Leidenschaftliche Spiritualität: Geistliche Impulse von den

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Leidenschaftliche Spiritualität
Geistliche Impulse von den humming birds (Kolibris)
Während meiner Sabbatzeit hatte ich das Vorrecht, ein paar Tage allein in einem Ferienhaus auf einer Insel an der Wesküste Kanadas zu verbringen. In der heilsamen und wohltuenden Stille abseits vom Lärm der Zivilisation begegnete Gott mir auf verschiedene
Weise, unter anderem durch die farbenprächtigen kleinen Kolibris. Täglich boten sie mir
ein grandioses Schauspiel mit ihrer enormen Trinkfreudigkeit, ihrem leidenschaftlichen
Summen aber auch mit ihrer grossen Verletzlichkeit. Hier ein paar Aspekte von dem, was
die lebenslustigen Vögel in mir angestossen haben.
Leidenschaftlich trinken – von Gott
Ich komme nicht aus dem Staunen heraus:
Was diese kleinen Biester an einem einzigen Tag zusammen trinken, ist unglaublich. Ich frage mich: Kenne ich einen ähnlichen Durst nach Gott? Wie der Hirsch
lechzt nach frischem Wasser, wie der
Kolibri lechzt nach nährendem Fruchtnektar, so lechzt meine Seele, Gott nach dir
(Psalm 42,2). Ich habe Zeit zum Reflektieren. Ich spüre: Meine Sehnsucht nach
Gott hält sich in Schranken. Ich beginne zu
Gott zu schreien: «Wecke du selber in
mir ein brennendes Verlangen nach dir.
Herr, zieh mich hin zu dir, unwiderstehlich.
Verstärke deine Anziehungskraft».
Der unglaubliche Durst der Vögel bereitet
mir Arbeit. Täglich ein bis zwei Mal fülle
ich mehr als einen Liter Zuckerwasserlösung
in die aufgehängte Flasche. Ich stelle mir
vor, wie Gott sich freut, wenn wir ihm mit
unserem geistlichen Verlangen «Arbeit»
machen. Er ist so gern unser Versorger.
Die Vöglein sind schlau: Sie vermeiden
Pflanzennektar oder eine künstliche
Lösung mit weniger als 10 % Zuckergehalt.
Bin ich geistlich auch so schlau? Merke
ich, was mich im geistlichen Leben wirklich
stillt, sättigt, lebendig macht? Das Zitat
von Martin Luther zur Tageslosung fügt sich
nahtlos an: «Zum Wachen gehört, dass
man Gottes Wort immerdar und allenthalben treibe, mit Ernst und gierig danach
schnappe, gerne höre, singe, sage und lese
gegen den schändlichen Überdruss der
Trägheit».
Jemand erzählt mir: Wenn die humming
birds Junge haben, trinken sie noch
mehr als sonst. Jetzt ist gerade die Zeit für
Brut und Aufzucht. Darum herrscht also
dieser rege Flugbetrieb um die aufgehängte Zuckerwasserflasche. Wenn sie Junge
kriegen und aufziehen. Bei diesem Gedanken bleibe ich hängen. Wenn
ich fruchtbar sein will in meinem
geistlichen Leben, wenn ich
Menschen in eine tiefere Gottesbeziehung begleiten will, dann
ist es am besten, wenn ich selber
viel bei Jesus trinke. Johannes
7,37f. steht mir vor Augen, wo
Jesus sagt: «Wer Durst hat,
komme zu mir, und es trinke, wer
an mich glaubt. Wie die Schrift
sagt: Aus seinem Innern werden
Ströme von lebendigem Wasser
fliessen».
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Zwischen dem
staunenden Betrachten der Kolibris lese ich ein Buch
von Eugene Peterson (Working the
angles), das bei
meinen Freunden
auf dem Tisch
liegt. Es geht um
geistliches Leben
mit Integrität.
Gebet, Gottes
Wort und geistliche Begleitung
sind laut Peterson
die zentralen Eckpfeiler, die ein gesundes geistliches
Dreieck bilden. Nichts Neues. Oder vielleicht doch? Muss das Alte wieder neu gehört werden?
Dem Autor geht es, mit Blick auf die nordamerikanische Christenheit darum, den
Blick fürs Wesentliche zu schärfen. Er stellt
eine verhängnisvolle Tendenz fest, dass
viele führende Christen mehr zu Managern,
Strategen und Verkäufern ausgebildet
werden, aber mit ihrem geistlichen Leben
irgendwo auf der Strecke bleiben, zum
Schaden für sie selber und ihre Mitchristen.
Leidenschaftlich trinken – von Gott, im
Gebet, im «Essen» von Gottes Wort, in der
Erfahrung von geistlicher Begleitung.
Wie sieht mein geistliches Dreieck aus?
sprächs mit Gott. Klagen ist die Sprache
der Erde und Loben die Sprache des Himmels. Weil wir als Christen in beiden Welten zugleich leben, bedürfen wir beider
Sprachen».
Leidenschaftlich summen – für Gott
Ich besuche Jim und Rita Houston, meinen
ehemaligen Professor am Regent College
und seine Frau. Rita leidet seit einiger Zeit
an zunehmender Demenz. Sie strahlt eine
herzliche Gastfreundschaft aus, die tief berührend ist. Jim erzählt mir, wie viele
Menschen, die bei ihnen ein- und ausgehen, reich gesegnet werden durch
seine kranke Frau. Voller Leben – mitten in
aller Zerbrechlichkeit und Schwachheit.
Und was mir besonders nahe geht: Der über
90jährige Jim lebt, was er uns Studenten
vor Jahren verkündet hat in seinen Vorlesungen über Spiritualität. Er sorgt sich in eindrucksvoller Weise ganz praktisch um seine
Frau. Lebendiger, geerdeter Glaube.
Leidenschaftliche Spiritualität. So möchte
ich alt werden. Voller Leben sein – von
Gott und für Gott. Wie die humming birds.
Der Name humming bird kommt vom summenden (Engl. to hum = summen, brummen)
Geräusch, das durch die 12 – 80 Flügelschläge pro Sekunde entsteht, ähnlich wie bei
einem Insekt, nur lauter. Lebenslustiges
Summen oder griesgrämiges Brummen für
Gott? Was für eine Melodie gibt in meinem
Leben den Ton an? Was summe ich regelmässig vor mich hin? Ein Bruchstück eines
Liedes kommt mir in den Sinn: «Lass mich
Herr, ein Wohlklang sein vor dir». Ja, Herr,
genau das möchte ich.
Für Gott summen heisst nicht einfach immer
fröhlich zu zwitschern. Gerade in den
Psalmen lernen wir einen grossen Reichtum
von authentischen und leidenschaftlichen
Gebetsformen kennen. Beat Weber formuliert es in einer Betrachtung zu Psalm 13
eindrücklich: «Klagen in Moll und Loben in
Dur sind die beiden Melodien des Ge-
Humming birds – die summenden Vögel.
To hum kann auch bedeuten, voller Leben
sein. Das Summen der Flügel ist ja Ausdruck von Vitalität und Lebensfreude. Voller Leben sein – von Gott und für Gott.
Die quirligen Kolibris erinnern mich an meine grossartige Berufung von Gott, die ich
ab und zu im Alltagstrott oder beschwerten
Zeiten aus den Augen verliere. Voller Leben sein meint in letzter Konsequenz voll
von Jesus und seinem Auferstehungsleben
sein, unabhängig von den inneren und äusseren Umständen. Kurz nach meinen
«stillen Tagen» wurde mir diese Wahrheit
durch zwei eindrückliche Begegnungen
nochmals anschaulich vor Augen geführt.
Ich komme in Kontakt mit einer jüngeren
krebskranken Frau, die inmitten ihrer
unsicheren Zukunft sich lebendiger denn je
erlebt, wie sie sagt. Ihre aufgeweckten
Augen und ihre ausdrucksstarke Stimme
bezeugen eine von Christus geschenkte
Lebendigkeit im Angesicht des Todes.
Ihr früheres Leben in Isolation und Einsamkeit sei schwerer zu ertragen gewesen als
die Diagnose und auch die durch den Krebs
verursachten Schmerzen. Ich bin bewegt:
Diese kranke Frau verbreitet mehr Leben
als ich, der Gesunde.
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Wer leidenschaftlich fliegt,
kann sich auch verfliegen
Leidenschaftliches Geflatter
und eine delikate Rettungsaktion
In meinem Eifer, möglichst geniale Aufnahmen von den Kolibris zu machen, habe
ich wohl die Fenster und Türen etwas zu weit
aufgesperrt. Jedenfalls ist plötzlich ein
Vogel im Haus drinnen und sucht verzweifelt nach einem Ausgang. Unglücklicherweise findet er nicht durch die offenen
Löcher zurück, sondern sucht am Giebel
oben am höchsten Punkt die Lücke. Dort
aber ist nur hartes Holz. Da hilft auch alles
leidenschaftliche Flattern nichts. Mir aber
wird angst und bange. Wie bringe ich das
aufgeregte Vöglein wieder ins Freie?
Zugleich erkenne ich mich im verzweifelten
Kolibri: Ich habe in verfahrenen Situationen manchmal auch die Tendenz, mit dem
Kopf durch die Wand zu wollen, anstatt
mich einmal zu beruhigen und vor Gott
durchzuatmen.
Ich merke bald: Mir bleibt nichts anderes
übrig als zu warten, bis der bedauernswerte
Vogel erschöpft ist und sich auf einem
Balken niederlässt. Vorher habe ich keine
Chance ihm zu helfen. Ob es Gott mit
mir manchmal ähnlich geht? Wenn ich um
jeden Preis noch meinen eigenen Ausweg
finden will und jede Annäherung Gottes
als Bedrohung empfinde? Schliesslich lässt
mich der Vogel in seine Nähe kommen.
Ich halte ihm einen langen hölzernen Stab
hin, den er prompt ergreift. So kann ich
ihn durch die offene Balkontüre ins Freie
tragen. Ich bin ziemlich erledigt von
dieser Rettungsaktion und zugleich sehr
erleichtert. Nochmals kommt mir die Frage,
wie es wohl Gott mit mir geht. Er trägt
mich nicht auf einem Holzstiel in die Freiheit, sondern gewissermassen auf seinen
Schultern. Allerdings war auch Holz im Spiel:
Jesus hat an seinem eigenen Leib meine
Schuld, meine Irrflüge ans Kreuz getragen,
damit ich wieder befreit leben kann.
erschrocken, berührt. Da sitzt dieses
prächtige zarte Vöglein auf mir. Überwältigt staune ich einen Moment lang.
Dann kann ich es nicht lassen. Ich rufe meiner Gastgeberin im Haus zu: Komm,
schau her, ein Kolibri . . . Ja, Sie haben es erraten, jetzt ist der Vogel weg. Meine
laute Stimme war zuviel für ihn. Ich hätte
mich ohrfeigen können.
Gott schickt mir gelegentlich zarte
Berührungen, wie durch dieses Vögelchen.
Er rührt etwas Kostbares an in mir durch
sein Wort, er bewegt mein Innerstes durch
ein Lied oder ein Bild. Vorschnell meine
ich manchmal, die persönliche Erfahrung
sei sofort zum Weitergeben, für andere.
Dabei hat Gott vielleicht gerade erst begonnen, mich zu beschenken und an mir zu
wirken. In meiner überhasteten Mitteilungsfreudigkeit kann ich Gottes Handeln an
mir einschränken. So ermutigt uns Gerhard
Tersteegen: «Wird dir nun irgendwo ein
Sprüchlein aufgeschlossen und aufs Herz
gedrückt, so darfst du es eben nicht
stracks anderen vorschwätzen, dich damit
sehen zu lassen . . . Lass den Samen des
Wortes tiefer hinunterfallen, wohlgemerkt:
in dein Herz . . .».
Etwas wehmütig verlasse ich nach diesen
stillen Tagen diese faszinierenden Vögel.
Ihr leidenschaftliches Trinken und Summen
hat aber in mir ein lebendiges Bild hinterlassen und eine neue Sehnsucht geweckt,
von Herzen von und für Gott zu leben.
Text und Fotos von Christoph Ehrat
Die zarte Berührung eines humming birds
Ich sitze auf der einladenden Veranda,
geniesse die für einmal wärmende Sonne.
Plötzlich, völlig unerwartet, landet ein
humming bird auf meinem roten T-Shirt.
Der kleine Kerl muss mich wohl für eine
wunderschöne Blume gehalten haben
(welch ein Kompliment). Ich bin überrascht,
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