Kritik als Gegenwert – Unterbrechungen in den Kontinuitäten hegemonialer Bildung Astrid Messerschmidt, SIIVE Jahrestagung, Münster, 26. März 2015 Das Ausloten von Normativität, Positionierung und Reflexivität wird in der Themenstellung der Sektionstagung Interkulturelle und international Vergleichende Erziehungswissenschaft auf (selbst-)kritische Perspektiven hin ausgerichtet. Der Eröffnungsvortrag versucht, dieser Spur zu folgen und diskutiert Kritik in und an der Bildung im gegenwärtigen migrationsgesellschaftlichen Kontext. Verwaltungsmacht und die bedingte Universität In dem Text „Kultur und Verwaltung“ von 1960 spricht Adorno von der „Verselbständigung von Organisationen“ und von einer „radikal vergesellschaftete[n] Gesellschaft“ (Adorno 1997, S. 124). Die Verwaltung repräsentiert „notwendig, ohne subjektive Schuld und ohne individuellen Willen, das Allgemeine gegen jenes Besondere“(ebd., S. 128). Bei Adorno wird das keineswegs anklagend formuliert, sondern nüchtern festgestellt. Es ist daraus keine Sicherheit zu gewinnen für eine umfassende Kritik an der Verwaltung. Die Gegenpositionen, die beanspruchen, „autonom, kritisch, antithetisch“ (ebd., S. 133) aufzutreten, sind abhängig von dem, wogegen sie rebellieren. Es ergeben sich zwei Möglichkeiten, auf diese Situation zu reagieren: Resignation oder die klassische Ideologiekritik, die das falsche Allgemeine entlarvt und den Ort, von dem aus sie das tut, nicht angeben kann. Das lässt Kritik in einem negativen Sinn utopisch werden – der NichtOrt der Kritik hat aus meiner Sicht weniger damit zu tun, dass es einen solchen Ort nicht gibt, sondern vielmehr damit, dass er nicht angegeben wird. Die in den letzten zwanzig Jahren in den Sozialwissenschaften formulierten Einsprüche gegen eine ortlose Kritik betrachte ich als Versuche, den Ort anzugeben, von dem aus gesprochen/kritisiert/analysiert wird – den Ort bspw. eines vergeschlechtlichten Subjekts, den Ort eines kolonialisierten und kolonialisierenden Subjekts, den Ort eines verbürgerlichten und damit eben verwalteten Subjekts, den Ort eines rassifizierten und eines im Rassismus gebildeten Subjekts (vgl. Kleiner/Rose 2014). Ende der 1990er Jahre hat Peter Euler die Formulierung von der „Kritik der Kritik“ (Euler 1998) in die Allgemeine Pädagogik eingeführt. Es war eine Reaktion auf die Reserviertheit von Vertreter_innen der skeptischen Erziehungswissenschaft, die sich gegen den Wahrheitsanspruch ideologiekritischer Kritik gewendet haben. Im Kontext kritischer Bildungstheorie ist dieser Topos für mich immer noch eine Aufforderung, die Kritik der Bildung den kritischen Positionen auszusetzen, die versuchen, ihren Ort anzugeben und damit ihre eigene Bedingtheit nicht nur anzuerkennen, sondern als theoretisch relevante Infragestellung von Identität und Bedeutung aufzufassen und einzusetzen. 1 In dem Essay „die unbedingte Universität“ von 2001 postuliert Jacques Derrida die Universität als einen Ort des Widerstandes gegen alle „Versuche, sich ihrer zu bemächtigen“ (Derrida 2001, S. 12). Wer aber ist das, der sich bemächtigt und wie wird dieser Anspruch an die Widerständigkeit der Universität wiederum der Gefahr ausgesetzt, die Verantwortung für den Widerstandsverlust auf Instanzen zu verlagern, die nicht „wir“ sind – die Intellektuellen, die Kritiker_innen, die Wissenschaftler_innen? In seinem Verständnis von Dekonstruktion eröffnet Derrida selbst die Möglichkeit dieses Fragens. Denn die Dekonstruktion hinterfragt uns selbst, unseren Begriff vom Subjekt, vom Menschen und nicht zuletzt den Begriff der Kritik. Nichts soll den Hinterfragungen entgehen und die Humanwissenschaften sollten ihrer Dekonstruktion, also der Dekonstruktion ihrer selbst gewachsen sein. Denn die Universität soll der Ort sein, „an dem nichts außer Frage steht“ (ebd., S. 14) und an dem das Recht gilt, alles öffentlich zu fragen. Die „université sans condition“ ist ohne Rang und Status – es ergibt sich ein Übersetzungsproblem, also etwas, das Derrida als wesentliche humanwissenschaftliche Aufgabe versteht – übersetzen. Das Unbedingte ist in der deutschsprachigen Diktion eine Bezeichnung, die mich zumindest irritiert und Fragen aufwirft. Bei Derrida markiert das Unbedingte die Position der Universität ohne Rang und Status und d. h. ohne eigene Macht. Doch die aktuelle Universität erträgt dies nicht und verkauft sich. Die Universität, die unbedingt zum Denken auffordert, ist radikal historisch, was ich mit Walter Benjamin als Bewegung verstehe, bei der der eigene Blick immer auf den zurück liegenden Trümmerhaufen gerichtet ist (vgl. Benjamin 1974). Deshalb ist der Begriff des Unbedingten für mich unheilbar beschädigt. 2002 hat der Historiker Michael Wildt das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts untersucht und dafür eine bemerkenswerte Bezeichnung gefunden. Er nennt die führenden Mitglieder von Gestapo, Kriminalpolizei und dem Sicherheitsdienst der SS „Generation des Unbedingten“ (Wildt 2002) und bezeichnet damit eine bestimmte Kombination von Weltanschauung und Institution. Die Generation, die in den 1920er Jahren an den deutschen Universitäten studiert hatte, folgte einer historischen Berufung, die ich als Kampf um Reinheit bezeichnen möchte. Sie wurden Weltanschauungstäter im Dienst entgrenzter Gewalt, die sie bereits vor 1933 bspw. an der Tübinger Universität ausübten, indem sie gegen jüdische Professoren agitierten. Sie waren Mitglieder einer „kämpfenden Verwaltung“. Mit Benjamins Trümmerblick sind somit alle von Derrida angewendeten Begriffe beschädigt und werfen genau die Fragen auf, die die Dekonstruktion einfordert. Es sind die Fragen, die an der Universität zu stellen sind und es sind Fragen, die insbesondere in das Fach Erziehungswissenschaft gehören, insofern sich dieses Fach dem Denken verpflichtet weiß und somit der Infragestellung seiner selbst. Kontaktzonen akademischen Lehrens und Forschens In einer Arbeit über Bildungsprozesse in Orten, an denen Verbrechen begangen wurden und die heute als Gedenkstätten fungieren, bezieht sich Nora Sternfeld (2013) auf das Konzept der contact zone, das James Clifford und Mary Louise Pratt für die Rezeption von Museen und Literatur entwickelt haben (vgl. Clifford 1997; Pratt 2008). Sternfeld entwickelt den Ansatz einer konfliktori2 entierten und migrationsgesellschaftlich reflektierten gedenkstättenpädagogischen Arbeit. Der Ort dieser Arbeit – sei es eine Schule, eine Universität, ein Museum – wird darin als Raum von Ungleichheiten, asymmetrischen Beziehungen und Machtverhältnissen begriffen, weil der gesellschaftliche Raum, in dem das Unterrichten in der Schule, das Lehren an der Universität oder die Aneignung von Exponaten in Museen von unhinterfragten Ungleichheiten und Unterordnungsmustern, von hierarchischen Zuschreibungen und Ungleichwertigkeitsvorstellungen durchsetzt ist. Mary Louise Pratt betont die historischen Hintergründe, die „asymmetrical relations of power“ konstituiert haben, „such as colonialism, slavery, or their aftermaths, as they are lived out in many parts of the world today“ (Pratt 1991, S. 34). Ihr Hinweis auf die Nachwirkungen globaler und nationaler Geschichtszusammenhänge von Unterwerfungspraktiken ist jeweils zu kontextualisieren im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Bedingungen in der jeweiligen Gesellschaft, in der unterrichtet, gelehrt und studiert wird. Die metaphorische Bezeichnung der „Kontaktzone“ eröffnet ein Feld zeitgeschichtlicher Assoziationen. Im Kalten Krieg stand die „Zone“ für den Osten, der damit als fremd, anders und unähnlich zum Eigenen des Westens positioniert worden ist. Im atomaren Zeitalter steht die „Zone“ für ein verseuchtes Gelände, das nicht mehr bewohnt werden kann, weil es über Generationen kontaminiert sein wird. Eine als Zone bezeichnete Region wird als nicht besonders sympathisch repräsentiert. Die Bezeichnung der Zone zeigt etwas an, da beschädigt ist von den unzureichend thematisierten Verwerfungen ihrer Zeit und von einem Mangel an kritischer Aufarbeitung. Wird das akademische Lehren als ein vermachteter Handlungsraum begriffen, dann erübrigt sich jede Idealisierung. Für das Lehren pädagogischer Inhalte ist das von besonderer Relevanz, weil die Pädagogik ihre Legitimation daraus zieht, Lösung für Probleme zu versprechen, die nicht pädagogisch zu lösen sind, weil sie in gesellschaftlichen Strukturen verankert sind. Unter dem Druck, Antworten zu geben, verdrängt die Pädagogik die aporetischen Fragen nach der ihr selbst innewohnenden Herrschaftsstruktur, die jede institutionalisierte Bildung aufwirft (vgl. Messerschmidt 2009). Beispiele für die Verdrängung der Machproblematik sind bspw. die in den letzten zwanzig Jahren populär gewordenen Konzepte interkulturellen Lernens und der Diversity Education, die strukturelle Fragen ausblenden, solange sie sich auf „kulturelle Differenz“ und eine an Eigenschaften festgemachte Diversität beziehen. Dagegen haben sich kulturalisierungskritische Positionen (vgl. Kiesel 1996), rassismuskritische Ansätze (vgl. Mecheril/Melter 2010) und eine egalitätsorientierte Programmatik (vgl. Prengel 2001) gewendet und eine breite Kritik angestoßen, die zunehmend die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen mit der Reflexion von Differenz in der Pädagogik verbindet. Diese Ansätze und Einsprüche gewinnen erst langsam Einfluss auf das Bildungsverständnis insgesamt und damit auch auf die Praxis des Lehrens pädagogischer Inhalte an der Universität (vgl. Mecheril et al. 2013). Das Konzept der Kontaktzone fordert dazu heraus, das Lehren des Pädagogischen genauso wie die pädagogische Tätigkeit des Lehrens als etwas zu betrachten, das von Asymmetrien geprägt ist und dadurch Konflikte erzeugt. Verständi3 gung kann hier nicht darauf ausgerichtet sein, diese Asymmetrien zu überbrücken, sondern sie überhaupt erst zum Thema zu machen. Die Pädagogik hat sich lange schwer getan, ihre innere institutionalisierte und personalisierte Machtproblematik zu bearbeiten. Mit der Rezeption der Machtanalysen Michel Foucaults hat sich das verändert (vgl. Pongratz 1990; Ricken/Rieger-Ladich 2004). Foucault betont die Reproduktion der Macht durch die Subjekte selbst, die von der produktiven Macht des bürgerlichen Zeitalters subjektiviert werden. Neben dieser bildungstheoretisch hoch relevanten Theorie der Macht und der Subjektivität kann eine kritische Pädagogik auf weitere Bezugstheorien zurückgreifen, die im Kontext ihrer jeweiligen Entstehungsbedingungen mit anderen Begriffen arbeiten. Bei Heydorn ist es Herrschaft, die als immanentes Problem jeder institutionalisierten Bildung ausgemacht wird (vgl. Heydorn 1970), weshalb er eine Kritik der Bildung entwickelt, die den humanistischen Bildungsgedanken weder verwirft, noch ihn idealisiert, sondern einer immanent dialektischen Kritik aussetzt. Vor dem Hintergrund sozial-kultureller Ausgrenzungspraktiken arbeitet Birgit Rommelspacher mit dem Begriff der Dominanz und zeigt, dass Dominanz auf Zustimmung basiert – darauf, dass die Verhältnisse der Diskriminierung, Ausgrenzung und Ungleichheit hingenommen werden. Die Dominanzkultur stabilisiert sich durch den Mangel an Kritik, und das Fehlen von Kritik bedeutet effektiv Zustimmung. Mit der Bezeichnung „Dominanzkultur“ wird das Funktionieren von Praktiken sozialer Spaltung durch Konsensstrukturen akzentuiert. Im Unterschied dazu ist Herrschaft nach Birgit Rommelspacher ein Prozess aktiver Unterdrückung (Rommelspacher 1995). Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des italienischen Faschismus setzt Antonio Gramsci den Begriff der Hegemonie ein und fordert den von ihm so bezeichneten „organischen Intellektuellen“ dazu auf, für die Etablierung von Kritik zu sorgen (vgl. Gramsci 1930). Dabei wendet sich Gramscis Bildungskritik gegen den „ortlosen Idealismus“ von Mündigkeit und Autonomie im Bildungsverständnis (Bernhard 2006, S. 18) und ist damit sozialphilosophisch und bildungstheoretisch hoch aktuell angesichts der geforderten Verortungen im Zusammenhang von Differenzreflexion und Diskriminierungskritik. Macht, Herrschaft, Dominanz und Hegemonie stehen für unterschiedliche Traditionen kritischer Theoriebildung und sind jeweils in ihren sozialen Entstehungsbedingungen zu betrachten. Keine dieser Analyseperspektiven erscheint mir überholt, eher könnte es darum gehen, sie angemessen zu konstellieren. Bildungskritik in der Migrationsgesellschaft Kritische Perspektiven auf migrationswissenschaftliche Wissensbildung untersuchen die gesellschaftlichen Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisse über Migration, wobei der Begriff der Migration immer zwei Bedeutungsebenen vermittelt, zum einen die Phänomene weltweiter Migrationsbewegungen und zum anderen die Diskurse, die dieselben begleiten und besetzen. Zu gesellschaftlichen Bedingungen der Erforschung von Migration als Phänomen und Diskurs gehört das spezifische Problem asymmetrischer Beziehungen (vgl. Mecheril/Messerschmidt 2013). 4 Schließlich sprechen hier oftmals Etablierte über Außenseiter, Integrierte über nicht (genügend) Integrierte, Mehrheitszugehörige über Minderheiten. Das gibt dem Diskurs eine spezifische Struktur machtvoller Identifikationen. Erst die Reflexion dieser Struktur ermöglicht es, den Migrationsdiskurs kritisch zu wenden. Erschwert wird eine Kritik ungleicher sozialer Positionierungen dadurch, dass mit der Denkfigur interkultureller Bildung die Wahrnehmung von Migration kulturalisiert worden ist, was sich trotz breiter Kritik als ausgesprochen hartnäckig erweist (vgl. Höhne 2001). Der Forschungsansatz einer rassismuskritischen Bildungskritik in der Migrationsgesellschaft erschöpft sich nicht darin, die kulturalisierten pädagogischen Migrationsdiskurse als falsches Denken zu entlarven, sondern bewegt sich auf einer Spur radikal immanenter Kritik, die ihre eigene Radikalität immer wieder verfehlt und deren Immanenz gerade darin zum Ausdruck kommt, dieses Verfehlen offen zu legen. Migration als Normalität anzuerkennen, ist gegenwärtig stark von der „Wertschätzung“ dessen, was Migrant_innen mitbringen abhängig. somit kann sich eine an der Wirklichkeit der Migrationsgesellschaft orientierte zeitgemäße Pädagogik nicht sicher sein, auf der Seite der Kritik zu stehen. Sie ist selbst involviert in die Subjektivierungen migrantischer Subjekte, deren Wert zunehmend offen und ohne Zögern eingeschätzt wird und die unter verschärfter Beobachtung stehen. Anders als der Wert derer, die als ethnisch/völkisch/national Zugehörige betrachtet werden, steht der Wert von Eingewanderten in Relation zu ihrer nationalkulturellen Positionierung als Fremde. Eine migrationsgesellschaftliche Kritik bezieht sich auf jedes Sprechen über alle, die nach ökonomischen Wertkriterien niemals als Zugehörige anerkannt werden, solange eine national-kulturell eindeutige Identität den Preis der Zugehörigkeit ausmacht. Es handelt sich um eine Kritik des Allgemeinen, denn das Allgemeine ist durchsetzt von den wertenden Unterscheidungen und Praktiken, die Ungleichwertigkeit ausdrücken. Kritik an diesen Dynamiken bedeutet in der Konsequenz wesentlich Selbstkritik. Hinter der hegemonial gewordenen Unterscheidung von nützlichen und weniger nützlichen Eingewanderten steht eine unhinterfragte Arbeitsideologie, in die kritische Wissenschaft selbst eingebunden ist, weil die Subjekte der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft über Leistung subjektiviert sind und dieses Prinzip selbst verinnerlichen, solange es nicht problematisierend thematisiert wird. Normative Besetzungen von Arbeit sind in der Kombination mit Bildung zu einem Synonym für wertvolles Leben (vgl. Butler 2010) geworden und bleiben unhinterfragt, solange nicht explizit Widersprüche eingelegt werden. Der innere Widerspruch von Emanzipation und Herrschaft in der Bildung (vgl. Messerschmidt 2009) zeigt sich eben auch daran, dass Bildung in ihrer gegenwärtigen hegemonialen Form der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft für die Reproduktion von Ungleichwertigkeit eingesetzt werden kann. Im migrationsgesellschaftlichen Zusammenhang verweisen die gegenüber eingewanderten Roma aus Osteuropa vorherrschenden Zuschreibungen in besonderer Weise auf die kapitalisierte Normativität der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Lebensformen. Zunehmend prägen Wohlstandskonkurrenz sowie die öffentliche Diffamierung derer, die einwandern, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, die gesellschaft5 lichen Thematisierungen von Migration. Eingewanderte und Geflüchtete werden sowohl ökonomisch wie kulturell als Bedrohung dargestellt. In der Kombination von ökonomischer Sorge und kultureller Abgrenzung werden abwertende Stereotype artikuliert. In populistischen Bürgerbewegungen gegen Flüchtlingswohnheime, gegen Moscheebauten und gegen die Einreise von Roma aus Bulgarien, Rumänien und den postjugoslawischen Staaten sind die Muster der Armutsdiffamierung und des antiziganistischen bzw. antiromaistischen Fremdmachens immer wieder erkennbar (vgl. End 2014). Beobachtbar ist, dass eine populistische Arbeits- und Anständigkeitsideologie gegenüber verarmten Geflüchteten in Stellung gebracht wird. Eine Leerstelle in der Auseinandersetzung mit der NS-Arbeitsideologie und die unzureichend betriebene Aufarbeitung der Zwangsarbeit begünstigen aus meiner Sicht diese Auffassungen und Äußerungen (vgl. Wildt 2014). Das Selbstbild, rechtmäßig zum eigenen Wohlstand gekommen zu sein, stellt alle unter Verdacht, die jetzt einwandern, um mit eigener Arbeit und entsprechenden Sozialabgaben an diesem Wohlstand zu partizipieren. Aufklärende empirische Studien über den realen Beitrag von Eingewanderten zu den Sozialversicherungskassen irritieren diese Haltungen kaum, da Überzeugungen, aus denen Selbstbilder erwachsen sind, den Tatsachen überlegen bleiben. Die Kritik an diffamierenden und abwertenden Zuschreibungen gegenüber Eingewanderten und Geflüchteten kann sich nicht darin erschöpfen, zu beweisen, dass es sich um Stereotype handelt, die nicht zutreffen und pauschalisierend eingesetzt werden. Eine antiziganismuskritische Kritik bietet analytische Ansatzpunkte, um weiter zu gehen und das Nachdenken über Funktionen und Wirkungen der Unterscheidungen von wertvollen und wertlosen Lebensformen und Subjektivitäten anzuregen (vgl. Messerschmidt 2014). Somit reicht diese Kritik weit in die gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinein und betrifft auch die Wertvorstellungen der Kritiker_innen selbst. Sie bedürfen einer selbstkritischen Reflexivität, um glaubhaft die Kritiklosigkeit pädagogischer Institutionen anfragen und angreifen zu können. Solange pädagogische Institutionen unproblematische Selbstbilder pflegen, wird eine Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Alltagsrassismus in den Bildungsinstitutionen verweigert. Nichts fürchten Pädagog_innen mehr, als dass ihnen Diskriminierungen, geschweige denn Rassismus bescheinigt werden. Schon der Begriff der Diskriminierung wird zurück gewiesen, und Rassismus steht als ein Schreckenswort da, auratisch und nicht verwandt mit einem selbst. Die Auseinandersetzung wird durch zwei Strategien zurück gewiesen, die ich als postnationalsozialistische Praktiken kennzeichnen möchte: die Verlagerung in eine abgeschlossene Vergangenheit und die Wahrnehmung von Rassismus als etwas Randständigem, das von Extremisten praktiziert wird (vgl. Messerschmidt 2010). Diese starke Abwehr und Nichtthematisierung betrachte ich als Folge des „Wunsch(es), unschuldig zu sein“ (Schneider 2010, S. 122), den Christian Schneider in der zweiten Generation nach 1945 diagnostiziert und der offensichtlich weiter vermittelt worden ist. Der rassismuskritische Ansatz trifft auf diesen Wunsch. Der distanzierende Umgang mit dem Nationalsozialismus, der alles damit Verbundene stets auf Abstand hält, begünstigt das Schweigen über Rassismus. Rassismuskritik betont dagegen die allgemeine und deshalb auch die Kriti6 ker_innen betreffende Einbindung in den gesellschaftlich verankerten Alltagsrassismus. Die von Paul Mecheril angedeuteten „Wege aus dem Rassismus“ (Mecheril 2004, S. 176ff.) werden in rassismuskritischer Perspektive zu Wegen im Rassismus, Bewegungen von Kritik innerhalb rassistischer Hegemonien, deren Akzeptanz gerade dadurch zum Ausdruck kommt, dass ihr inhärenter Rassismus hinter moralisch positiv besetzten Begrifflichkeiten und Absichtserklärungen verdeckt bleibt. So sind auch migrationsgesellschaftliche Perspektiven in der Pädagogik nicht davor geschützt, für Integrationsprojekte vereinnahmt zu werden, denen immer eine Defizitperspektive auf diejenigen zugrunde liegt, deren Differenz als problematisch gilt. Seine Popularität verdankt der „Code Integration“ (Mecheril/Thomas-Olalde 2011, S. 68) dem Umstand, dass das, worin sich jemand integrieren soll, unter dem Integrationsparadigma immer als unproblematisch erscheint, seien es die Schulen oder die Weiterbildungs-Einrichtungen oder die Demokratie (ebd., S. 79). Daneben verdankt das Integrationsparadigma seine Durchsetzungskraft der moralischen Aufladung, die das immer gut Gemeinte jedes Integrationsprojektes in den Vordergrund stellt. Jede Thematisierung von Migration in Bildungszusammenhängen macht derartige unkritische integrative Vereinnahmungen potenziell möglich, solange dem nicht aktiv entgegen getreten wird. Es bedarf also einer expliziten Kritik der Thematisierungsformen von Migration, um einen Raum zu schaffen für eine rassismuskritische Perspektive, die die Konstitutionsprozesse von Gruppen, die nicht zum gesellschaftlichen Wir gehören sollen, untersucht und eben nicht diese zu Gruppen gemachten Gruppen. Dazu bedarf es eines machtanalytischen Zugangs, der affirmative Tendenzen auch dort heraus arbeitet, wo die Akteur_innen von sich selbst meinen, auf der Seite der Kritik zu stehen. Sprachfähig werden für eine kapitalismuskritische Reflexivität Ökonomiekritik wird gegenwärtig zunehmend relevant für eine Praxis der Kritik an der gegenwärtigen Kapitalisierung unserer globalen Beziehungen und unserer selbst. Eine antikapitalistische Kritik von Institutionen und darin Verantwortung tragenden Personen tendiert dazu, die eigene privilegierte Perspektive zu verkennen, aus der heraus dieses Anti formuliert und agiert wird. Für viele Menschen auf der Welt ist das kapitalistische Europa und ganz besonders Deutschland derzeit ein verheißungsvoller Ort. Yanis Varoufakis hat in einem bemerkenswerten Essay (2015) gefordert, „den freien Fall des europäischen Kapitalismus zu stoppen“ um Zeit zu gewinnen, um eine Alternative zu entwickeln. Um dies zu erreichen, schlägt er eine humanistische Transformation des Marxismus vor, in deren Zentrum das Nachdenken über den Wert der Arbeit steht. Die vollständige Entmenschlichung menschlicher Arbeit würde das Ende des Kapitalismus bedeuten – also eines Systems, das Werte schaffen und austauschen kann. „Falls das Kapital es je schaffen würde, die Arbeit vollkommen zu quantifizieren und damit zur Ware zu machen, so wie es dies ständig versucht, wird es auch diese unbestimmbare, aufsässige menschliche Freiheit aus der Arbeit austreiben, die erst die Hervorbringung von Wert ermöglicht“ (ebd.). Die totale Quantifizierung von Arbeit wäre die Selbstzerstörung des Kapitalismus. Marx liefert die 7 Einsicht in den gemeinschaftlich produzierten Reichtum, der privat angeeignet wird. Gleiches gilt für die „Autonomie“, die in der Pädagogik eine so lange Geschichte ungebrochener Verehrung im Bildungssubjekt hinter sich hat. „Auch sie ist kollektiv produziert, durch die Dialektik der gegenseitigen Anerkennung, und wird dann privat angeeignet“ (ebd.). Für Varoufakis besteht das entscheidende Problem des Kapitalismus nicht in seiner Ungerechtigkeit, sondern in seiner Unvernunft. „Er verwandelt sogar KapitalistInnen in angstbesetzte Automaten, weil sie ebenso von den Maschinen versklavt sind, die sie angeblich besitzen“ (ebd.). Wobei es sich heute vorwiegend um transklassische Maschinen handelt, die an keinen Ort mehr gebunden sind und deshalb auch das Subjekt der Arbeit an jedem Ort verfügbar machen. „Denn sie leben in ständiger Furcht, dass sie keine KapitalistInnen mehr wären, wenn sie ihre Mitmenschen nicht in Waren verwandelten, um die Kapitalakkumulation besser voran zu treiben“ (ebd.). Marx versuchte selbst, sein Modell zu quantifizieren –weil er selbst in eine Maschinerie der Verwertung eingebunden war, dies aber nicht reflektierte, was Varoufakis als eine Schwäche des Marxismus versteht, der dadurch totalitär angeeignet werden konnte. Der orthodoxe Marxismus verdrängt(e) das Unbestimmte, das lebendige Arbeit ausmacht und presste die eigene Analyse in ein geschichtsdeterministisches Modell. Auf der Grundlage einer Analyse der europäischen sozialen Krise sind strategische Allianzen zu gründen, um Gegnerschaften zum neoliberalen Modell zu formulieren, anstatt Feindschaften gegenüber profitmaximierenden Unternehmer_innen. In der demokratietheoretischen Diskussion geht Chantal Mouffe von einem agonistischen Modell aus, bei dem die „konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, „dass es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt“ (Mouffe 2007, S. 30). Dieses Modell grenzt sich sowohl von einem antagonistischen Freund-Feind-Schema ab als auch von deliberativen Konkurrenzbeziehungen. In der einen Variante würden die Gegner dämonisiert, in der anderen wären sie ausschließlich über Leistung definiert. Mouffe entwickelt demgegenüber ein differenzsensibles Konfliktmodell als Ansatz, Gegensätze im Pluralismus auszutragen. Ein liberaler Ansatz von Pluralismus ist dafür ungeeignet, weil darin kollektive Identitäten nicht anerkannt werden (vgl. ebd., S. 17), wobei letztere bei Mouffe nicht als essentialistische Identitäten gedacht werden, sondern als „Ergebnis von Identifikationsprozessen“ und somit „niemals vollständig fixierbar“ (ebd., S. 27). Mouffe erkennt die „affektive Dimension der Politik“ an (ebd., S. 36) und geht nicht von deren völliger Rationalisierbarkeit aus. Übertragen auf ein machtreflexives Lehren des Pädagogischen ist diese Einsicht zentral. Schließlich macht es eine Besonderheit der Pädagogik aus, dass sie ohne Identifikationen und Leidenschaften nicht auskommt, die aber zugleich alle Türen für den Missbrauch pädagogischer Beziehungen öffnen, wenn sie nicht problematisiert werden. Um selbstkritische Perspektiven für eine globalisierte Bildung zu entwickeln, sind die materiellen sozialen des eigenen Bildungsweges zu reflektieren. Dafür bedarf es offensichtlich einer neuen Sprachfähigkeit für die Kritik neoliberalisierter Arbeit und kapitalisierter Ungleichheiten, die alte ideologische Konfrontationen hinter sich lässt. Möglicherweise wird das gar nicht so schwer sein, denn es dürfte ohnehin klar sein, dass Ak8 teur_innen an Universitäten abhängig sind von den Verhältnissen, die sie kritisieren und insofern keinen überlegenen Standpunkt einnehmen können. Literatur Adorno, Theodor W. (1997) [1960]: Kultur und Verwaltung, in: ders.: Gesammelte Schriften Band 8, S. 122-146. Bauman, Zygmunt (1995): Moderne und Ambivalenz. 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