Brief - Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie

Caritas Behindertenhilfe
und Psychiatrie e.V.
Fachverband im
Deutschen Caritasverband
CBP e.V.  Postfach 420  79004 Freiburg i.Br.
Geschäftsstelle
Herr Bundesgesundheitsminister
Hermann Gröhe
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20.08.2015
Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderung
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Bundesminister,
mit einiger Überraschung haben wir anlässlich einer Ausschusssitzung des Deutschen
Vereins zur Kenntnis genommen, dass die beiden Reformvorhaben zum SGB XI
(Pflegestärkungsgesetz II) und XII (Bundesteilhabegesetz) innerhalb der Bundesregierung
und den einschlägigen Ministerien offenbar nicht abgestimmt sind, obwohl diese zeitlich
parallel erfolgen. Dies ist umso verwunderlicher, als sich eine Kardinalproblematik immer
stärker abzeichnet, die von Anfang an die Pflegeversicherung im Verhältnis zur
Eingliederungshilfe geprägt hat: das Herausfallen der Menschen mit Behinderung aus der
Pflegeversicherung bei stationärer Unterbringung.
Die Tatsache, dass mehrfachbehinderte Menschen, die nach heutigem Stand nach wie vor
stationärer Betreuungssettings bedürfen Pflegeleistungen lediglich im Gegenwert eines
Anerkennungsbetrags bekommen (siehe SGB XI §43a; 266.- €/Monat) verstößt u.E. nicht
nur gegen die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern verwehrt den Zugang zu
vollen Leistungen der Pflegeversicherung nach SGB XI (und im Übrigen auch zu Leistungen
der häuslichen Krankenpflege nach SGB V). Der genannte Personenkreis zeichnet sich
durch eine gestiegene Lebenserwartung und wachsenden Pflegebedarf aus. Als gravierend
sehen wir die Tatsache an, dass außerhalb des stationären Wohnens die Gewährung der
Pflegeleistungen nicht infrage steht – hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch
Menschen mit Behinderung pflegeversichert sind. Hier sehen wir einen Verstoß gegen den
Gleichheitsgrundsatz.
Es könnte nun argumentiert werden, dass dieser Leistungsanspruch mit der Zahlung des
Betrags nach §43a SGB XI abgegolten ist und die übrigen Pflegeleistungen im Rahmen der
Eingliederungshilfe erbracht werden. Dies verkennt, dass das Recht der Eingliederungshilfe
für eine angemessene Erfassung und Bewertung des pflegerischen Hilfebedarfs keine
Instrumente kennt (vgl. sog. H.M.B.W. – Verfahren). Das von Ihrem Haus vorangebrachte
Pflegestärkungsgesetz II führt u.a. aus diesem Grunde ein neues Begutachtungsinstrument
ein, weil erkannt worden ist, dass in diesem Falle nicht körperlich basierte Pflegebedarfe
(z.B. aus Demenz resultierend) nicht angemessen erfasst werden könnten. Das neue
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Begutachtungsinstrument wird aber aus unserer Sicht die Versorgung pflegebedürftiger
Menschen mit Schwerst-und Mehrfachbehinderung nicht verbessern, sondern ggfs. nur zur
Entlastung der Träger der Eingliederungshilfe beitragen.
Kritisch zu würdigen ist u.E. auch der sozialrechtliche Pflegebegriff (Pflegedürftigkeit), der
nicht umfassend den WHO-Anforderungen der „International Classification of Functioning,
Disability and Health“ (ICF) erfüllt. Er ist aus fachlicher Sicht ungenügend und muss daher zu
Fehleinschätzungen führen. Beide geplanten Gesetze orientieren sich verstärkt an
Zielgruppen: in der Pflegeversicherung sind v.a. ältere Menschen und die nötige Pflege im
Alter im Blick; die Eingliederungshilfe fokussiert auf Menschen, die alltagspraktische Hilfen,
Pflege und Förderung lebenslang benötigen. Zunehmende und differenzierte Pflegebedarfe
entwickeln sich bei beiden Zielgruppen. In der Pflegeversicherung werden jetzt somatische
Pflegeorientierungen ergänzt. In der Eingliederungshilfe fehlt genau die Anerkennung
umfangreicher und spezifischer Pflegebedarfe. Aber beide Gesetze haben keine
gemeinsame Schnittstelle. D.h. es bleibt unklar, was Pflege ist und wer dafür finanziell –
gerade beim steigenden Pflegebedarf – aufzukommen hat.
Wir halten es für dringend erforderlich, Menschen mit Behinderung den Zugang zu
Pflegeleistungen im Rahmen ihres angestammten Hilfesystems zu erschließen. Andernfalls
ist damit zu rechnen, dass der Personenkreis immer stärker in Pflegeeinrichtungen
abgedrängt wird - und dass dies auch mit jüngeren Menschen mit Behinderung, die einen
hohen Pflegebedarf haben und Menschen mit erworbenen Behinderungen (z.B. SchädelHirn-Trauma Patienten) geschieht.
Nachdem die im Fokus stehenden Menschen mit Behinderung sowohl pflegeversichert als
auch „eingestuft“ sind oder werden können (siehe MDK Pflegestufen 1-3a und künftig
Pflegegrade 1-5), kann die Pflegeversicherung die Leistung nicht verweigern. Die
Betroffenen verlieren allerdings ihre angestammte und gewohnte Umgebung, einen
Förderrahmen inklusive eines sog. Zweiten Lebensbereichs und den Bezug zu
Fachpersonal, dass spezifisch für die Belange der Inklusion ausgebildet ist (Assistenz).
Der Umzug in eine Pflegeeinrichtung, den wir aus fachlichen Gründen grundsätzlich
ablehnen, ist nur eines der möglichen Szenarien, die sich infolge der fehlenden Schnittstelle
ergeben haben. Viele Kostenträger der Sozialhilfe – i.d.R. Kommunen – haben in der
Vergangenheit den politisch gewollten Entlastungseffekt auf ihre Haushalte durch die
Pflegeversicherung in Anspruch genommen und nach Wegen gesucht, diese Option
auszuweiten (z.B. in Sachsen werden häufig Menschen mit Behinderung nach dem Ende
ihrer Werkstatttätigkeit in Pflegeheime verwiesen). Ferner sind schon heute Mischformen
entstanden, die hier aufzulisten den Rahmen dieses Schreiben übersteigen würde. Sie
laufen alle darauf hinaus, dass Pflegeleistungen aus der Pflegeversicherung entweder direkt
oder indirekt über die kommunalen Kostenträger in Anspruch genommen werden, obwohl die
Betroffenen auch Leistungen der Eingliederungshilfe bekommen. Diese pragmatischen
Lösungen bedürfen u.a. der Normenkontrolle, v.a. aber auch der Prüfung inwieweit damit
rechtsstaatliche Lösungen gefunden wurden, die ggf. auch gerichtlich überprüfbar sind. U.E.
kann es auch nicht angehen, dass angesichts der gesetzgeberisch ungeklärten Schnittstelle
einzelne Kostenträger Entlastungen beanspruchen, die eigentlich den Betroffenen
zugutekommen sollten.
Fassen wir die Problemstellung noch einmal zusammen:
Kommunale Kostenträger entlasten sich und ihre Haushalte indem sie Personen, die
innerhalb des SGB XII zu versorgen sind entweder direkt oder über Kostenanteile in die
Pflegeversicherung verschieben. Ältere Menschen mit Mehrfachbehinderungen und
Pflegebedarf sowie Menschen mit erworbenen Mehrfachbehinderungen werden entweder
direkt in Pflegeheime abgeschoben oder unter dem Regime der Pflegeversicherung und/oder
in pflegeheimähnlichen Settings betreut. Die fehlende Schnittstelle erspart der
Pflegeversicherung die Leistungsverpflichtung nicht, verhindert aber eine sozialrechtlich und
rechtsstaatlich einwandfreie, auch fachlich nachvollziehbare Lösung.
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Vor diesem Hintergrund fordern wir Sie nachdrücklich auf, im Rahmen der Gesetzgebung
zum Pflegestärkungsgesetz II wie auch im Kontext der Gesetzgebung zum
Bundesteilhabgesetz die fehlende Schnittstelle dem SGB XI zum SGB XII nachzurüsten und
in diesbezügliche Gespräche mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales
einzutreten. Es ist an der Zeit diese Problematik, die seit 1995 existiert, aus der Welt zu
schaffen. Die Diskussionen um eine Entlastung der kommunalen Haushalte im Rahmen der
Reform der Eingliederungshilfe haben gezeigt, dass der Bund durchaus Spielräume hat, wo
und wie er zur Entlastung beitragen kann. Ein weiterer Beitrag könnte sein, den oben
skizzierten Bedarf der Pflegeversicherung zu übernehmen wie er sich über eine Aufnahme
des Personenkreises aus den stationären Behindertenhilfeeinrichtungen ergeben würde. Das
wären derzeit etwa 1,5 Mrd. Euro.
Der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP) wird das hier
skizzierte Anliegen nachdrücklich vertreten und im öffentlichen Diskurs begleiten. Der CBP
ist ein anerkannter Fachverband im Deutschen Caritasverband. Mehr als 1000
Mitgliedseinrichtungen begleiten mit ca. 41.500 Mitarbeitenden rund 150.000 Menschen mit
Behinderung oder mit psychischer Erkrankung und unterstützen ihre selbstbestimmte
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Kopien des vorliegenden Schreibens erhalten die
Ministerin für Arbeit und Soziales Frau Andrea Nahles und die Beauftragte der
Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung, Frau Verena Bentele.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Kunze
Stellvertretender Vorsitzender
Dr. Thorsten Hinz
Geschäftsführer
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