Erwin Berner Erinnerungen an Schulzenhof BI_978-3-351-03615-7.indd 1 25.01.2016 10:12:09 BI_978-3-351-03615-7.indd 2 25.01.2016 09:46:10 Erwin Berner Erinnerungen an Schulzenhof BI_978-3-351-03615-7.indd 3 25.01.2016 10:12:22 ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 ISBN 978-3-351-03615-7 Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 1. Auflage 2016 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG , Berlin 2016 Einbandgestaltung ZERO Werbeagentur, München Satz Dörlemann Satz GmbH, Lemförde Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany Printed in Germany www.aufbau-verlag.de BI_978-3-351-03615-7.indd 4 25.01.2016 09:46:10 Das ist ebenfalls ein Erbteil aus der Strittmatter-Linie: die Lust, sich das Leben zu nehmen. Onkel Martin und sein Sohn waren nicht die einzigen Strittmatters, die darauf sannen und es vollbrachten. In den letzten DDR -Jahren fuhren Johanna und ich an manchem Wochenende mit ihrem Trabant über Land. Wir kamen auch nach Spremberg, die Stadt, deren Gymnasium Vater besucht hatte. Spremberg wirkte noch trostloser als Neuruppin. Wir fuhren weiter nach Bohsdorf. Ich wollte Großvaters Haus wiederfinden. Bohsdorf hatte sich seit meiner Kindheit verändert. Auch waren, wie ich von Mutter wußte, die Eichen vor Großvaters Haus gefällt worden. Ich fand das Haus dennoch. Und den Bohsdorfer Friedhof fanden wir. Es war Sonntag. Dorffrauen hatten auf dem Friedhof geharkt. Sie standen beisammen und beobachteten, welchem Grab wir uns näherten. Ich verwirrte die Frauen und hielt vor einem mir unbekannten Grab inne. Zu Johanna sagte ich bedauernd: Tja, da liegt er nun! Großvater Heinrichs und Großmutter Lenchens Gräber sah ich im Vorübergehen. Unerkannt von den Dorffrauen, kehrten wir nach Berlin zurück. – Soviel zur väterlichen Verwandtschaft. In den 60er und 70er Jahren reisten die Eltern öfters in die Sowjetunion. Sie besuchten die Krim und auf der Hin- und Rückreise Moskau. Als wir älteren Söhne noch in Neuruppin lebten, bekamen wir Ansichtskarten, die sich in Großmutters düsterer Wohnung fremd ausnahmen. Strand und Palmen, Rosen, Terrassen und Promenaden waren zu sehen. Mutter schickte jedem Sohn seine eigene Ansichtskarte, zumeist aus Jalta oder Sotschi. Mutter schrieb, wie wunderbar es am Schwarzen Meer sei. Und sie schrieb, wir würden eines Tages gemeinsam in die Sowjetunion reisen. Vater ließ grüßen, teilten die Karten am Rande mit. Ich sammelte die blaßbunten Ansichtskarten. Ich sammelte sie auch noch, als 99 BI_978-3-351-03615-7.indd 99 25.01.2016 09:46:12 ich längst nicht mehr hoffte, daß Mutter ihr Versprechen erfüllen würde. Nein, Ilja und ich würden nie mit den Eltern in die Sowjetunion reisen. Großmutter dachte ebenso. Und wir behielten recht. Erst Matthes und Jakob durften mit den Eltern ins Ausland fahren. Wir älteren Söhne erfreuten uns an den Geschenken. Von einer der Rußlandreisen brachte Mutter farbige Schaumstofftiere mit. Die federleichten Tierchen hatten ihre eigene Geschichte, waren sie doch auf dem Flug aus Mutters Reisetasche gesprungen und hatten sich im Flugzeug verteilt. Ich liebte die kunstvoll gefertigten Tierchen, und es dauert mich, daß nicht eines die Jahre überlebt hat. Ein andermal brachte Mutter bemalte Gipsfiguren nach Schulzenhof mit. Bunte Pfauenhühner, Bauern und Damen. Sie stehen zum Teil noch heute auf dem Klavier und in den Bücherregalen im alten Haus. Auch die bunten Gipsfiguren liebte ich. Mutter brachte russisches Konfekt von der Reise mit. Und erstmals sah ich einen Granatapfel in einer Zeit, als kaum ein DDR -Kind Granatäpfel kannte. Neben all den schönen Mitbringseln und all den farbigen Erzählungen über das ferne Rußland gab es Geschenke, die mir wenig behagten, die sogar meinen Widerwillen weckten. Vater und wohl auch Mutter hatten etwas sonderbare Vorstellungen davon, wie sich Kinder kleiden sollten. Die Eltern gerieten damals unter russischen Einfluß. Nein, auch wenn es zeitlich später einzuordnen ist, sage ich zuerst, die Eltern gerieten unter georgischen Einfluß. Uns Söhnen wurden Kachuris, bestickte Trachtenmützen, geschenkt. Jede Mütze war anders gestaltet. Auf dem Gehöft setzte ich die Kachuri auf. Ich trug meine paillettenbestickte weinrote Samtmütze und bildete mir ein, ein fremdländischer Prinz zu sein. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt mich in einem von Großmutter gestrickten hellblauen Pullover, auf den ich eitelstolz war, 100 BI_978-3-351-03615-7.indd 100 25.01.2016 09:46:12 mit der Kachuri auf dem Kopf und in Holzpantinen. In der Hand halte ich einen Kehrbesen. Ich gebärde mich dabei wie ein Tänzer. Sonntag wird es gewesen sein. Obgleich ich feiertäglich gekleidet war, sollte ich den Hof kehren. Vielleicht drohte uns ein wichtiger Besuch. Wie gesagt, die Kachuri mochte ich, zumindest auf dem Gehöft der Eltern, tragen. Niemals aber wollte ich jene Mütze aus Nutriapelz aufsetzen, mit der mich Mutter nach einer Moskaureise überrascht hatte. Damals, als die Eltern unter russischen Einfluß gerieten. Ich verabscheute die Mütze auf den ersten Blick. In der Garnisonsstadt Neuruppin war es für einen Jungen schon waghalsig, wenn er eine gewöhnliche Pelzmütze trug. Auf der Straße wurde ihm »Holzrusse!« nachgerufen. Die dunkelbraune Pelzmütze aber glich einem Topf. Sie besaß weder Ohrenklappen noch einen hochklappbaren Schirm. Ich wußte nicht, wo bei diesem Topf vorn, wo hinten war. Eingehend betrachtet, zeigte eine Futternaht an, wie er zu tragen war. Setzte ich ihn auf, so verschwand mein Kopf zum größten Teil unter dem Pelztopf. Großmutter widerstand der Russenhelm auch. In Neuruppin mußte ich ihn nicht tragen; doch mußte ich ihn tragen, wenn ich am Wochenende nach Schulzenhof fuhr. Am Fahrkartenschalter auf dem Bahnhof Rheinsberger Tor wurde Ilja vom Fahrkartenverkäufer gefragt: Und das Fräulein Schwester ist noch nicht zwölf? Mir brannten die Ohren unter dem Pelztopf. Ich verbarg ihn fortan in meiner Schultasche und setzte ihn erst auf, wenn ich mich dem Schulzenhofer Gehöft näherte. Die russische Pelzmütze verfolgte mich bis in die Rheinsberger Schulzeit. Um ihr zu entgehen, verlor ich sie bei einem Herbstspaziergang. Nach der Schneeschmelze kehrte Vater eines Abends vom Ausritt heim. In der Hand hielt er wie eine Trophäe die Pelzmütze. Der Dalmatinerhund Assan hatte sie im Wald aufgespürt. Wieder mußte ich den 101 BI_978-3-351-03615-7.indd 101 25.01.2016 09:46:12 Pelztopf tragen. Durchs lange Liegen im Schnee hatte seine Form gelitten. Wenn ich ihn nun aufsetzte, sah ich aus, als gehörte ich zur »Roten Reiterarmee«, nachdem die unter feindlichen Beschuß geraten war. Schließlich beerdigte ich den Pelztopf in einer Rheinsberger Mülltonne. Nie wieder habe ich von ihm gehört. Ein ähnlicher Widerwille packte mich, als wir Brüder lederne Kniebundhosen erhielten. Ich wollte kein Alpentoni, ich wollte nicht ländlich-sittlich sein. Ich war Sänger, Schauspieler, Tänzer. Ich lechzte nach Seide. Vater wollte uns auf seinem Anwesen in Holzpantinen sehen. Ich hingegen sah mich in Tanzschuhen. Ich lag auf dem Bett und sah deutlich, wie ich mich drehte, wie ich sprang. Es war ganz einfach, ganz leicht. Irgendwann würde ich Schulzenhof hinter mir lassen, und es würde sich zeigen, daß sich all das, was ich, auf dem Bett liegend, gesehen hatte, ganz mühelos vollbringen ließe. Weil ich mich von der russischen Manier der Eltern abgrenzen wollte, verzichtete ich darauf, sowjetische Belletristik zu lesen. Ich kaufte nur noch Bücher vom HinstorffVerlag. Er veröffentlichte viel skandinavische Literatur. Herzchen, es gibt einen Erzählungsband des norwegischen Dichters Vesaas, der »Das Seltsame« heißt. Eine der Geschichten trägt den Titel »Drei Menschen«. »Drei Menschen« entsprach, ehe Michael mein Freund wurde, meinem Sehnen. Der achtzehnjährige Torvil und seine gleichaltrige Freundin Aud streifen durch den Wald. Unter Reisig verborgen, finden sie einen toten Säugling. Dann begegnen sie Valborg, der Mutter des toten Säuglings, einem achtzehnjährigen Mädchen aus der Stadt. Torvil und Aud verraten sie nicht. Nein, die drei verbindet von nun an ein Geheimnis. Das wollte ich auch: jemandem im Wald begegnen, der mir ein Vertrauter sein, mit dem ich ein Geheimnis teilen würde. Ich lief durch die Wälder, sang, suchte und träumte. 102 BI_978-3-351-03615-7.indd 102 25.01.2016 09:46:12 Im alten Haus saß derweil angemeldeter oder unangemeldeter Besuch. Kam ich aus dem Wald heim und begrüßte im Wohnzimmer die Gäste, so gebärdete ich mich seltsam. Ich wirkte wie abwesend. Dennoch nahm ich Namen wahr, über die gesprochen wurde. Abusch, Bredel, Kurella, Henniger, Plavius: Namen, die mit der DDR -Literatur zu tun hatten und die zum Leben der Eltern gehörten. Außerdem war da noch die Anna. Wie jedermann am Tisch wußte ich, die Schriftstellerin Anna Seghers war gemeint. In solchen Kürzeln wurde geredet, wenn Hermann Kant oder Bruno Apitz, der Autor des Buchenwald-Romans »Nackt unter Wölfen«, und seine junge Frau Kiki im Wohnzimmer saßen. So wurde auch geredet, wenn der Kinderbuchautor Gerhard Holtz-Baumert oder gar Onkel Ljowa im Wohnzimmer saß. Onkel Ljowa war Vaters russischer Übersetzer. Er kam aus Moskau, trug einen hellblauen Anzug und war höflich und freundlich. Jahre später war Onkel Ljowa der berühmte Regimekritiker Lew Kopelew, der in Westdeutschland lebte und sich dort zum russischen Weisen erhöhte. Nach dem Ende der DDR traf ich ihn unerwartet in der Berliner Wohnung der Eltern. Es war eine Begegnung, die mich befremdete. Mir schien, der Weise mit dem kunstvoll gepflegten weißen Bart redete von sich im Plural der Erhabenheit. Nun beherrschte Vaters ehemaliger Übersetzer das Gespräch. Es war mir unerträglich, und ich verließ die Wohnung der Eltern vorzeitig. Damals aber saß ich seltsam am Schulzenhofer Wohnzimmertisch. Ich schnappte Namen aus der Literaturszene und den Inhalt von Büchern auf – Mutter kritisierte meisterhaft neuerschienene Bücher. Ich benutzte ihr Wissen. Ein Strittmatter-Sohn mußte sich in Literatur auskennen. Das doch wohl! Meine Lehrer und die Rheinsberger Buchhändlerinnen verwickelten mich in literarische Gespräche. Weniger aus Eitelkeit als aus Scheu gestand ich ihnen nicht, daß mir 103 BI_978-3-351-03615-7.indd 103 25.01.2016 09:46:12 der Inhalt der von ihnen zitierten Bücher unbekannt sei. Ich griff aufs angehörte Wissen zurück und tat, als hätte ich es lesend erworben. Soweit ich mich erinnere, blieb meine Scharlatanerie unentdeckt. Unabhängig von solchen Scharlatanerien las ich in jenen Jahren viel. Nur las ich nicht die Bücher, von denen man annehmen durfte, daß ein Strittmatter-Sohn sie lesen würde. Ich las auch kaum Strittmatter. Ich vermochte es nicht. Hinter dem Geschriebenen sah ich Vater. Meine Gedanken entfernten sich beim Lesen von der Handlung. Da hat er das geschrieben, dachte ich, und verhält sich so. Oder: Das glaube ich ihm nie und nimmer! Kurz, ich befand mich auch zu Vaters Büchern in innerer Abwehr. Dennoch waren mir die Bücher lieber als der Leibhaftige selbst. Solcher Haltung entsprang der Satz, den ich zu Mutter sagte: Als Schriftsteller, ja – als Mensch, nein! Frage mich nicht, warum, aber Mutter hinterbrachte Vater meine Worte. Ich sehe die Familie auf dem verwaisten Grünhofer Gehöft. Die Bauern der Umgebung haben fortgetragen, was sie brauchen konnten. Im Stall entdecken wir ein totes Kalb … Es ist Abend. Fünfzig Schritte vom Haus entfernt liegt der von Birken umstandene verwilderte Teich. Frösche quaken. Ich laufe umher und halte mich von Vater fern; er hat das verlassene Gehöft bei einem Ausritt entdeckt. Ich halte mich abseits, denn ich weiß nun, Vater kennt meinen Satz. Soeben habe ich es von Mutter erfahren. Da ich wenig Einblick in andere Künstlerhaushalte hatte, kann ich nicht sagen, ob das Folgende für Künstlerfamilien üblich oder unüblich ist. Nie gab es Aussprachen, an denen sich die gesamte Familie beteiligte. Alle Probleme wurden zu zweit geklärt. Wenn mehrere Familienangehörige beisammensaßen, wurde nur über die Probleme von abwesenden Familienmitgliedern gesprochen. Mein ehemaliger Freund Markus Ries hat es benannt. Nachdem Markus, ein 104 BI_978-3-351-03615-7.indd 104 25.01.2016 09:46:12 nüchterner Beobachter, mehrere Gespräche am Schulzenhofer Küchentisch miterlebt hatte, sagte er zu mir: Ihr redet nicht miteinander, ihr redet übereinander. Ein hartes Urteil, das ich teile. In meiner Jugend hätte es aber keiner von uns Brüdern gewagt, bei Tisch ein Problem vorzutragen, das zuvor nicht mit Mutter besprochen worden wäre. Mutter war die Vermittlerin. Oder sie bestimmte den Zeitpunkt, wann wir Vater mit einem Problem behelligen durften. Ich gewöhnte mich daran. Und irgendwann trug ich Konflikte zwischen Vater und mir nur noch mit Mutters Hilfe aus. Es sei denn, es kam zum Krach. Doch dazu später. Wenn ich es recht bedenke, so vermittelte Mutter auch zwischen uns Brüdern. Sie war die Zentrale, und fast nie schien sie dieser Rolle überdrüssig gewesen zu sein. Zurück zum Reisen. Ein einziges Mal durften Ilja und ich die Eltern auf einer längeren Fahrt begleiten. Sie galt als Iljas Jugendweihegeschenk. Wie fast jedes Jahr im August sollte Vater in Weimar und in Leipzig vor ausländischen Germanistikstudenten lesen. In Weimar logierten wir im berühmten Hotel »Elephant«. Ich war überwältigt: Ich besaß ein eigenes abschließbares Zimmer. Ich nutzte meine Unabhängigkeit und schlief auf dem Bett, hinter der verschlossenen Tür, ein. Weder das Klopfen gegen die Zimmertür noch das Telefonläuten vermochten mich zu wecken. Trotzdem erinnere ich mich, daß ich Goethes Gartenhaus gesehen habe. Auch Naumburg und den Naumburger Dom sah ich auf dieser Reise und ein wenig von Leipzig. In Leipzig besuchten wir die Professorenfamilie Taube. In ihrem Haus lebte der mongolische Germanistikstudent Galsan Tschinag. Er hatte Vater eine Erzählung geschickt. Galsan schrieb so fehlerfrei deutsch, daß Vater seine mongolische Herkunft angezweifelt hatte. Nun saß er dem Tuwiner Galsan gegenüber und bestaunte den Wunder105 BI_978-3-351-03615-7.indd 105 25.01.2016 09:46:12
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