindertenhilfeeinrichtungen ergeben würde. Das wären derzeit etwa 1,5 Mrd. Euro. Der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP) wird das hier skizzierte Anliegen nachdrücklich vertreten und im öffentlichen Diskurs begleiten. Der CBP ist ein anerkannter Fachverband im Deutschen Caritasverband. Mehr als 1000 Mitgliedseinrichtungen begleiten mit ca. 41.500 Mitarbeitenden rund 150.000 Menschen mit Behinderung oder mit psychischer Erkrankung und unterstützen ihre selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Kopien des vorliegenden Schreibens erhalten die Ministerin für Arbeit und Soziales Frau Andrea Nahles und die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung, Frau Verena Bentele. Mit freundlichen Grüßen Jürgen Kunze Stellvertretender Vorsitzender Dr. Thorsten Hinz Geschäftsführer 3
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