Tennis-Wunderkind wird erwachsen

sueddeutsche.de vom 19.04.2016
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Tennis
Tennis-Wunderkind wird erwachsen
Laura Siegemund galt als die neue Steffi Graf - doch mit dem Druck kam sie lange nicht
zurecht. Plötzlich spielt sie ganz unverkrampft aufregendes Tennis.
Von Matthias Schmid
Es sind die kleinen Dinge, an denen zu
erkennen ist, dass sich Laura Siegemund erst noch an die Choreografie des
großen Sports gewöhnen muss. Als sich
die 28-Jährige nach ihrem Sieg im Qualifikationsfinale beim Stuttgarter Tennisturnier am Montag in einen der
bequemen Sessel fallen ließ, plapperte
sie mit erfrischend floskelfreien Sätzen
gleich los. "Mit dem Mikrofon bitte",
soufflierte ihr die Dame von der Seite.
Es war die Pressesprecherin der Spielerinnenorganisation WTA. Sie begleitet
die Hauptdarstellerinnen bei den großen
Turnieren zu den Interview- und Sponsorenterminen.
Für Siegemund ist in diesen Wochen
alles neu und aufregend. Doch es
scheint nicht so zu sein, als ob sie das
sonderlich beeindrucken würde, im
Gegenteil. "Ich genieße das Hier und
Jetzt", sagt sie unaufgeregt. Sie kann das
gerade entstehende Interesse an ihrer
Person ganz gut einordnen, seit sie bei
den Australian Open zu Beginn des Jahres auf wundersame Weise zum ersten
Mal die dritte Runde eines Grand-SlamTurniers erreicht hat. Siegemund musste schon in jungen Jahren erfahren, wie
es ist, mit völlig überzogenen Erwartungen konfrontiert zu werden. Viel früher
als es einer Hochbegabten gutgetan
hätte.
Doch als sie im Jahre 2000 mit zwölf
Jahren das wichtigste Jugendturnier des
Planeten in Florida gewann, war die
Sehnsucht in Deutschland nach einer
neuen Heldin groß. Steffi Graf hatte im
Jahr davor ihre famose Karriere gerade
beendet. Laura Siegemund war eine der
ersten deutschen Spielerinnen, die Vergleiche mit Graf aushalten musste.
"Lauras Geschichte ist tatsächlich ein
bisschen die eines Wunderkindes, das
am Druck und den Erwartungen scheiWörter:
Urheberinformation:
terte", erzählt Wilfried Lenz.
Lenz ist Siegemunds Physiotherapeut
und Freund. Er hat eine eigene Praxis im
Stuttgarter Osten, nur wenige Kilometer
von der Arena entfernt, wo seine Freundin an diesem Dienstag in der ersten
Runde auf die Russin Anastasia Pawlyuschenkowa trifft. Auch Siegemund lebt
mittlerweile in Stuttgart. Während der
Turnierwoche hat sie sich allerdings ins
Spielerhotel einquartiert, "um besser im
Turniermodus zu sein", wie sie sagt.
Siegemund probiert gerne Dinge aus,
seit sie sich wieder entschieden hat, es
als professionelle Tennisspielerin zu
versuchen. "Ich bin eine Tüftlerin, die
jeden Tag probiert, ihr Potenzial auszureizen", sagt sie selbst. Im Moment läuft
es richtig gut.
Siegemunds Stil ist im Frauentennis
eine Rarität
Sie spielt aufregendes Tennis , anders
als viele ihre Kolleginnen, die nur an der
Grundlinie kleben und monoton auf die
Bälle einschlagen, tritt sie mutig auf,
variabel. Sie hat den Rückhandslice
ebenso im Repertoire wie den Flugball.
Fast bei jeder Gelegenheit stürmt sie ans
Netz vor, um die Ballwechsel abzukürzen. Das ist im Frauentennis eine Rarität. Ihr verwegener Stil hat sie in der
Weltrangliste schon auf Position 71
geführt - Tendenz weiter steigend. Wo
das enden wird? Auf diese Frage will sie
keine Antwort geben, sie mag sich nicht
auf Zahlen reduzieren lassen. "Ich will
einfach nur mein Spiel verbessern und
eine konstantere und komplettere Spielerin werden", sagt Siegemund.
Früher hat sie auch schon so furchtlos
gespielt. "Aber ich wollte die Siege zu
arg. Das hat mich blockiert." Sie wollte
deshalb etwas ändern im Leben, sie war
unglücklich, die ständigen Niederlagen
stressten sie ebenso wie die vielen Reisen. Aber ganz aufhören mit dem Ten-
nis wollte sie auch nicht. "Dazu liebe ich
den Sport zu sehr", findet sie selbst.
Also beschloss sie im Dezember 2011,
nach vielen aufwühlenden inneren
Debatten, ihr Leben neu zu ordnen. Sie
holte all die Dinge nach, die sie wegen
der ständigen Hast um den Globus nicht
tun konnte: Studieren zum Beispiel. Sie
schrieb sich an der Fernuniversität
Hagen in Psychologie ein und meldete
sich für den A-Trainer-Lehrgang an.
"Selber Tennis spielen rutschte immer
tiefer auf meiner Prioritätenliste ab",
erzählt Siegemund.
Das Geld für das Studium verdiente sie
als Klubtrainerin auf der Schwäbischen
Alb. Nebenbei spielte sie noch für TC
Rüppurr Karlsruhe in der Bundesliga. Je
mehr sie sich vom Profitennis entfernte,
desto besser spielte sie. Lockerer, unverkrampfter als zuvor. Aus Spaß nahm sie
im Sommer 2012 bei einem 25 000 Dollar dotierten Weltranglistenturnier in
Darmstadt teil - und gewann.
Obwohl sie weniger spielte, kletterte sie
im Ranking kontinuierlich. Aber zurück
auf die Tour drängte es sie nicht. Sie
begann zwar wieder intensiver zu trainieren, doch sie wollte in jedem Fall ihr
Studium mit dem Bachelor beenden. Im
Dezember des vergangenen Jahres war
es dann so weit: Thema der Abschlussarbeit: "Versagen unter Druck". Inwieweit sie autobiografische Erkenntnisse
hat einfließen lassen, will sie nicht verraten. Vielmehr genießt sie ihr neues
Leben auf der Tour. "Ich weiß jetzt, dass
ich hier her gehöre", sagt Laura Siegemund in Stuttgart. Es war eine lange
Reise zu sich selbst. "Ich bin mit mir im
Reinen und als Mensch gereift", fügt sie
hinzu. Der Druck von früher ist völlig
verschwunden.
SZ.de
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