Schwach im Rechnen - Pädagogische Hochschule Zürich

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Januar, Nr. 1/2015
www.4bis8.ch
FA C H Z E I T S C H R I F T F Ü R K I N D E R G A RT E N U N D U N T E R S T U F E
Schwach
im Rechnen
Wenn Zahlen plagen
Lehrmittel
Wir gehen auf Reisen
Chancen, Risiken und
Nebenwirkungen
Alle Jahre wieder
«Zählen, vergleichen, wiederholen» gehören zu den
mathematischen Tätigkeiten im Vorschulalter.
Dyskalkulie – früh erkennen
statt (zu) spät therapieren
Rechenschwache Schülerinnen und Schüler weisen gegenüber Gleichaltrigen oft
trotz hoher kognitiver Fähigkeiten einen Leistungsrückstand von mehreren Jahren auf.
Sind Anzeichen eines Entwicklungsrückstandes schon bei Schuleintritt erkennbar?
Text: Dorothea Mayer und Margret Schmassmann, Foto: Dorothea Mayer
Fast jedes vier- bis fünfjährige Kind streckt auf
Definition Dyskalkulie
minderung, einen Mangel an Lerngelegenhei-
die Frage «Wie alt bist du?» vier oder fünf
Setzt man sich mit der Thematik auseinander,
ten oder eine Hirnschädigung erklärbar ist. Die
Finger auf oder sagt das entsprechende Zahl-
stellt sich zunächst die Frage, was Dyskalkulie
Begriffsbestimmung erhält damit den Charak-
wort. Der sechsjährige Mauro hingegen kann
überhaupt ist. Die aktuelle Forschungsliteratur
ter einer sogenannten Diskrepanzdefinition
sein Alter nicht korrekt angeben – weder mit
verweist fast ausschliesslich auf die Definition
(Moser Opitz, 2013): Die Rechenleistung muss
den Fingern noch mit dem Zahlwort «sechs».
aus dem Diagnostischen Manual der Weltge-
in Diskrepanz zur Intelligenz stehen. Inhaltlich
Er streckt einfach ein paar Finger auf und ant-
sundheitsorganisation ICD-10 (Dilling et al.,
geht es dabei um die unzureichende Beherr-
wortet mal mit «drei», «vier» oder «sechs» –
2011), welche die Rechenstörung zu den Ent-
schung der Grundrechenarten Addition, Sub-
obwohl er bis 30 zählen kann.
wicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
traktion, Multiplikation und Division. Damit
Ist dies bei einem Sechsjährigen bereits Anlass
zählt. Sie wird dort als eine unterdurchschnitt-
trifft die Definition kaum auf Personen zu,
zur Sorge? Kann bereits von einer Dyskalkulie
liche Mathematikleistung beschrieben, welche
welche Schwierigkeiten im Fach Mathematik
gesprochen werden?
nicht allein durch eine allgemeine Intelligenz-
erst in höheren Klassenstufen entwickeln.
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aus: «4 bis 8», Januar, Nr. 1/2015
4 bis 8 | Schwerpunkt | Schwach im Rechnen
In der mathematikdidaktischen und (sonder-)
einen guten Mathematikunterricht entgegen-
Diagnoseinstrumente
pädagogischen Fachdiskussion wird die Defi­
gewirkt werden kann (Moser Opitz, 2013). Da
Der erste Schritt zum Erkennen von Rechen-
nition – insbesondere das Diskrepanzmodell –
Lehrpersonen in erster Linie bei diesem Risiko-
schwäche ist in jeder Schulstufe die gezielte
als Diagnoseinstrument vielfach kritisiert (Free-
faktor ansetzen können, werden wir ihn im
Beobachtung im Unterricht. Dies kann aber nur
semann, 2014). Damit eine Rechenstörung
weiteren Verlauf dieses Artikels fokussieren.
in einem Mathematikunterricht geschehen, der
nach ICD-10 diagnostiziert werden kann, muss
Auch wenn der Mathematikunterricht nicht als
eigene Lernwege fördert und in dem das Den-
ein im unteren Normbereich angesiedelter IQ
einziger Risiko­faktor im Zusammenhang mit
ken und Handeln der Kinder durch Nachfragen
mit einer sehr niedrigen Mathematikleistung
Dyskalkulie angesehen werden kann, steckt
und Austauschen differenziert offengelegt
einhergehen. Dies birgt die Gefahr, dass Kinder
darin ein ausschlaggebendes Potenzial für
wird. Zusätzlich zu den Beobachtungen können
mit niedrigeren kognitiven Leistungen seltener,
einen erfolg­reichen Aufbau mathematischer
bei Bedarf Testverfahren, wie zum Beispiel die
Kinder mit hohen kognitiven Leistungen jedoch
Grundlagen, die frühzeitige Erkennung von
Lernstandserfassungen aus dem Heilpädago­
häufiger als rechenschwach diagnostiziert und
Schwierigkeiten und eine entsprechende Förde-
gischen Kommentar (HPK) zum Schweizer
folglich vermehrt speziell gefördert werden
rung durch die Lehrperson.
Zahlenbuch eingesetzt werden. Diese bieten
(Francis et al., 2005). Ein weiterer Kritikpunkt
eine fachdidaktisch begründete Themenaus-
ist die defizitorientierte Sichtweise auf das Indi-
Förderorientierte Diagnose
wahl, klare Beobachtungskriterien sowie För-
viduum (Werner, 1999), welche sich durch eine
Grundsätzlich ist eine Diagnose nur sinnvoll,
derhinweise an. Bei Kindern wie Mauro, die vor
Zuschreibung statischer Eigenschaften kenn-
wenn sie zur Optimierung pädagogischer
dem Übertritt in die erste Klasse stehen, eignet
zeichnet und somit Entwicklung sowie Ver­
Angebote und nicht als Mittel zur Auslese
sich der Test aus dem HPK 1 (Schmassmann/
änderung ausklammert. Moser Opitz (2013)
verwendet wird (Moser Opitz, 2009). Im schu-
Moser Opitz, 2007), bei welchem die pränume-
plädiert zu Recht dafür, dass eine Definition
lischen Alltag ist es wichtig, dass die Lehrper-
rischen und numerischen Fähigkeiten entlang
unabdingbar Förderhinweise und Entwicklungs­
son feststellen kann, was das Kind bereits
des «Goldstückspiels» erfasst werden.
orientierung enthalten muss, damit sie im päda­
beherrscht und wo es noch Schwierigkeiten
gogischen Alltag brauchbar ist.
hat. Nur so ist es für sie möglich – allenfalls mit
Kompetent vorbeugen
Unterstützung durch Lehrpersonen der Schu-
Damit Lehrpersonen eine sich abzeichnende
Risikofaktoren
lischen Heilpädagogik (SHP) – das Kind korrekt
oder schon manifeste Rechenschwäche erken-
Da bisher keine eindeutig kausalen Ursachen
zu fördern.
nen können, benötigen sie genaue Kenntnisse
für Rechenstörungen belegt sind, spricht
Heute kann wissenschaftlich belegt werden,
über die Entwicklung mathematischer Fähigkei-
Schipper (2002) von Risikofaktoren. Gemäss
dass die Entwicklung des Zählens im Alter von
ten und das Wissen, wann ein Kind was kön-
Autor liegen diese nicht nur im Individuum
zwei bis etwa sechs Jahren für das spätere
nen sollte. Um Schülerinnen und Schüler im
selbst, sondern sind auch im familiären und
mathematische Verständnis zentral ist. Gemäss
Mathematikunterricht sinnvoll fördern zu kön-
sozialen Umfeld sowie in der Schule zu suchen.
dem Entwicklungsmodell «Zahl-Grössen-Ver-
nen, sind zudem fachliche und fachdidaktische
Im Bereich des Individuums werden meist gene-
knüpfung» (ZGV) von Krajewski und Ennen­
Kompetenzen unerlässlich. Nur so kann ein
tische Komponenten in Erwägung ge­zogen.
moser (2013) verläuft diese Entwicklung vom
Kind wie Mauro frühzeitig unterstützt werden
Ein weiterer individuumszentrierter Erklärungs-
Aufsagen der Zahlwortreihe ohne Grössen­
und läuft nicht Gefahr, eine Dyskalkulie zu ent-
ansatz kommt aus der Neurobiologie, wo man
bezug sowie unpräziser Mengen- und Grössen-
wickeln.
versucht, Ursachenfaktoren wie die Beeinträch-
unterscheidung (Ebene 1) über die Verknüp-
tigung des kognitiven Systems – insbesondere
fung von Zahlen mit Mengen und Grössen
des Arbeitsgedächtnisses – im Gehirn zu loka-
(Ebene 2) bis zur Verknüpfung von Zahlwörtern
lisieren (Moser Opitz, 2013). Beide Ansätze
und Ziffern mit Mengen- und Grössenrelatio-
erfordern weitere Forschungs­ar­beiten, welche
nen (Ebene 3). Mauro hat diese Kompetenzen
ihren Blick vor allem über die Ergebnisse hin-
mit sechs Jahren nicht vollständig erreicht – ins-
Dorothea Mayer
aus auf die Förderung lenken (Freesemann,
besondere nicht auf den Ebenen 2 und 3. Den-
ist Kindergärtnerin und studiert Psychologie sowie
2014).
noch kann im Kindergartenalter noch nicht von
Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Sie
Unter den schulischen Risikofaktoren ist in
Dyskalkulie, sondern nur von ersten Hinweisen
unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule
den letzten Jahren das Entstehen von mathe­
auf eine mögliche spätere Entstehung gespro-
Zürich im Fachbereich Mathematik.
ma­tischen Lernschwierigkeiten als Folge des
chen werden. Um einer späteren Dyskal­kulie
Mathematikunterrichts ins Zentrum gerückt
vorzubeugen, gehört es zur Auf­gabe der Lehr-
Margret Schmassmann
(Ginsburg, 1997). Dabei spielen unter anderem
person, die Entwicklungslücken wahrzuneh-
ist Mathematikerin (dipl. math. ETH). Sie fördert
das einseitige Auswendiglernen statt Fakten-
men, diese zusammen mit der SHP genauer zu
Kinder und Jugendliche in ihrer Praxis «Mathema-
wissen verstehen, kleinschrittiges Vorgehen
definieren und Mauro – unter Einbezug der
tiklabor Zürich», wo sie auch Lehrpersonen und
oder die mangelhafte Berücksichtigung der
Eltern – entsprechend zu fördern. Werden die
Eltern berät. Sie unterrichtet an der Pädagogischen
informellen Vorkenntnisse der Kinder eine Rolle
Lücken nicht aufgearbeitet, könnten mangeln-
Hochschule Zürich im Fachbereich Mathematik.
(Ginsburg, 1997). In diesem Zusammenhang
des Verständnis des Dezimal­systems und der
wird nicht mehr von einer Lern-, sondern von
Grundopera­tionen sowie zählendes Rechnen
>>> Das Literaturverzeichnis finden Sie unter
einer Lehrstörung gesprochen, welcher durch
die Folge sein.
www.4bis8.ch/downloads <<<
aus: «4 bis 8», Januar, Nr. 1/2015
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